Unordnung, Streit und Bruderzwist im „Terrarium der Gleichgesinnten“ sind im politischen Leben der Ukraine zu alltäglichen Erscheinungen geworden, und mit dem unermüdlichen Näherrücken der Wahlen wird der Grad der Spannung nur zunehmen. Mit Blick auf all das, und das nicht nur seit einem Jahr, ist die Gesellschaft, gelinde gesagt, nicht begeistert von der Aktivität der ukrainischen Politkaste. Die meisten Politiker und Staatsbediensteten der ersten Liga haben enorme Ablehnungswerte, die weit über das Maß an Vertrauen in ihnen hinausgehen.
So wie auch viele Ukrainer glauben, dass sich der Staat in die falsche Richtung bewegt. Oder, als eine Option, dass die Reformen nicht schnell genug vonstatten gehen, die man jedoch unter dem Druck des Westens und der Zivilgesellschaft durchführen muss.
Angesammelte Unzufriedenheit, Apathie und Müdigkeit, vertieft durch die permanenten sozioökonomischen Probleme und den Krieg, der immer noch andauert, wird eine öffentliche Nachfrage nach einer „starken Hand“ erzeugt. Die Notwendigkeit eines Führers dieser Art tritt periodisch in der Welt auf, besonders angesichts tiefer Krisen.
Die bescheidene Attraktivität des Autoritarismus
Trotz der Tatsache, dass die Ukrainer sich ihrer Freiheit und Demokratie erfreuen und mit ihr prahlen, wofür die Grundlagen zu Zeiten der Kiewer Rus und durch das Kosakentum gelegt wurden, ist der Hang zu einer „starken Hand“ und zum Autoritarismus immer noch einem Teil der Gesellschaft eigen. In mehr als 20 Jahren Unabhängigkeit sind staats- und nationalistisch-paternalistische und staatsfixierte Stimmungen der Bürger nicht vollständig verschwunden.
Das zeigt sich in der Überzeugung vieler Menschen, dass der Staat ihnen etwas schuldig ist, die Vorgesetzten wissen es besser, aber effektiv regieren kann nur ein strenger und gerechter „starker Herr“. Immer noch hört man in Diskussionen das „krönende“ Argument: „Euch fehlt ein Stalin“. Oder: „Von eurer Sorte wurden zu wenige erschossen“. Zur gleichen Zeit, nach den besten Traditionen der post-sowjetischen Schizophrenie, sind es oft dieselben Leute, die sich empört über die politische Verfolgung ihrer Gegner zeigen, indem sie diese mit den Repressionen des Jahres 1937 vergleichen.
Eines stimmt einen froh, dass in Bezug auf den sowjetischen Tyrannen die Ukraine doch nicht Russland ist, für welches Stalin ein „effektiver Manager“ ist, ein Vorbild zu Nachahmung darstellt und beinahe „unser ein und alles“ ist. Laut einer ukraineweiten Meinungsumfrage, die 2018 vom Kiewer Internationalen Institut für Soziologie durchgeführt wurde, begegnen 42 Prozent der Befragten Stalin mit Feindseligkeit, Angst oder Hass, 30 Prozent mit Gleichgültigkeit, 14 Prozent mit Respekt, Sympathie oder Begeisterung. 28 Prozent halten ihn für einen weisen Staatsführer, dieser Aussage stimmen 52 Prozent nicht zu. Drei Viertel der Befragten würden nicht unter der Leitung eines solchen Führers leben und arbeiten wollen. 60 Prozent stimmen nicht mit der Vorstellung überein, dass es unmöglich ist, auf einen Führer zu verzichten, der kommen und Ordnung einführen wird.
Im Allgemeinen stehen Ukrainer laut Soziologen Stalin viel feindseliger gegenüber als Russen. Laut einer Umfrage des Moskauer Lewada-Zentrums bewerten 40 Prozent von ihnen Stalin positiv, 57 Prozent nennen ihn einen weisen Führer, der die UdSSR zum Wohlstand geführt hat, 44 Prozent halten ihn für einen grausamen Tyrannen.
Im Jahr 2017 stellten russische Soziologen fest, dass Stalins Zustimmung ein historisches Maximum erreicht hatte, das sie mit der Forderung einer Gesellschaft nach härteren politischen Maßnahmen verknüpfte. Im vergangenen Jahr hatten die ersten drei der beliebtesten historischen Führer der Russen die folgende Reihenfolge: Putin, Breschnew, Stalin. Zuvor war die Einstellung zu Letzterem neutral oder gleichgültig, aber im März 2014 änderte es sich zum Positiven.
Eine „Post-Krim-Konsolidierung“ – erklären die Experten des Zentrums, hat zur Neubewertung vieler Ereignisse und Prozesse im Leben des Landes beigetragen. Gleichzeitig möchte nur etwa ein Viertel der Russen gerne wie unter Stalin leben. An den GULAG wollen sie sich lieber nicht erinnern.
Die post-krimsche Realität, über die Soziologen und Publizisten oft sprechen, änderte nicht nur die Haltung der Russen zu Stalin, sondern korrigierte auch signifikant die Bewertung des Präsidenten Russlands in den Augen der Ukrainer. Bis dahin war er der populärste ausländische Führer in der Ukraine, seine Ratings übertrafen die Unterstützungswerte von heimischen Spitzenpolitikern.
„Wir bräuchten auch so jemanden“, träumten nicht wenige unserer Bürger, auf Ordnung nach dem russischen Vorbild, der internationalen Autorität des Staates, hoffend („sodass uns alle fürchten und nicht über uns lachten“) und relativ hohe Gehälter und Renten („so gut haben wir noch nie gelebt“). Einige von ihnen werden anschließend skandieren: „Putin, sende Truppen!“ Durch den unverfrorenen Angriff der Russischen Föderation auf die „brüderliche“ Ukraine, durch die Annexion des Hoheitsgebiets sank das Niveau der Putin-Unterstützung in der Ukraine von 53 auf 10 Prozent.
Forderung nach einer Junta
Allerdings sollte man sich nicht der Illusion hingeben, dass das die Nachfrage einer „starken Hand“ durchkreuzte. Überhaupt nicht. Denn auf dem Sockel der Sympathie der Ukrainer wechselte der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, mit 63 Prozent Putin ab. Noch ein harter Führer, das Staatsoberhaupt Kasachstans, Nursultan Nasarbajew hat 37 Prozent der Unterstützung. Allerdings stehen die Ukrainer (58 Prozent) der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel und der litauischen Präsidentin Dalia Grybauskaite (51 Prozent) positiv gegenüber. Nicht alle bewundern die „ewigen“ post-sowjetischen autoritären Führer. Es gibt auch andere zur Orientierung.
Gleichzeitig ertönen in der Ukraine zunehmend Rufe nach einer „starken Hand“, die kommen und Ordnung schaffen wird. Sogar auf Kosten der Einschränkungen von demokratischen Rechten und Freiheiten. Dieses Szenario wird jetzt von 70 Prozent der Ukrainer (letztes Jahr von 63 Prozent) unterstützt.
„Die Nachfrage ist am höchsten bei den Ältesten, den Ärmsten und den Bürgern mit niedriger Bildung“, betonen die Soziologen der „Rating“-Gruppe. „Gleichzeitig beträgt der Anteil der Befürworter selbst bei den Jüngsten, den Reichsten und den am höchsten ausgebildeten Befragten mindestens 60 Prozent.“
Die Gesellschaft will nicht über die Gewaltenteilung nachdenken. Für viele sind Parlament, Regierung und Präsident – eine einzige Staatsmacht, welcher das Staatsoberhaupt vorsteht. Dieses muss für absolut alles die Verantwortung tragen: von der durchgebrannten Glühbirne im Treppenhaus und den Tarifen der Nebenkosten bis hin zur nationalen Sicherheit und Außenpolitik.
Die Erinnerung an das parlamentarisch-präsidentielle Regierungsmodell funktioniert nicht. Das Koalitionsprinzip der Regierungsbildung, das ohne Kompromisse nicht möglich ist, wird kritisiert und als kollektive Verantwortungslosigkeit ausgelegt. Mit all diesem Chaos kann nur eine starke Persönlichkeit, ein starker Anführer fertig werden, der dazu breite Befugnisse benötigt. Auf die Vorwürfe reagierend, dass es undemokratisch sei, berufen sich die Anhänger der „starken Hand“ auf den Erfolg der erfolgreichen Reformen von Charles de Gaulle in Frankreich, Mustafa Kemal Atatürks in der Türkei, Margaret Thatchers im Vereinigten Königreich, Lee Kuan Yus in Singapur und mit einigen Vorbehalten, Augusto Pinochets in Chile.
„Von einer tiefen Krise zu einem stabilen Regime, mit einer soliden Wirtschaft und einer soliden Demokratie, kam und kommt man nur mit Hilfe einer autoritären Herrschaft“, gab der ehemaliger Verteidigungsminister Anatolij Hryzenko kürzlich in einem Interview mit RBK-Ukraine bekannt.
Ein Politiker, der sich zuvor „der Erste, der nicht über die Wahlhürde kommt“ und „Feind von deren Staat“ nannte, erscheint jetzt auf der Liste der Favoriten des Präsidentschaftsrennens, und seine Partei Hromadjanska Posyzija (Bürgerposition) hat eine Chance, ins Parlament zu kommen. Um Hryzenko beginnen sich oppositionelle Kräfte zu versammeln, einschließlich der Alternative von Jehor Firsow.
Wenn über die „starke Hand“ gesprochen wird, weisen Sympathisanten dieser Idee fast zwangsläufig darauf hin, dass sie sich primär auf einen aufgeklärten Autoritarismus beziehen. Vor zwei Jahren schrieb der bekannte Volontär Jurij Kasjanow in der Wochenzeitung Dserkalo Tyschnja (Wochenspiegel) einen Text über die Wahrscheinlichkeit der Errichtung einer Diktatur in der Ukraine. Er meinte, alles würde dahin führen. Die Frage besteht nur darin, was für eine sie sein würde: eine belarussisch-kasachische oder die eines fortschrittlicheren Musters? Die letztere Variante imponierte ihm persönlich mehr. Zu seinen Gunsten führt Kasjanow Beispiele von Ben-Gurion, Roosevelt und Atatürk an.
Und das ist immer noch normal, denn in der Hitze der Debatte ist es möglich, es bis zu Erschießungen in Stadien zu treiben (und nicht nur), mit der gefährlichen öffentlichen Unzufriedenheit mit den Handlungen der Regierung spielend. Aus derselben „Oper“ sind die unverantwortlichen Appelle, die Truppen aus dem Donbass nach Kiew zu holen und eine Antiterroroperation gegen das oligarchische Regime zu organisieren. Das wird eine Junta werden.
Man könnte meinen, dass die physische Vernichtung der Vertreter der „Elite“ und aller, die zu ihrer Beerdigung kommen, mit einem Schlag die herrschende Klasse erneuert und alle aufgelaufenen Probleme löst. Aber dies ist nicht der Fall. Einfache Antworten auf komplexe Fragen sind nicht geeignet und kommen nicht durch. Darüber hinaus sollte man sich daran erinnern, wie die Versuche, einen Autoritarismus aufzubauen endeten – mit Aufständen und dem Zusammenbruch des Regimes.
Und ganz zum Schluss. Diejenigen, die für eine „starke Hand“ eintreten und dafür werben, rechnen kaum damit, dass deren Grausamkeit auch an ihnen erprobt werden könnte. In dem Fall sollten sie sich auch nicht beschweren und verwundert fragen: „Warum?“
14. Mai 2018 // Serhij Schewelist
Quelle: Zaxid.net
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