Die Ukraine im Spagat: Zwischen Modernisierung und Korruption
Die Ukraine sitzt in der Grätsche, im Spagat. Mit einem Fuß hat sie einen ziemlich bedeutenden Schritt nach vorn Richtung Modernisierung gemacht, als sie die Diktatur überwand, Reformen in die Wege leitete, die Armee erneuerte und einen Aggressor im Unabhängigkeitskrieg stoppte.
Mit dem anderen Fuß ist das Land in der Vergangenheit an Korruption und einem ineffizienten Staatsapparat klebengeblieben. Lange in einer solchen Grätsche zu sitzen ist unmöglich.
Modernisierung ist ein Prozess, von dem die Mehrheit der “Zweit-Liga”-Länder träumt, da gerade sie die Barriere ist, die die Fähigen und Blühenden von jenen trennt, welche sich nicht aus der Armutsfalle herauswinden können. In den meisten Fällen entpuppt sich dieser Traum als Alptraum. Viele Länder erreichen nicht einmal annähernd die Anforderungsschwelle zur Chance auf Modernisierung.
Die Ukraine mit ihrem riesigen menschlichen Kapital hat die Schwelle erreicht. Eine kritische Masse an Bürgern, die Modernisierung fordern (ich erinnere daran, dass der Majdan einen tatsächlichen Systemwandel verlangte und nicht lediglich den Austausch von Gesichtern), führte zur Einleitung von Reformen. Die Einen konnten nicht mehr und die Anderen wollten nicht mehr auf die alte Weise leben, also begann eine Bewegung hin zu einer neuen Lebensweise.
Aber irgendetwas ist schiefgegangen.
Man kann eine Modernisierung hinauszögern, sie bremsen, einfach nicht beginnen. Man kann sie geradlinig und entschlossen durchführen, wie es von Polen bis Südkorea viele Länder gemacht haben. Sie lässt sich langsam und beständig aufziehen, mit Blutvergießen, doch auf Sieg hoffend. Man kann eine Modernisierung verhindern und stattdessen einen Archaismus wieder einführen, also das Land in die Vergangenheit zurückziehen, wie unser Nachbar im Nord-Osten.
Der Varianten gibt es unzählige, die Geschichte ist voller vielfältiger Beispiele – nur eine Variante ist unmöglich.
Man kann eine Modernisierung nicht, wenn man einmal damit begonnen hat, mittendrin anhalten. Es gelingt nicht, im Spagat sitzenzubleiben und sowohl die Einen als auch die Anderen zufriedenzustellen. Entweder entschlossen voran oder unter dem Gewicht der eigentlichen Probleme zurück.
Es ist eine aktive Minderheit im Volk, die nach Modernisierung strebt, doch es ist nicht das Volk, sondern die Elite, von der die Umsetzung ausgeht. (Hier und im Folgenden verstehen wir unter Elite im weitesten Sinne jene, denen die Macht über Wirtschaft, Politik, Information, Armee, Kirche usw. obliegt.)
Die Eliten lassen sich aufspalten: Auf der einen Seite sind diejenigen, die für Macht und Geld danach streben, das geschlossene System zu erhalten, dessen Zeit abgelaufen ist.
Auf der anderen Seite sind diejenigen, die für Macht und Geld danach streben, das System zu öffnen (eigentlich zu zerstören und alle dazu zu zwingen, auf neue Weise zu leben), denn wenn das System nicht offen ist, wird es zerrissen werden.
Charakteristisch für das alte geschlossene System sind in erster Linie die eingeschränkten Möglichkeiten seiner Menschen.
Die Wirtschaftsrechtslage für den einfachen Mann ist bedrückend, es ist fast unmöglich, ein Geschäft ehrlich aufzuziehen. Gleichzeitig gibt es Leute mit einem anderem Status, ganz gleich wie man sie nennt, ob Barone, Nomenklatur oder Oligarchen – ihre Möglichkeiten sind prinzipiell andere. Sie sind nicht anders, weil sie reich sind, sondern sie sind reich, weil sie anders sind. Weder Talent noch Arbeit bringt ihnen ihren Reichtum ein, sondern Macht oder wenigstens Nähe zu ihr. Außerdem bringt Reichtum Macht hervor und so schließt sich der Kreis. Auf dem Majdan erkämpfte das Volk politische Freiheit. Derzeit bedroht nichts und niemand die Meinungs- oder Versammlungsfreiheit, auch nicht die Freiheit Kritik zu äußern oder politische und gesellschaftliche Organisationen zu gründen. Trotz “Hick-Hack” bei den Wahlen und der Passivität eines bedeutenden Anteils der Bevölkerung ist die Ukraine ein ziemlich freies Land, im politischen Sinne.
In Kombination damit bleibt die Wirtschaftsfreiheit jedoch eine der niedrigsten im weltweiten Vergleich.
Im Ranking der Wirtschaftsfreiheit nahm die Ukraine den 162. Platz ein, im vergangenen Jahr war es der 155., das heißt, es gibt “schon heute eine Verbesserung”. Wir stehen am hintersten Ende – in charakteristischer Gesellschaft: Kongo, Iran, Turkmenistan, Simbabwe, Venezuela, Kuba.
Was bedeutet Wirtschaftsfreiheit? Sie ist eine komplexe Kennziffer, welche die Hoheit des Rechts beinhaltet, darunter den Schutz des Eigentumsrechts, die Freiheit von Korruption, Nichteinmischung des Staates in die Wirtschaft (angemessene Steuern, angemessene Staatsausgaben), effektive Regulierung von Geschäften und Geschäftsbeziehungen, Offenheit der Handelsmärkte, Investitionen, Finanzoperationen.
Die Frage ist diese: Wie lange kann ein Land mit hoher politischer Freiheit ökonomisch unfrei bleiben?
Es ist selbstverständlich, dass die Menschen, wenn sie auf politische Freiheit drängen, auch versuchen werden, sich Wirtschaftsfreiheit zu erkämpfen. Zumal politische Freiheit nicht nur an sich notwendig ist, sondern auch um ein würdiges Leben zu gewährleisten. Die Möglichkeit eine Regierung an jeder Ecke zu kritisieren stellt lediglich eine schwache Gesellschaft zufrieden, wenn die Kritik ohne jegliche Folgen bleibt. Und dass die Ukrainer definitiv keine schwache Gesellschaft sind, haben sie bewiesen.
Letztendlich steigt entweder die Wirtschaftsfreiheit bedeutend an und dann werden Millionen Menschen (wie seinerzeit die Europäer) sich daran machen mit ehrlicher Arbeit neue Wohnungen, Autos und Reisen zu verdienen, ihre Energie also für etwas Positives aufzuwenden und nicht für Protest.
Oder es gelingt den Eliten, für den Erhalt der Wirtschaftsunfreiheit, Stück für Stück die politische Freiheit wieder etwas zu verringern. Wie der letzte Versuch dahingehend endete, wissen wir. Einer sitzt in Rostow, der Rest irgendwo anders, und internationale Geheimdienste machen Jagd auf ihre Aktiva.
Die politischen Eliten müssen heute auf ihren Selbsterhaltungsinstinkt hören. Der rasche Wirtschaftsaufschwung, der wohl unmittelbare Folge zunehmender Wirtschaftsfreiheit wäre, würde ihre Vermögen schnell vergrößern. Doch stattdessen könnte die nächste heiße Phase der politischen Krise mit dem Ruin des ganzen Landes enden und dann besteht das Risiko, mit leeren Händen zurückzubleiben. Es muss eine Entscheidung getroffen werden. Mit lautem Pfiff Einschränkungen zu verkünden geht nicht auf.
Die allerersten Schritte hin zu Wirtschaftsfreiheit sind Steuer-, Haushalts- und Gerichtsreformen. Diese unerfüllte Aufgabe von 2015 hat auch heute noch oberste Priorität.
Wir werden nicht vergessen, dass der Majdan, der jene an die Macht brachte, die sie jetzt innehaben, nicht nur eine national-befreiende und wertvolle, sondern auch eine wirtschaftliche Revolution war.
11. Januar 2016 // Walerij Pekar
Quelle: Ukrajinska Prawda