Das Recht auf Privilegien
Wir gehen nach Europa, aber Europa verhält sich zurückhaltend gegenüber den Menschenrechten. Es gibt Hoffnung, dass sich auch in unserem Land die deprimierende Lage der human rights wenigstens ein bisschen verbessert.
Tatsächlich sind in letzter Zeit die Menschenrechte auch in der westlichen Welt an zweite Stelle gerückt. Ganz langsam geraten die Rechte der sexuellen Minderheiten, die Rechte der Andersfarbigen, die Rechte der Frauen, die Rechte der nationalen Minderheiten, die Rechte der armen Bevölkerungsschichten usw. ins Hintertreffen.
Im benachbarten Russland macht man sich seit kurzem Sorgen um die Rechte der Gläubigen. In der Ukraine bemühen sich die Einen um das Recht der Titularnation, die Anderen um die Rechte der Russischsprachigen.
Man rechnet, dass solche Tätigkeiten dazu berufen sind, die Menschen vor Benachteiligung und Unterdrückung zu bewahren. Aber reichen dafür etwa die individuellen Menschenrechte nicht aus? Die gibt es für jeden, ohne Abhängigkeit von seiner Nationalität, Hautfarbe, Geschlecht, Glaubensausübung, Beruf oder sexueller Orientierung.
Der Mensch für sich genommen darf in seinen Rechten nicht beschnitten werden, nur weil er schwarz, schwul, eine Frau oder was auch immer ist. Dieses einfache Axiom erlaubt den Schutz vor jeglicher Diskriminierung.
Die Notwendigkeit spezieller Gesetze für die „Rechte der Gläubigen“ oder „Rechte der Urbevölkerung“ entfällt automatisch. Nichtsdestotrotz wird darum herzlich gestritten.
Das Prinzip der Kollektivrechte bedeutet, dass ein Mitglied einer bestimmten Gruppe besondere Behandlung erfährt, eben weil er zu dieser Gruppe gehört. Eigentlich geht es hier um Privilegien. Sie fügen sich in die klassische Orwellsche Formel: „All animals are equal but some animals are more equal than others.“ Und die weltweite Praxis stützt das.
Im Jahr 1935 wurde in den USA das „Wagner-Gesetz“ verabschiedet, welches den Gewerkschaften weitreichende Begünstigungen einräumte. Von da an wurden Arbeitsstreitigkeiten nicht von normalen Gerichten entschieden, sondern vom Nationalen Rat für Arbeitsverhältnisse. Staatsanwalt, Richter und Geschworener in einem traf er Entscheidungen immer zugunsten der Gewerkschaften. Nichtmitgliedern der Gewerkschaft wurde es in vielen Betrieben unmöglich Anstellung zu finden.
Faktisch war dies das Ende der Gleichheit aller amerikanischen Bürger. Aber die breite Öffentlichkeit freute sich über den erfolgreichen Kampf für die „Rechte der Arbeiter“.
Ein noch offensichtlicheres Beispiel sind die national- und genderspezifischen Quoten für den Vorsitz in den Regierungsorganen. In diesem Fall wird die Gleichheit der Bürger ganz klar und offen mit den Füßen getreten. Die Chancen eines einzelnen Bürgers werden künstlich und auf Kosten der Anderen erhöht.
Zum entscheidenden Faktor werden nicht die persönlichen Fähigkeiten des Bürgers, sondern seine geschlechtliche oder nationale Zugehörigkeit. Das sind legitimierte Privilegien, aber das progressive Publikum spricht vom Schutz der „Frauenrechte“ oder der „Rechte der nationalen Zugehörigkeit“.
Von Zeit zu Zeit müssen alle Personal kürzen, auch amerikanische Firmen. Aber, wenn er die Wahl hat, entlässt der Arbeitgeber jenseits des Ozeans lieber einen weißen heterosexuellen Mann als einen Afroamerikaner oder offen schwulen, um sich ja nicht den Vorwurf der Diskriminierung zuzuziehen.
Der Bürger, der zur Mehrheit gehört, befindet sich in einer denkbar ungünstigen Situation und der Vertreter der Minderheit in privilegierter Lage. Diese Ergebnisse des Bemühens um die Rechte der Minderheiten höhlen nach und nach die Menschenrechte aus.
In der modernen Welt wird der Terminus „Recht“ immer öfter als Euphemismus für Privilegien verwendet. Warum sollte man die Dinge nicht beim Namen nennen?
Offensichtlich weil das Wort „Privileg“ eine stets negative Bewertung aufweist.
Es wird mit etwas ungerechtem und unverdientem assoziiert.
Es passt zu irgendwelchen fremden Bösewichten, aber nicht zu uns, guten Menschen.
Sie sind frech – wir sind lebensfroh. Sie sind Nörgler – wir sind ernsthaft.
Sie sind verschwenderisch – wir sind freigiebig. Sie sind gierig – wir sind sparsam.
Sie haben Privilegien – wir haben gesetzliche Rechte.
Das ist keine Arglist, sondern die völlig herzensgute Weltsicht. Der einfache Bürger kann ukrainische Beamte nicht leiden, die mit allen möglichen Sonderrechten und Privilegien umgeben sind. Aber selbst glaubt er fest an seine „Rechte“ und ist bereit, mit Schaum vorm Mund aufzuzeigen, dass er sie durch außerordentlich wichtige und notwendige Arbeit zugunsten der Allgemeinheit verdient hat.
Worin besteht der unbestrittene Vorteil der Privilegien gegenüber den echten Menschenrechten? Die Menschenrechte sind statisch. Jeder hat das Recht auf Leben, Freiheit, Eigentum. Das ist alles verständlich und seit langem bekannt, nichts kommt hinzu, nichts geht davon ab. Man muss nur die Einhaltung dieser Rechte verfolgen und das war’s.
Langweilig, oh Gott!
Besondere Privilegien sind da etwas anderes. Hier eröffnet sich ein unbegrenzter Raum für die Fantasie und man kann sich ständig etwas Neues ausdenken. Es erscheint zum Beispiel ein lächelnder Franklin Roosevelt und erklärt: „Jeder Mensch hat das Recht auf Leben, was heißt, dass man auch sein Recht auf ausreichend abgesicherte Lebensbedingungen nicht leugnen darf.“
Es versteht sich, dass es hier eigentlich um Begünstigungen geht: der Mensch, der nicht in der Lage ist sich selbst zu versorgen, erhält die exklusive Möglichkeit auf Kosten der Anderen zu leben. Aktiveren und fähigeren Bürgern bietet sich dieses Privileg nicht, sie müssen sich ihre ausreichenden Lebensbedingungen selbst schaffen.
Wenn alles auf die Menschenrechte beschränkt wäre, wäre die politische Tätigkeit im Westen längst zum Erliegen gekommen. Wenn er jedem Bürger das Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum garantieren würde, hätte der westliche Liberalismus die Politiker längst arbeitslos gemacht.
Dem hilft der Kampf für die kollektiven „Rechte“, das heißt, Privilegien, aus der Klemme. Er ruft ununterbrochene Bewegung hervor. Jeden Tag befindet sich irgendeine bestimmte Gruppe in der Bedrängnis und fordert spezielle Begünstigungen. Auf Schritt und Tritt kann man Diskriminierung erblicken und heldenhaft gegen sie kämpfen.
Der Aufbau des demokratischen Systems selbst treibt den Kampf für Privilegien an. Der Schutz der Menschenrechte hat aus Sicht der Gewählten wenig Perspektive. Es gibt Millionen Wähler, die alle Menschen sind. Es gibt aber auch viele Politiker, und alle sind für die Menschenrechte.
Warum wird der Wähler gerade dich unterstützen? Wegen der schönen Augen?
Alles ändert sich, es lohnt sich, sich um die Gruppenbegünstigungen zu kümmern und sich für die „Rechte der Arbeiter“, „Rechte der Rentner“, „Frauenrechte“, „Rechte der Ureinwohner“ usw. einzusetzen. Der politisch Tätige besetzt seine eigene Wählernische, es taucht eine eigene Klientel auf und er kann auf eine stabile Unterstützung zählen.
Die Politiker sind zufrieden, das Volk auch. Ungeachtet des vorherrschenden Irrtums streben die Menschen nicht nach Gleichheit. Der natürliche Wunsch jedes normalen Menschen ist es, sich über die anderen zu erheben; erfolgreicher zu sein, schöner, talentierter, vermögender, glücklicher als der Nächste.
Du schätzt, was du auch im Leben erreicht hast nur, wenn das nicht jeder erreicht. Als Indikator für den eigenen Erfolg dient irgendein niedrigeres Niveau.
Gleichberechtigung war nie Selbstzweck der Menschheit, nicht mal in der Epoche der bürgerlichen Revolution. Für Gleichberechtigung kämpften sie nur, weil sie jedem Bürger die Möglichkeit gab, die Anderen zu übertreffen.
Wenn alle die gleichen Rechte haben, hat man die Chance, sich aufgrund persönlicher Fähigkeiten herauszuheben. In der Theorie erscheint dieser Plan sehr reizvoll, insofern als es den Menschen eigen ist, ihre persönlichen Fähigkeiten zu überschätzen.
Leider geht das in der Praxis meist anders aus. Unsere Talente erweisen sich als unzureichend, nicht geeignet, das erwünschte Ziel zu erreichen und fordern zusätzliche Vorgaben.
Da kommen die Kämpfer für die kollektiven „Rechte“ zu Hilfe. Sie erkennen, dass sie besondere Behandlung wegen der Zugehörigkeit zu irgendeiner sozialen Gruppe verdienen, einer Rassenminderheit oder der titulierten Nation. Das ist Ihr unbestreitbares Recht! Und in keinem Fall ist es zu verwechseln mit irgendwelchen fremden Privilegien.
1. November 2013 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda