FacebookTwitterVKontakteTelegramWhatsAppViber

Der Krieg, den wir verloren haben

0 Kommentare

Klatschmohn an der Mutter Heimat in Kiew
Pjotr Poroschenko und Wladimir Putin wurden nach Paris zu den Feierlichkeiten aus Anlass des hundertjährigen Endes des Ersten Weltkriegs eingeladen. Eine in jeder Hinsicht bedeutsame Geste. Gleich einer Ironie des Schicksals ist der 11. November genau derjenige Tag, der uns vom befreundeten Westen trennt, uns dafür aber mit unserem Feind verbindet. Es ist eine Erinnerung an eine historische Gabelung, als sowohl Russland als auch die Ukraine einen anderen Weg gingen und sich immer mehr von der restlichen Welt entfernten.

Für Emmanuel Macron und die anderen westlichen Leader ist das Ende des Ersten Weltkriegs ein wichtigeres Ereignis, behaftet mit tiefen Bedeutungen und Emotionen. Aber für Wladimir Wladimirowitsch [Putin] und Pjotr Alexejewitsch [Poroschenko] ist es ein abstraktes Datum aus dem Schulbuch. Beide Präsidenten sind mit der sowjetischen Historiographie aufgewachsen, in der das Ende des Ersten Weltkrieges von der bolschewistischen Revolution und dem Bürgerkrieg verdunkelt war. Zudem wurde der vorzeitige Ausstieg aus dem Weltkrieg als großartiger Erfolg dargestellt, und die Erinnerung an ihn gezielt aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis verdrängt. Der Übergang der Ukraine von der sowjetischen historiographischen Matrix zur nationalen hat daran wenig geändert. Die Ukrainische Volksrepublik unterzeichnete einen Separatfrieden und stieg noch eher als Sowjetrussland aus, und in unserem Fall ist das Ende des Ersten Weltkrieges von der nationalen Befreiungsrevolution verdeckt, die bis Anfang der 1920er andauerte. Zudem fand die Ukraine, im Unterschied zu Polen oder der Tschechoslowakei, keine gemeinsame Sprache mit den Siegermächten und erreichte nichts auf der Pariser Friedenskonferenz. So kam es, dass der Krieg, der sich durch die aktive Teilnahme von Ukrainern in den Reihen unterschiedlicher Armeen auszeichnete, für uns im Prinzip ein fremder wurde. Faktisch waren wir von einem sehr wichtigen Teil des Diskurses in der Welt abgeschnitten. Und das zeigte sich sogar in symbolischen Kleinigkeiten.

Zum Beispiel ist der Kult um den Unbekannten Soldaten mit dem Ende des Ersten Weltkrieges verbunden: in London, Paris, Rom, Washington und anderen Hauptstädten sind ähnliche Denkmäler in den 20er Jahren entstanden. Aber bei uns sind das Grab des Unbekannten Soldaten und das Ewige Feuer fest mit sowjetischer Spezifik assoziiert – es genügt, sich an das skandalöse Spiegeleibraten im Kiewer Park des Ruhmes zu erinnern, das als Aufstand gegen das „sowjetische Heidentum“ aufgefasst wurde. Obwohl die UdSSR nach vielen Jahren die schöne Idee des Westens einfach geklaut hatte.

Die Lücke in unserem kollektiven Gedächtnis hat sich auch 2014 kundgetan, in der die postsowjetische Ukraine zum ersten Mal mit einem wirklichen Krieg konfrontiert wurde.

Es wurde klar, dass sich das ukrainische Set an Analogien fast ausschließlich auf den Zweiten Weltkrieg bezieht: andere kriegerische Konflikte erinnern und kennen wir nicht. „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1940 in England…“; „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1942 in der Sowjetunion…“; „Stellt Euch vor, dass im Jahre 1943 in den USA…“. Sich das Jahr 1914 oder 1915 vorzustellen kommt der Mehrheit der Sofaanalysten gar nicht in den Sinn.

Obwohl die Ukrainer, vom Krieg überrascht, auf mentaler Ebene den sorglosen Bürgern der ersten Hälfte der 1910er Jahre viel näher standen als der traumatisierten und eingeschüchterten Gesellschaft Ende der 1930er.

Zusammen mit dem Ersten Weltkrieg, der in den historiographischen Hinterhof verdrängt wurde, verloren wir einen Teil unbezahlbarer menschlicher Erfahrung. Wenn diese Erfahrung nicht verloren wäre, wäre es heute in der Ukraine einfacher, die westliche Welt zu verstehen, von der ein Teil zu werden wir uns bemühen.

Und außerdem fiele es uns leichter uns selbst zu verstehen, die wir hundert Jahre nach unseren Vorfahren mit einem unerwarteten Krieg konfrontiert wurden. Der globale Gegensatz 1914-1918 gibt uns um nichts weniger Nahrung zum Nachdenken als der globale Gegensatz 1939-1945. Und ist noch dringender. Der Erste Weltkrieg lehrt, sich nicht von Verschwörungstheorien hinreißen zu lassen. Nicht Feinde und Verbündete überzubewerten, indem man über „Verschwörer“ und „hinterlistige Pläne“ spekuliert. Den Leuten, die in hohen Büros sitzen und Entscheidungen treffen, keine ausschließliche Informiertheit und diabolische Auffassungsgabe zuzuschreiben. Von ähnlichen Illusionen ist es leicht loszukommen, wenn man den berühmten „August 1914“ von Barbara Tuchman nochmals gelesen hat. Der Erste Weltkrieg lehrt ein nüchternes Urteil zu wahren, sich nicht in propagandistische Extreme zu werfen, nicht zu primitiver Xenophobie und Chauvinismus hinabzusinken.

Er erinnert an deutsche Schriftsteller, die verkündeten, dass „weder eine englische, noch eine französische Kultur jemals existiert“ habe. An französische Gelehrte, die bewiesen, dass „die Preußen nicht zur arischen Rasse gehören und in gerader Linie von den Steinzeitmenschen abstammen.“ An die hektische Umbenennung des deutschen Schäferhundes in „Elsässer“, und des Hamburgers in „liberty sandwich“. An all das, was heute komisch und absurd erscheint – aber sich nicht zu sehr von dem Unsinn unterscheidet, der vor dem Hintergrund des ukrainisch-russischen Konflikts entsteht.

Der Erste Weltkrieg lehrt ein kritisches Verhältnis zu den Experten, die angeblich in alle Geheimnisse des Daseins eingeweiht sind und den tiefen Kern des Geschehenden enthüllen. Man muss sich erinnern, dass Herbert G. Wells im Jahre 1914 als ein solcher Experte angesehen wurde, der das aufsehenerregende Buch „The War that Will End War“ veröffentlicht hatte. Und die absurde These über den Krieg, der auf ewig alle Kriege beenden werde, wurde von den Zeitgenossen für halbwegs seriös gehalten. Und der Erste Weltkrieg lehrt kein Gleichheitszeichen zwischen die Beendigung eines Krieges und die Lösung eines Problems zu setzen. In der Ukraine wird diese Idee von vielen genutzt: von prorussischen Kapitulanten, die dem Land einen raschen Frieden und Prosperität versprechen, bis zu den Ultrapatrioten, die sich schon im Voraus auf das goldene Zeitalter freuen, das sofort nach der Niederlage Moskaus eintreten wird.

Aber den am Ersten Weltkrieg Beteiligten war es beschieden, beide Illusionen zu überleben – und sich von ihrer Haltlosigkeit zu überzeugen. Die deutsche Erfahrung hat gezeigt, wie ein erniedrigender Frieden sich in innere Gegensätze umwandeln kann und niedere menschliche Instinkte weckt. Die türkische Erfahrung hat gezeigt, dass der Abstand zwischen einer Kapitulation und einem neuen grausamen Krieg weniger als ein Jahr betragen kann. Die italienische Erfahrung hat gezeigt, dass ein formal siegreicher Staat sich in der Situation eines Besiegten wiederfinden kann. Die französische Erfahrung hat gezeigt, wie ein Sieg, der für einen unermesslichen Preis erreicht wurde, zum Präludium für einen zukünftigen Kollaps wird. Die polnische, ungarische, tschechoslowakische, serbokroatische Erfahrung hat gezeigt, dass ein beendeter Krieg viel mehr Fragen hinterlässt als er Antworten gibt. Nun, das ist die Hauptlektion, die der Menschheit am 11. November 1918 erteilt wurde. Eine Lektion, deren Aneignung der kämpfenden Ukraine noch bevorsteht.

Unseren Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

11. November 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Telegram, Twitter, VK, RSS und per Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 4.8/7 (bei 6 abgegebenen Bewertungen)

Kommentare

Neueste Beiträge

Aktuelle Umfrage

Wann kommt die Halbinsel Krim wieder unter ukrainische Kontrolle?
Interview

zum Ergebnis
Frühere Umfragen
Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)16 °C  Ushhorod16 °C  
Lwiw (Lemberg)17 °C  Iwano-Frankiwsk17 °C  
Rachiw16 °C  Jassinja15 °C  
Ternopil17 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)18 °C  
Luzk17 °C  Riwne19 °C  
Chmelnyzkyj17 °C  Winnyzja17 °C  
Schytomyr16 °C  Tschernihiw (Tschernigow)15 °C  
Tscherkassy17 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)17 °C  
Poltawa16 °C  Sumy16 °C  
Odessa20 °C  Mykolajiw (Nikolajew)19 °C  
Cherson20 °C  Charkiw (Charkow)16 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)18 °C  Saporischschja (Saporoschje)19 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)18 °C  Donezk19 °C  
Luhansk (Lugansk)19 °C  Simferopol20 °C  
Sewastopol20 °C  Jalta21 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Und vergesst nicht, auch wenn nicht davon berichtet wird, jedenfalls derzeit nicht, die Russen sind nicht zimperlich, die Zivilbevölkerung leidet. Sicherlich machen die jede Woche einen neuen Folterkeller...“

„Lieber Christian, ich gehe davon aus, dass sich beide Seiten mit Bomben "bewerfen" und sicherlich sind die Russen besser als man Ihnen das immer wieder nachsagt, da bin ich ebenfalls bei Oberst Reisner...“

„..... Ich sehe immer noch kein positives Ende... Das wäre ja auch das 1. Mal, dass ein Krieg ein positives Ende nach sich zieht...“

„Wie lange wartet man insgesamt zurzeit auf einen Reisepass in der Ukraine, nach Beantragung bei der Behörde im eigenem Ort, wenn man zuerst einen Identifikationscode benötigt, damit dann ein (biometrischen)...“

„Wann soll das gewesen sein? Ich finde nur was zum Treffer in einem russischen Munitionsdepot“

„Das mit den Hallen wurde - auch - bei ntv gezeigt nebst Videomaterial. Ich denke diese Informationen sind verifiziert. Es stellt sich natürlich die Frage, wie groß diese "Hallen" gewesen sind.“

„Also 10 Hallen mit Munition widerspricht irgendwie jeder Logik. So zu lagern läd ja gerade zur Zerstörung ein. Klingt eher wie Russenpropaganda. Ein guter Freund ist auch gerade auf Fronturlaub. Der...“

„Vielen lieben Dank für deine Antwort, Handrij! Bei der ukrainischen Post habe ich auch schon geschaut, auch da nur der Stand, dass die Sendung in das internationale Logistikzentrum eingegangen ist. Die...“

„Liebe Community, am 08.08. sendete ich wichtige Unterlagen in die Ukraine. Leider (wie sich jetzt herausstellte) wählte ich den Weg der offiziellen Post. Der Brief ist mit einer Sendungsnummer versehen...“

„Ich habe heute zwei Freunde getroffen, die für 15 Tage Fronturlaub bekommen haben. Einer ist normalerweise in Bachmut und der andere in Saporischja. Beide haben mir, wie auch andere, oft mitgeteilt, dass...“

„Dafür dass du dort wohnst bist du aber doch falsch informiert. Der junge Mann von Bekannten in Chmelnitzky hat sich nicht freigekauft sonder geht normal seiner Arbeit nach. Allerdings Verkauf Landmaschinen....“

„Mir ist noch etwas eingefallen und das möchte ich noch mitteilen. Die Ukraine hat seid Beginn der Gegenoffensive zwischen 2 und 3 % des Landes zurückerobert, was zuvor von Russland besetzt wurde. Das...“

„Natürlich ist das auch nur (m)eine Meinung. Zurzeit wird der Versuch unternommen, den Krieg ohne Gesichtsverlust offiziell zu "beenden". Vielleicht erst 2024..... Die Ukraine hat den Krieg verloren und...“

„Interessante Diskussion. Ich lebe seit fast 5 Jahren in der Nähe von Krolevets im Oblast Sumy mit Frau und Kind. Leider ist der Krieg längst verloren....... hat offensichtlich noch nicht jeder verstanden......“

„Dieser ewige Schwätzer Gogol, eine Diskussion auf Niveau hat er hier bereits gegen mich verloren, jetzt schmollt er und ignoriert mich, so ein "Mädchen" will wissen wie Spezialoperationen ablaufen? Die...“

„Ist eigentlich typisch für die Russentrolle. Immer wenn die Russen richtig im Arsch sind erscheinen sie kurz und behaupten das Gegenteil. Tja da hast dich tüchtig verplant mit deiner "Spezialoperation"...“

„Ist eigentlich typisch für die Russentrolle. Immer wenn die Russen richtig im Arsch sind erscheinen sie kurz und behaupten das Gegenteil. Tja da hast dich tüchtig verplant mit deiner "Spezialoperation"“

„Bis dahin also erstmal wieder abtauchen Gogol.“

„(gähn!) Die Offensive ist noch lange nicht beendet. Auch im November können die Russen schön das Laufen bekommen, siehe Cherson.“

„Nachts um 1 wieder einen feuchten Traum gehabt ? Ist ihre Antwort als ein sachliches Argument zum Status der faktisch gescheiterten "Gegenoffensive" zu betrachten, oder kann man das ruhig als das bezeichnen,...“

„Nachts um 1 wieder einen feuchten Traum gehabt ?“

„Ein rascher Durchbruch war von Kiew auch nicht geplant und ist daher auch nicht fehlgeschlagen. Es läuft gut und nach Plan. 09.09. - und so langsam kann man einen Schlussstrich unter die "Gegenoffensive"...“

„Die Beiträge zu diesem Thema sind ja allesamt schon alt, gewiss auch überholt. Mit Sicherheit gelten derzeit völlig neue zollrechtliche Regelungen, Freigrenzen und Gebührensätze. Kann jemand diese...“

„Es wird ja im Moment viel diskutiert, ob es im nächsten Jahr eine weitere Offensive durch die Ukraine geben wird, nachdem aber nun doch eine ganz erhebliche Anzahl von F16 geliefert, die meisten in 2024,...“

„Das war genauso ironisch gemeint!“

„Die Chinesen haben derzeit Deflation, nicht Russland, da sind eher leere Regale zu erwarten! Natürlich hast du Recht, dass es keine große Kompetenz ist, aber denke ich an Erdogan, dann weiß man erst...“

„Ich hoffe, dass sie bei der nächsten Parade die Panzer aus den Kindergärten nehmen! Die polnische Regierung selbst hat die Reparationsfrage für beendet erklärt, aber das erkennt die jetzige Regierung...“

„Es wird Zeit ein politisches Signal zu setzen, runter mit den Drohnen im Donaudelta, Rumänien entscheidet selbst das 200 Meter nah genug sind...zu nahe um es zu tollerien. Unbewaffnettes Flugobjekt, bewaffnete...“

„Eine Deflation nimmt niemand freiwillig in Kauf! In dieser Situation den Leitzins zu erhöhen um der Inflation entgegen zu wirken, weiß jedes Kind, da ist keine großartige Kompetenz notwendig. Sie hat...“

„Weil ich D als einen Sieger sehe, jucken mich die jährlichen Paraden zum Sieg über Nazideutschland nicht. Da dürfen z. B. die Russen gerne noch die nächsten 100 Jahre weitermachen, am Ende überlebe...“

„Die Reglungen bzgl. Der Reparationen wurden damals mit den Alliierten getroffen, daher fühlen sich Staaten wie Polen oder Griechenland uns weitere in dieser Sache nicht gefragt und aus deren Sicht nicht...“

„Das mit der Annektion war nur ironisch gemeint, um die Sinnlosigkeit zu verdeutlichen! Was hat der Waffenstillstand gebracht? Frieden, oder war es die Mitgliedschaft in der NATO? Tatsachen bleiben Tatsachen!...“