Auf der Schmalspur durch polesische Breiten
Die längste Schmalspurbahn Europas in der Westukraine schickt sich an, zur Touristenattraktion zu werden. Und muss sich dabei seit Jahren gegen die Schließung wehren. Bislang mit Erfolg.
Ein dumpfes Hupen. Meine Hand klammert sich fest um die blau lackierte Eisenstange. Wenn der alte Zug sich aus dem Stand mit einem kräftigen Ruck in Bewegung setzt, fühlt es sich an, wie ein kleiner Sprung nach vorn.
Ich stehe in der offenen Tür vor der Ausstiegstreppe des letzten Waggons und beobachte im Vorbeifahren den braungebrannten Bauern, der gerade aus dem Zug gestiegen ist und sich mit einem weißen Jutesack abmüht, in dem offenbar ein lebendiges Tier gefangen ist. Langsam rollen wir am Haltepunkt Ostriwsk vorbei. Noch einige farbige Holzhütten sind zu sehen, um die herum üppige Gemüsebeete im Sonnenschein gedeihen, dann fahren wir wieder durch schattigen Wald.
Der Zug tuckert durch sandigen Kiefernwuchs, durch einen sumpfigen Birkenhain und durchquert weitläufige Feldflächen. Hohes Gras bedeckt sanft die Landschaft und an einigen Stellen erheben sich braune Heuberge, wie übergroße Maulwurfshügel. Ab und zu sehe ich Männer und Frauen, die mit Sensen das Gras schlagen oder die Heuberge aufbauen. Unweit von ihnen stehen Pferdekarren, auf die das fertige Heu geladen wird.
Unser gemütliches Tempo und die Melodie der scheppernden Zuggeräusche harmonieren mit dem entschleunigten Alltag in dieser traditionellen Kulturlandschaft, in der die Feldarbeit nach wie vor mit der Hand geleistet wird und die Menschen immer noch (oder vielleicht wieder?) von der Naturalwirtschaft leben. Wir sind im Nordwesten der Ukraine, im Verwaltungsgebiet Riwne, wenige Kilometer von der weißrussischen Grenze entfernt. Die Gegend liegt in Polesien, einer Landschaft, die sich bis nach Belarus, Polen und Russland erstreckt.
Eisenbahnromantik in vollen Zügen genießen
Im klapprigen Waggon, der mit schläfrigen 25 bis 40 Stundenkilometer durch die malerische Gegend von der fünfzig Jahre alten Lok gezogen wird, kann man die Eisenbahnromantik genießen, von der man in den rasenden ICEs von heute nichts mehr spürt. Viele ähnliche Strecken in Europa gelten längst als Touristenattraktion, weil sie auf irgendeine Weise spektakulär sind: Die höchste Brücke, das schmalste Tal, die ältesten Waggons…
Die Strecke Antoniwka-Saritschne erfüllt gleich mehrere Superlative. Mit 106 Kilometern ist sie die längste funktionierende Schmalspurbahn in Europa. Auch ist sie eine der ältesten – ihr Ursprung liegt im Jahr 1895 und die Schienen sind zum Teil über hundert Jahre alt. Außerdem fährt der Zug über die längste Eisenbahn-Holzbrücke in Europa. Diese Brücke, die 1906 gebaut wurde, ist über 150 Meter lang und verbindet die beiden Ufer des Flusses Styr.
Doch das alles ist nicht das Spannendste an der Strecke Antoniwka-Saritschne, sagt Eisenbahnfan Philipp Latinak aus Berlin. Der hochgewachsene Mann mit dem Basecap hat bereits mehrere Schmalspurbahnen auf der ganzen Welt besucht. So etwas wie hier hat er aber selten erlebt. „Zwar ist die Technik nicht sonderlich spektakulär, dafür ist hier alles authentischer“, sagt Philipp. „Es ist mehr der Kontakt mit der Kulturlandschaft und den Leuten, die da fahren, was diese Strecke so reizvoll macht.“
Verbindung mit der Außenwelt
Für die Einheimischen ist die Schmalspurbahn jedoch keine Exotik, sondern die wichtigste Verkehrsader. Ursprünglich für den Gütertransport gebaut, dient sie seit nun siebzehn Jahren ausschließlich dem Personenverkehr. Den Zug, der täglich einmal in beide Richtungen fährt, nennen die Einheimischen liebevoll Kukuschka, auf Deutsch Kuckuck. In der Ukraine und in Russland ist das die umgangssprachliche Bezeichnung für kleine Züge mit wenigen Waggons.
Heute verbindet die Kukuschka sechzehn Ortschaften und ist für die Einwohner der anliegenden Dörfer eine der wenigen Möglichkeiten, Anschluss an weitere Verkehrsstrecken in die Städte Sarny, Riwne oder gar nach Kiew zu bekommen – und somit an die Außenwelt. „Kinder fahren damit zur Schule, und viele Menschen zur Arbeit“, sagt Passagierin Nadija. „Ohne die Kukuschka wären wir von der Zivilisation isoliert.“
Auf den sich gegenüber stehenden Holzbänken am ersten Fenster des Waggons sitzen zwei Schaffnerinnen in grauen Uniformen und unterhalten sich. Die gesellige Atmosphäre, die sie ausstrahlen, erzeugt eher den Eindruck, in einem Kaffehaus zu sitzen. Nur wenn ihr Gesprächsfaden abreist, steht eine von ihnen gelassen auf, um zugestiegene Fahrgäste abzukassieren. Wenn betagte Menschen hereinkommen, müssen die Schaffnerinnen ihr Gespräch nicht beenden, denn Rentner fahren kostenlos, genauso wie Menschen mit Behinderung, Kinder unter sechs Jahren und Kinder aus kinderreichen Familien. Die bis 14-Jährigen bezahlen nur drei Viertel des regulären Fahrpreises, der bei umgerechnet einem Euro für die gesamte Strecke liegt. Für die Menschen, die häufig wörtlich von der Hand in den Mund leben müssen, ist das viel Geld.
Finanzielle Engpässe
So wichtig und günstig sie für die Bevölkerung ist, ist die Schmalspurbahn Antoniwka-Saritschne für die ukrainische Eisenbahngesellschaft ein Dorn im Auge. Veraltete Technik, Vergünstigungen für Rentner und Kinder und der insgesamt niedrige Fahrpreis seien der Grund dafür, dass die Kukuschka kräftige Verluste einfährt, sagt Jaroslaw Beresjuk, stellvertretender Verwaltungsleiter des Bezirks Wolodymyrez, in dem ein Großteil der Strecke liegt.
Nach den Worten von Jaroslaw Beresjuk ist seit Jahren immer wieder davon die Rede, dass die Schmalspurbahn stillgelegt werden soll. Sollte es tatsächlich dazu kommen, würden die Einwohner entlegener Dörfer ohne günstige und bequeme Verkehrsverbindung bleiben. Zwar gibt es immer noch Autostraßen, doch diese seien in einem äußerst erbärmlichen Zustand. Außerdem kostet eine Fahrt mit dem Sammeltaxi das Doppelte und Vergünstigungen für Rentner gibt es dann so gut wie keine.
Anschluss Tourismus
Um die unikale Strecke vor der Stilllegung zu retten, versuchen die örtlichen Behörden, sie als touristisches Objekt zu popularisieren. Seit vier Jahren wird in der Region das Festival Burschtynowyj Schljach, auf Deutsch Bernsteinstraße, veranstaltet. Der Name kommt nicht von ungefähr: In der Gegend gibt es beträchtliche Bernsteinvorkommen. Auf dem Festivallogo ist die Kukuschka zu sehen.
Volksmärkte, Verkostung lokaler Spezialitäten, Workshops in den traditionellen Handwerken, Konzerte und die Möglichkeit, die Lebensweise der Einheimischen hautnah zu erleben – das Bernsteinstraße-Fest hat einiges zu bieten. Auf dem Programm sind natürlich auch Fahrten mit der Kukuschka und Exkursionen in das Museum der polesischen Straßenbahn, wie die Strecke noch genannt wird.
Die Bernsteinstraße ist mittlerweile zum großen Erfolg geworden, sagt Jaroslaw Beresjuk von der Bezirksverwaltung Wolodymyrez. In diesem Jahr sind nach seinen Worten fast 15.000 Gäste zum Festival gekommen, es gab auch Touristen aus dem Ausland, zum Beispiel aus Polen und Deutschland. Laut Jaroslaw Beresjuk gibt das die Hoffnung, dass die Schmalspurbahn doch nicht geschlossen wird: Zumindest hat das der Gouverneur des Gebiets auf der Festivalbühne angedeutet.
So könnte die Bahnstrecke als Touristenattraktion für die traditionell landwirtschaftlich geprägte Region ein wirtschaftliches Standbein werden. Darauf hofft auch der Unternehmer Olexandr. Der beleibte schwungvolle Mann, der in seinem „ersten Leben“ Englischlehrer war, betreibt mehrere Pizzerien in der Gegend und nutzt die allseits bekannte Kukuschka als Aushängeschild. Nicht nur dient der Zug seinen Restaurants als Logo und Namensgeber, er hat alle Pizzasorten nach einem der sechzehn Haltepunkte benannt.
Als Geschäftsmann steht Olexandr der touristischen Entwicklung in der Region positiv gegenüber. Er habe sogar schon ein kulinarisches Konzept, mit dem er Besucher aus dem Ausland verköstigen wird. Dann gebe es keine Pizza, sondern polesische Schmankerl: Holubzi (Krautwickler), mit Blaubeeren gefüllte Warenyky (Teigtaschen) mit Smetana (saure Sahne), Haluschki (Kartoffelklöße) und natürlich auch ukrainischen Borschtsch. Serviert wird alles im alten Geschirr aus der Vorkriegszeit, das er bereits gesammelt hat, sagt Olexandr.
Vergangenheit, die zur Zukunft wird
Wie man die Vergangenheit zur Zukunft machen kann, das ist die Schlüsselfrage, wenn es um den Erhalt der Kukuschka geht. In Europa haben vom ehemals sehr dichten Schmalspurnetz nur wenige Strecken überlebt, erzählt mir der Eisenbahnliebhaber Philipp Latinak. Das sei nur durch Modernisierung und eine angepasste wirtschaftliche Organisationsstruktur möglich. So gebe es vor allem in der Schweiz und in Italien noch zahlreiche solcher Bahnen, weil sie von örtlichen Betrieben und nicht vom „zentralen Wasserkopf der Bundesbahn“ verwaltet werden.
Bei der Modernisierung der Schmalspurbahn Antoniwka-Saritschne sollte man jedoch darauf achten, dass ihr touristischer Wert nicht verloren geht, räumt Philipp Latinak ein. „Damit Menschen kommen, brauchen solche Strecken irgendetwas Außergewöhnliches, was Touristen anzieht: Zum Beispiel spektakuläre Landschaften oder ganz tolle Bauwerke“, sagt er. „Und hier liegt der Mehrwert vor allem in dem sehr ursprünglichen Zustand der Bahn und der Umgebung.“ Es bleibe die Frage inwiefern sich das mit einer Modernisierung vereinbaren lässt.
An einer Station mitten im Wald steigen acht junge Leute, Männer und Frauen, mit großen Rucksäcken ein. Die meisten von ihnen tragen Tarnkleidung. Sie beginnen Gitarre zu spielen und zu singen. Natürlich bleiben die Schaffnerinnen erst sitzen, sie freuen sich über die Musik, beinah singen sie mit.
In Saritschne hält der Zug. Wir schauen zu, wie die Lok umgespurt wird, um sich an den bisher letzten Wagen zu setzten, der nun der erste sein wird. In zwei Stunden beginnt die Rückfahrt bis Antoniwka, wo der Zug über Nacht im Depot stehen wird.
Der moderne Überlandbus mit den verdunkelten Scheiben, der von Saritschne aus direkt nach Kiew fährt, rumpelt über die holprigen Landwege zur Schnellstraße. Durch die große Frontscheibe sehe ich in der Ferne einen dieser hölzernen Pferdekarren uns entgegen kommen. Die Straße erscheint mir zu schmal für beide Gefährte, aber der Busfahrer begegnet dem Gespann mit ungebremster Geschwindigkeit. Im Vorbeirauschen schaue ich auf Bauer und Pferd. Sie lassen sich von unserem Tempo nicht beeindrucken.
Text: Kristin Wirth, Nikolai Berdnik
Bilder: Peter Koller