Was haben Ostukraine und Westukraine gemeinsam?


Der Euromaidan hat den vergessenen Slogan „Ost und West gemeinsam“ reanimiert. Er erinnert gemeinsam mit den Schlachtrufen „Hinweg mit der Bande“ und „Die Miliz ist mit dem Volk“ an ungelöste Probleme aus 2004. An der Einheit der Ukraine zweifelt keine der politisch mehr oder weniger einflussreichen Kräfte, aber trotzdem hat der Slogan nichts an Aktualität verloren. Was veranlasst die Menschen jedes Mal wieder die ukrainische Gesamtheit, gegen die scheinbar niemand wirklich auftritt, zu verteidigen?

Das Problem liegt das, was im Medienbereich und im gesellschaftlichen Bewusstsein eigentlich als „Osten“ gilt. Unter dem Markenzeichen Ostukraine verstecken sich diejenigen, die eher „Westrussland“ oder das russifiziertere (kolonisiertere) Stück der ukrainischen Sowjetrepublik repräsentieren. Den ukrainischen Spitzenpolitikern fehlt (im Unterschied zu Putin) der Mut oder die Wählerzielgruppe hält sie davon ab, die Dinge beim Namen zu nennen, also die Existenz der riesigen, mehrere Millionen starken russischen Gemeinschaft und deren „Anhänger“ in der Ukraine anzuerkennen, von denen sich die Mehrheit, trotz angenehm auffallender Ausnahmen, an der Metropole mit ihrer totalitären Herrschaftsform, ihren antiwestlichen Phobien und ihrer ewigen Suche nach dem „eigenen Weg“ orientiert. Wenn sich ethnische Ungarn, Bewohner der Krym (Krim), Rumänen und andere Staatsbürger der Ukraine ihrer Situation entsprechend als Minderheiten positionieren, plädieren ethnische Russen in der Ukraine in Anbetracht ihrer Zahl und der Unterstützung durch Moskau für den Aufbau einer „dualistischen“ Ukraine, die ein Teil der „Russischen Welt“ sein und wo eine Bezeichnung der Russen als Minderheit zumindest zum schlechten Ton gehören soll. Auf der anderen Seite haben wir die paradoxe Situation, dass „ausgewiesene Patrioten“ mehreren Millionen Russen beweisen wollen, dass diese ihre „Muttersprache vergessen haben“. Ein klassisches Beispiel für eine solche Tätigkeit ist die spätere Politik Juschtschenkos gegenüber dem damaligen Oppositionellen Janukowytsch. Als Resultat daraus „haben wir das, was wir haben“.

Im Laufe der Unterzeichnung/Nichtunterzeichnung des Assoziierungsabkommens durch Janukowytsch gewann diese Problematik an Schärfe und die Ereignisse am Euromaidan ermöglichen bereits Schlussfolgerungen darüber, wie man die „Fliege“ vom „Kotelett“ fernhält. Dieses Fazit ist für derzeitige Politiker aber wieder ungeeignet, die jede Stimme auf die Goldwaage legen; darunter verständlicherweise auch jene des Schweizer Außenministers Carl Bildt, der die Ereignisse am Euromaidan als „Zusammenstoß von Europa und Eurasien“ bezeichnet hatte. Geografisch findet dieser Zusammenstoß in der Ukraine statt, es ist aber ein großer Fehler von der Ukraine als etwas in der Mitte „zwischen Ost und West“ zu sprechen, einen Dritten Weg zu suchen (in der Dritten Welt übrigens) oder zu versuchen, die „Russische Welt“ mit europäischen Wertvorstellungen in einem extra dafür gewählten Land zu vereinen. Ein weiterer Fehler ist die Annahme, „Eurasien“ wäre in diesem Kontext nur als ein ökonomisch-politisches Monstrum mit Putin an der Spitze anzusehen.

Der „Antimaidan“ verdeutlicht das Model der „russischen Ukraine“ in all seiner Schönheit. Es ist schwierig dieses Model nicht nur in einen gesamteuropäischen Kontext einzupassen, sondern auch damit zu verbinden, was wir (aus Westen und Osten) unter einer „ukrainischen Ukraine“ verstehen. Es geht nicht nur um die Frage der Bedauernswürdigkeit dieser „blauen Irrlichter“ oder um die Marginalität der Teilnehmer [des Antimaidans, A.d.Ü.], von denen kaum jemand älter als 35 Jahre wirkte. Jene Werte, die regierungsbefürwortende Politiker mithilfe des „Südens und Ostens“ bewahren wollen, lassen nicht den geringsten Zweifel lassen, dass die Abkehr von der Eurointegration nicht nur ein Mittel zur Aufrechterhaltung der unbegrenzten Macht des Präsidenten und seinem Gefolge war. Es geht vor allem um eine zivilisatorische Wahl zwischen Europa und Eurasien.

Davon zeugen auch die musikalische Gestaltung jener Veranstaltungen, die den Zickzackkurs des Präsidenten unterstützen, die Sankt-Georgs-Bänder der „Bürgergarde“ (die zum Großteil in prorussischen Regionen angeworben wurde und nicht in der gesamten Ukraine, wo man auch genug Gauner gefunden hätte) und die idiotischen Auftritte von „Politikern“, die nur mit analogen Meisterwerken im Nachbarland konkurrieren können. Immerhin ist die Gesellschaftsfrage dort ähnlich. Hier kann man auch die Positionen der boshaftesten Würdenträger der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchat hinzuzählen (z.B. die des Metropoliten Pawlo), die im scharfen Gegensatz zur Rhetorik der anderen ukrainischen Kirchen stehen. Das wird auch an den unterschiedlichen Rollen deutlich, die die Kirchhöfe des Michaels-Klosters und der Lawra in den letzten Monaten gespielt haben.

Nach der Räumung des Euromaidan in der Nacht auf den 30. November 2013 tauchte die These auf, dass nur ausländische Spezialeinheiten, russische Söldner z. B. so brutal hätten vorgehen können. Das heißt, dass es angeblich „nicht Unsrige“ waren, „die Eigenen“ hätten nicht so zuschlagen können. Alles ergab Sinn, als im Netz Informationen über „einen von uns“, sprich ein Spezialbeauftragter aus der Krym, glühender russischer Patriot und Fußballfan der mit einem zweiköpfigen Adler als Tätowierung auftauchte. Wie das Video vom 30. November beweist, ist er nicht allein „einer von uns“.

Klar, die Ukraine ist nicht Russland. Aber Russland ist in der Ukraine mehr als ausreichend vertreten und davor die Augen zu verschließen bedeutet einfach die Lösung der Probleme auf später zu verschieben. Russland wird nicht nur durch die eigenartige Vereinigung „Ukrainische Wahl“ (künstlicher Verein des ehemaligen Präsidialamtschef und Putin-Spezi Viktor Medwedtschuk, A.d.R.) vertreten. Russland strömt auch über das „Russische Radio“ in den überfüllten Lwiwer Sammeltaxis und den günstigen Fast-Food-Lokalen zu uns, es findet sich unter den höchsten Beamten, die den Präsidenten „Batja“ (Papa) nennen, im Streben um den Schutz der armseligen Stabilität und Gesetzlosigkeit vor der Bedrohung einer „Versklavung“ durch westliche Kapitalisten. Es ist in der Gleichgültigkeit gegenüber der Politik zu finden, die nicht als gemeinsame Sache verstanden wird, sondern als Privileg von Gottgeweihten.

Wie immer ist die Versuchung groß, das Problem zu vereinfachen und die politische Passivität in den östlichen und südlichen Gebieten mit Angst und ökonomischen Faktoren zu erklären, dass es z. B. leichter wäre, große Unternehmen zu kontrollieren, die Leute keine realen Beschäftigungsalternativen haben, weil alles von der Partei der Regionen kontrolliert wird, etc. Daraus lässt sich heraushören, dass sie dort den Euromaidan eigentlich unterstützen, sich aber fürchten, das laut zuzugeben. Und warum sollen sie auch etwas zugeben, wenn sie fest davon überzeugt sind, dass die Leute für die Teilnahme an den Protesten alle bezahlt werden? Außerdem sehen sie darin nichts Schlechtes, einfach „kleine Leute“? die das Recht haben bei den Protesten der ??„Großen“ etwas zu verdienen. Der übliche Blick eines gewöhnlichen Menschen in einem so demokratischen Land wie Russland, komischerweise gleichlautend mit der Position, die stur von den führenden russischen Medien vertreten wird, wenn es um die Ereignisse am Euromaidan geht.

Als Beispiel führe ich einen lustigen Vorfall an, der sich während eines Gesprächs zwischen zwei Frauen aus Cherson und Freiwilligen im Gewerkschaftsgebäude am Maidan zugetragen hat und dessen Zeuge ich zufällig wurde. Die beiden verwechselten wahrscheinlich die Treffen und versuchten sich für eine Gruppe anzumelden, die vor der EU-Vertretung demonstrieren wollten, weil man von der Bühne verkündet hatte, dass dort eine bezahlte Aktion stattfindet. Lange konnten die Freiwilligen ihnen nicht klar machen, dass sie dort kein Geld bekommen würden, und baten sie dann einfach, das Gebäude zu verlassen. Sie verließen den Raum aufrichtig empört und riefen auf Russisch „Wozu denn all diese Lügen?“.

Statt ohne Einhalt „Ost und West gemeinsam“ wie ein Mantra zu wiederholen und sich in glatten Phrasen zu üben, damit nur ja niemand angegriffen wird, müssen endlich einige Dinge genannt werden, welche die patriotischen Staatsmänner stur „nicht bemerken“.

Erstens, beschränkt sich der Einfluss Russlands auf die Ukraine nicht nur auf Gas, Zolltarife und die „Fünfte Kolonne“. Er ist viel größer. In der Gegenüberstellung „Das Volk für europäische Werte gegen den kriminellen Staat“ stützt sich Letzterer nicht nur auf grobe Gewalt, sondern auch auf eine beträchtliche Wählerschaft mit prorussischen Sympathien und antiwestlichen Phobien. Die Variante der Ukraine bei der Partei der Regionen ist ein eilig zusammengeklebtes Hybrid aus Kleinrussland und der ukrainischen Sowjetrepublik, mit einem dazu passenden Paket aus kulturellen Werten und einem Beziehungsmodell Mensch-Staat, in dem die Minderheitenrolle den Galiziern und anderen rein Ukrainisch Sprechern (mit ihrem heiligen Mykola (Nikolaus) anstelle von Väterchen Frost) zuteil kommt.

Zweitens, kann die Ukraine nur als Teil Europas erfolgreich sein – nicht „an der Grenze zweier Welten“, nicht „zwischen Ost und West“. Und wie schwierig es auch ist, das jemandem zu verdeutlichen – die Ukraine ist kein außergewöhnlich wichtiger Staat im Herzen Europas, sondern ein relativ rückständiges Land an ihrer östlichen Grenze. Und der aktuelle Ruf lautet für sie fortan „Weg von Moskau!“.

Drittens, braucht es für die Durchführung von Reformen oder das Rausführen des Landes aus der Krise nicht nur finanzielle Unterstützung durch den Westen, sondern auch organisatorische. Das ist keine staatliche Demütigung, wie verschiedene handelnde Figuren gerne betonen, das ist eine Einladung an Experten mit den jeweiligen Qualifikationen. Längst arbeiten Manager oder Fußballtrainer in der Ukraine auf diese Weise.

Viertens, ist der Glaube an die „neue Generation von Europäern“ nicht ganz objektiv. Schön wäre es, beobachten zu können, wie im Austausch zur älteren, sowjetischen Welt eine neue wunderbare Welt entsteht. Aber gemeinsam mit neuen „Europäern“ sind in der Ukraine auch neue „Berkut-Mitglieder“, „Tituschky“ [bezahlte Schläger, A.d.Ü.] und Anhänger der „Russischen Welt“ aufgewachsen. In der heutigen Realität bleibt nur, hinter denen den Marien-Park (beim Parlament in Kiew, A. d. R.) aufzuräumen und gelegentlich daran zu erinnern, dass Ost und West gemeinsam sind.

22. Januar 2014 // Teodor Spitjuk

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Nina Havryliv  — Wörter: 1509

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