Heute, fünf Jahre nach der Annexion der Krim, kann man voller Überzeugung konstatieren, dass die Analogie mit dem Jahr 1938, mit Hitlers Annexion des Sudetenlands äußerst zutreffend gewesen ist. Und das nicht nur aufgrund der erstaunlichen Ähnlichkeit der Handlungen und der Logik der beiden Führer, Adolf Hitler und Wladimir Putin, sondern vor allem aufgrund der Reaktionen auf ihre Taten, der internationalen wie der ukrainischen Redaktion.
Die internationalen Garantiemächte unserer Souveränität und territorialen Integrität haben uns betrogen, genauso wie Großbritannien und Frankreich vor 80 Jahren die Tschechoslowakei betrogen haben. Aber weshalb? Eben darum, weil sie sich erstens nicht mit dem Aggressor einlassen wollten, und zweitens, weil es unterschwellig, nicht laut ausgesprochen den Gedanken gab, dass der Aggressor sich das Seine nimmt, etwas „Heimatliches“.
Und tatsächlich: Die Mehrheit der Bevölkerung im Sudetenland stellten ethnische Deutsche. Heutzutage würden wir sie natürlich als Österreicher bezeichnen, aber zu dem Zeitpunkt der Annexion war Österreich selbst schon eine gewöhnliche Provinz des Reichs. 1918 war auf dem Territorium des Sudetenlandes die Eigenständigkeit Österreichs ausgerufen worden. Und die Eingliederung in die Tschechoslowakei sicherten das Militär des neuen Landes und der Vertrag von Saint Germain. Allerdings blieben während all der Jahre, die das Sudetenlandes zur Tschechoslowakei gehörte, die prodeutschen Einstellungen in der Region sehr stark, die Sudetendeutsche Partei hatte die Unterstützung der Mehrheit der Wähler.
Alle entsprechenden Argumente lassen sich auch im Fall der Krim anbringen: Die Zugehörigkeit zur Russischen Föderation bis 1954, die Mehrheit der ethnischen Russen, der Autonomie-Status und die Unterstützung jener Kräfte, die für besondere Beziehungen zu Russland eingetreten sind, bis hin zu einem Anschluss an Russland. Was soll daran anders sein als im Falle der Sudeten?
Als Chamberlain und Daladier beschlossen, diese Hitler zu übergeben, hofften sie, dass der Führer sich darüber beruhigen würde. Wenn die Deutschen damit „heim ins Reich“ geholt wären, was sollten sie noch mehr wollen? Und der Krieg wäre abgewendet!
Aber sie unterschätzen den Appetit des Führers gewaltig. Und dennoch haben sich 75 Jahre später westliche Politiker zur Krim mit einer Strategie a la Sudetenland verhalten. Barack Obama hat nicht zufällig unablässig von Putin gefordert, die Hände vom ukrainischen Kernland zu lassen – weil für ihn vorstellbar war, dass sich der Menschenfresser mit der „heiligen“ Krim begnügen werde. Aber der Appetit des Kremlführers, wie der seines Vorgängers im NS-Reich, wuchs vorhersehbar beim Verspeisen der blutigen Mahlzeit. Und dass es nach der Annexion der Krim nicht so schnell zum Dritten Weltkrieg gekommen ist, wie es zum Zweiten Weltkrieg kam, lässt sich sehr einfach erklären: mit dem Vorhandensein von Atomwaffen. Wenn es diese nicht gegeben hätte, hätte ringsum schon alles in Flammen aufgegangen sein können, die Städte Europas würden erneut in Ruinen daliegen, die Franzosen würden die Russen am Vormarsch auf Paris hemmen, die russische Luftwaffe würde Salisbury seiner Umgebung gleichmachen – und niemanden würde sich auch nur im geringsten dafür interessieren, egal wie bedeutend die Kathedrale von Salisbury ist…. In Kiew, Odessa, Dnepr, Kursk und Brjansk würden unglückliche Frauen über den Gräbern ihrer gefallenen Söhne schluchzen .
Alles dies ist zum Glück bei diesem Mal noch nicht passiert. Wir haben uns hingegen verlagert in die Epoche eines weltweiten hybriden Kriegs. Und dessen Ende ist nicht absehbar.
Aber ich werde nicht allein den Westen für alles verantwortlich machen. Man muss auch die ukrainische Reaktion auf die Annexion der Krim beachten. Sie war ähnlich Tschechoslowakei-artig. Präsident Edvard Beneš, der gezwungen war, dem Münchner Abkommen zuzustimmen, trat umgehend zurück, denn er hatte verstanden, dass damit das Begräbnis des von ihm geschaffenen Staates stattfand. Aber alle Anderen blieben und nahmen am Begräbnis teil, die Politiker ebenso wie die Bevölkerung. Und erfüllten gehorsam alle Forderungen nach der weiteren Auslöschung der Tschechoslowakei: von der Föderalisierung zur Umwandlung der Tschechei in ein deutsches Protektorat und der Slowakei in einen Marionettenstaat. Wir feiern heute 90 Jahre Ausrufung der Karpaten-Ukraine, wobei wir allerdings vergessen, dass ihre kurze Existenz eine direkte Folge der Zerschlagung der Tschechoslowakei, eine direkte Folge des Münchner Abkommens war.
Die Ukrainer haben sich nicht daran gemacht, die Krim zu verteidigen, genauso wie sie sich dann daran gemacht haben, das Kernland zu verteidigen – und ich habe dabei die Bürger im Blick und den Staat selbst. Wir haben einfach dabei zugeschaut, wie man unser Land vergewaltigt – und zwar deshalb, weil keine (Streit)Kräfte da waren und weil die unausgesprochene Überzeugung herrschte, dass die Russen sind an der „heiligen“ Krim verschlucken und dann von uns fern bleiben würden. Unser wichtigstes Ziel war es damals, das Militär herauszuführen – und es eben nicht „hineinzuführen“. Und dabei konnten wir auf das volle Verständnis des Westens zählen, genau dieses „Münchner“ Westens.
Es sind fünf Jahre vergangen und noch immer wollen wir nicht Rechnung ablegen, was damals passiert ist. Wir glauben, man könne sich entwickeln, als sei nichts geschehen, mit abgetrennten Territorien und mit unbestimmten Grenzen. Wir hören den Idioten zu, die versprechen, „mit Putin einig zu werden“ und die überzeugt sind, dass wir anfangen sollten, besser zu leben und die Korruption zu bekämpfen – und dass die Krim und der Donbass von selbst zurückkommen werden, wie im Märchen.
Wir verstehen nicht, dass wir ein Invaliden-Staat geworden sind. Ein Invalid, der auch lebt und sich entwickelt, aber es ist eine andere Entwicklung als bei einem gesunden Menschen. Das sind andere Kraftanstrengungen, übermenschliche. Wenn Sie es nicht glauben, dann erkundigen Sie sich bei Paraolympioniken.
Wenn die Ukraine überleben will, dann sollte sie ein solcher Paraolympionik werden. Ein Land übermenschlicher Mühen, ein Land nationaler Solidarität, der Abtrennung von dem Aggressor, des völligen Bruchs mit diesem. Eines Landes, dessen Bürger nicht beim Feind arbeiten, dessen Sänger nicht in dessen Nachtclubs Faxen machen, ein Land, deren Politiker nicht davon träumen, dem Menschenfresser die Hand zu küssen.
Im anderen Fall wird uns früher oder später das Schicksal der Vorkriegs-Tschechoslowakei ereilen. Wir werden aufhören, ein Land zu sein und ein Protektorat des Feindes werden. Und in den Hauptstädten der Welt wird erleichtert geseufzt werden – über die falsche Entscheidung, dass man sich – nur in diesem Fall – schon mit dem Kreml werde einig können.
15. März 2019 // Witalij Portnikow
Quelle: Lewyj Bereg
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