Das unnötige Gleiwitz


Nach der Äußerung russischer Geheimdienste über die Organisation von Terroranschlägen auf der Krim und den Drohungen vonseiten des russischen Präsidenten Wladimir Putin haben viele im Verhalten des Kremls Analogien zum entsprechenden Verhalten von Putins Vorgänger, Reichskanzler Adolf Hitler, gesehen. Dieser überfiel 1939 Polen nach einer Reihe hässlicher Provokationen, deren hauptsächliche die in Gleiwitz war, wo die Nazis einen polnischen Überfall auf eine Radiostation inszenierten. Die Analogie drängt sich wirklich auf und auch ich habe über Gleiwitz in den ersten Monaten nach dem Überfall Russlands auf unser Land geschrieben. Damals als ich annahm, dass die Vernichtung des malaysischen Passagierflugzeuges durch die Russen eine russische Variante der „Operation Himmler“ verhindern könnte. Wenn nicht das malaysische, sondern ein russisches Flugzeug abgeschossen worden wäre, hätten die Putin’schen Horden bereits ohne vorgeschobene Söldner im Donbass in unser Land eindringen können.

Doch seitdem sind mehr als zwei Jahre vergangen. Dabei taucht die Frage auf, welchen Sinn es für Putin macht, einen Krieg gegen die Ukraine eben jetzt anzuzetteln. Im März 2014 lernte die ukrainische Armee gerade erst, Krieg gegen einen Feind zu führen. Damals fielen die Ölpreise noch nicht und es gab den Glauben, dass keine Sanktionen des Westens für die russische Wirtschaft gefährlich werden könnten. Und selbst die Sanktionen selbst schienen ein zeitweises Phänomen zu sein, das man leicht ignorieren kann. Zumal die wirklichen Sanktionen – diejenigen, die früher oder später der russischen Wirtschaft den Gnadenstoß versetzen – nicht vor, sondern erst nach der Vernichtung der Boeing verhängt wurden.

Im März 2014 konnte Putin – nicht um die ganze Ukraine, wie um ihren Osten und Süden – den Kampf wagen, weil er in diesem offensichtlich schweren und blutigen Kampf siegen könnte, sondern weil er die Folgen kaum abschätzen konnte. Doch der Krieg bedeutet jetzt Selbstmord für den Herrscher, der Zusammenbruch seines auch ohnehin schwächer werdendes politisches Regime, der Tod für die auch so bereits verkommende Wirtschaft.

Denn die Erdölpreise sind bereits gefallen und setzen vor unseren Augen in diesen Tagen ihren Rückgang fort. Sie steigen nicht, sie fallen. Denn es ist klar, dass die Sanktionen – wenn sie nicht schwächer werden – zum Bankrott der russischen Staatsunternehmen und dem möglichen Staatsbankrott von Russland selbst führen können. Denn die ukrainische Armee hat in diesen zwei Jahren einen nicht einfachen Weg zurückgelegt. Wir bemerken die russischen Manöver, doch die kürzlichen ukrainischen – „Sommergewitter“ und „Südwind“ – die bemerken wir nicht, doch sie haben eben gerade in diesen Tagen stattgefunden und gezeigt, dass wir eine andere Armee haben. Und, merken Sie, der Wind war ein südlicher.

Und danach gibt es noch einen Umstand, der Gleiwitz nicht mit der Krim verbindet. Hitler zählte trotzdem darauf den Verbündeten Polens zu beweisen, dass es selbst Deutschland „überfallen“ hatte. Er wollte mit Polen so umgehen, wie er vorher mit der Tschechoslowakei umging. Er hoffte darauf, dass Großbritannien und Frankreich nicht in den Krieg eintreten. Und verrechnete sich. Seine Operation „Himmler“ war eine Operation vor allem eher für die Außenanwendung, als für die Deutschen, doch sie verhinderte nicht den Zweiten Weltkrieg.

Putin weiß, was Hitler nicht wusste. Er weiß, dass ihm niemand glaubt. Und er weiß, dass niemand mit uns zusammen kämpfen wird. Und niemand wird Russland den Krieg erklären, wenn es uns den Krieg erklärt. Er riskiert in diesem Sinne nichts, er braucht keinerlei Provokationen, er kann einfach so angreifen. Ohne Gleiwitz.

Doch alle anderen Risiken – die politischen, wirtschaftlichen und militärischen, hebt das trotzdem nicht auf. Daher wird Putin nicht kämpfen. Er wird damit fortsetzen, die Situation in unserem Lande zu destabilisieren. Dabei auch mit Hilfe der Krim – denn eine Destabilisierung im Donbass ist nicht in seinem Interesse, er möchte trotzdem eine Abschwächung der Sanktionen erreichen.

In welcher Größenordnung diese Destabilisierung sein wird, ist gerade schwer vorherzusagen. Putin könnte seinen neuen Botschafter Michail Babitsch nicht nach Kiew schicken und selbst Wiktor Medwedtschuk zwingen vor dem Präsidialamt zu hungern. Auch könnte er Saboteure schicken, beispielsweise nach Genitschesk. Doch aus der Logik der Spezialoperationen wird er trotzdem nicht in die Logik des Krieges übergehen. Und das, weil er die Logik der Spezialoperationen besser versteht und weil er es sich nicht erlauben kann zu kämpfen. Putin würde gern Hitler gleichen, doch aus der Sicht seiner Möglichkeiten ist er bei weitem nicht Hitler.

Und wenn wir nicht unfreiwillige Geiseln seiner Jünglingsambitionen werden wollen, müssen wir lernen nicht aus Anlass seiner Provokationen oder wichtigtuerischen Erklärungen in Panik zu verfallen.

11. August 2016 // Witalij Portnikow

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 724

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