1941, 2016: Der eigene und der fremde Krieg



Der 75. Jahrestag des Überfalls Deutschlands auf die UdSSR ist für uns wirklich kein bedeutendes Datum mehr. Der „Große Vaterländische“ existiert im ukrainischen Bewusstsein nicht mehr und der Zweite Weltkrieg begann nicht am 22. Juni 1941, sondern einiges früher.

Heute ist das für jeden vernünftigen Menschen offensichtlich und man kann es kaum glauben, dass bis vor kurzem dieses Konzept in der Ukraine mit der mythologisierten sowjetischen offiziösen Version konkurrierte. Besonders grell ist der Kontrast mit dem benachbarten Russland, wo diese offiziöse Version des Großen Vaterländischen Krieges sich in eine Art von Quasireligion verwandelt hat.

Offiziell den Krieg der Jahre 1941-1945 in den sowjetisch-deutschen Krieg umqualifizierend, begannen die Ukrainer auf ihn distanziert zu schauen.

Von der Sache her ist das ein eigentümliches Experiment, was vor sich geht, wenn im gesellschaftlichen Bewusstsein ein Krieg zum fremden wird. Worin unterscheidet er sich vom eigenen? Vergleichen kann man nicht nur mit der vorherigen Kriegsmythologie. Praktisch gleichzeitig mit der Entmythologisierung des Großen Vaterländischen Krieges kam in unser Leben der ukrainisch-russische Konflikt und dieser Krieg ist für uns der eigene.

Die deutlichsten Indikatoren, die mit der Wahrnehmung des Krieges verbunden sind, fallen sofort ins Auge.

Der erste von ihnen sind die Kriegsverbrechen. Indem der Kampf von Hitler mit Stalin zum fremden Krieg wird, können wir ehrlich und offen über die Plünderungen der Roten Armee oder die Gewalt der sowjetischen Kämpfer gegenüber den deutschen Frauen reden. Niemand wird mehr diese Exzesse negieren, oder rechtfertigen so wie in Russland, in dem das helle Antlitz der Großväter wütend verteidigt wird. Es hat keine Bedeutung, dass unsere Großväter ebenso in der Roten Armee dienten und dass es nicht weniger Ukrainer im besiegten Deutschland gab, als Vertreter anderer sowjetischer Nationalitäten.

Es kostete den Ersatz des „Großen Vaterländischen“ durch den sowjetisch-deutschen und wir wurden zu leidenschaftslosen Beobachtern. Für uns ist offensichtlich, dass während des Krieges beide Seiten Grausamkeiten verursachen, dass der heldenhafte Frontkämpfer ebenso ein Plünderer und Vergewaltiger sein kann und dass derart die raue Wahrheit des Lebens ist.

Doch beim eigenen Krieg funktioniert diese distanzierte Weisheit nicht. Soll nur irgendjemand versuchen darauf hinzuweisen, dass im Donbass nicht nur die prorussischen Kämpfer Kriegsverbrechen begehen und dass einige Geschichten über ukrainische Grausamkeiten dennoch wahr sind. Der Sturm negativer Emotionen wird in etwa der gleiche wie die russische Reaktion auf die Kritik an den Rotarmisten.

Ja, mit dem Verstande begreifen wir, dass unsere Armee nicht nur aus Engeln in weißen Handschuhen bestehen kann. Doch das Herz protestiert gegen jede Beschuldigung an die Adresse der ukrainischen Kämpfer. Denn der jetzige Krieg ist der eigene.

Ein anderer Indikator sind die Opfer. Wenn die Rede vom fremden Krieg geht, werden die Opfer vor allem mit der Zivilbevölkerung assoziiert. Das sind diejenigen, die unbewaffnet und schwach sind, die nicht an Kampfhandlungen teilnehmen und zu Geiseln der tragischen Umstände wurden. Frauen, Kinder, Alte. Die in Babyj Jar erschossen wurden, die bei Bombenangriffen umkamen, die an Hunger bei der Blockade von Leningrad starben.

Den Krieg der Jahre 1941-1945 nicht als den eigenen ansehend, schließen wir mutig in diese Liste die friedlichen Deutschen ein, die von Rotarmisten in Nemmersdorf (Ortschaft im heutigen Gebiet Kaliningrad, A.d.Ü.) umgebracht wurden oder der Flüchtlinge, die mit der Wilhelm Gustloff ertranken. Das umgekommene deutsche Kind oder die junge deutsche Frau wecken mehr Mitleid, als der getötete sowjetische Soldat. Wer auch immer mit wem kämpfte, aber das schutzlose Kind oder das zarte Mädchen sind kein kräftiger Kerl mit der Waffe in der Hand.

Doch im eigenen Krieg ist alles anders. Die Opfer des Krieges sind vor allem diejenigen, die bei der Verteidigung der Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine fielen. Junge und reife Männer in Tarnkleidung. Eben die Kampfteilnehmer beweinen wir in erster Linie, eben um sie trauern wir aufrichtig und diese Trauer wird nicht weniger davon, dass die Gefallenen keine schwachen und schutzlosen waren.

Die Hauptsache ist, dass sie unsere sind – Söhne, Väter, Ehemänner, Geliebte, Freunde.

Dagegen geraten die zivilen Opfer in der Ukraine in den Hintergrund.

In der Regel sind das Gewächse der uns fremden Watten-Umgebung (Watniki, ist ein zuerst von der russischen Opposition eingeführter abwertender Ausdruck für Putin-Anhänger in Russland, später insgesamt Anhänger der russischen Welt und der ukrainischen Separatisten, die vermeintlich nur aus den ungebildeten, armen Schichten kommen. Vergleichbar mit der deutschen Unterschichtsdebatte. A.d.Ü.) und um sie mit der ganzen Seele trauern, klappt nicht. Seien wir offen: Für den fanatischen Teil der Gesellschaft ist ein an der Front gefallener Freiwilliger eine größere Tragödie, als der Tod einer Frau, eines Kindes oder eines Alten während des Artilleriebeschusses von Donezk. Denn der jetzige Krieg ist der eigene.

Der dritte Indikator sind die Bewohner. Bodenständige, ideenlose, mit dem eigenen Überleben beschäftigte. Als der sowjetisch-deutsche Krieg zum fremden wurde, erlangte in unserer Gesellschaft die mitfühlende Beziehung zum einfachen Bewohner endgültig die Oberhand. Wir begreifen, dass die Kommunisten und Nazis kommen und gehen, doch irgendetwas essen muss man in jedem Regime. Und niemand wird mehr den armen Schlucker mit Schande überhäufen, der unter den Deutschen in der Fabrik arbeitete oder den Hitleroffizieren die Stiefel säuberte.

„Dem sowjetischen Verständnis nach waren die Menschen, die in den okkupierten Territorien blieben, keine Patrioten also keine Menschen“, dieser Ansatz, der vom Schriftsteller Anatolij Kusnezow beschrieben wurde, scheint uns unmenschlich zu sein.

Soja Kosmodemjanskaja, die eine Bauernhütte in einem besetzten Dorf anzündete, wird nicht mehr als Heldin angesehen. Und die Mobilisierung der „Schwarzjacken“ – Männer in den befreiten Territorien, die vom sowjetischen Oberkommando unausgebildet und unausgerüstet als Verbrauchsmaterial in den Kampf geworfen wurde, sieht wie ein Verbrechen aus. Denn die Schuld dieser Unglücklichen bestand lediglich darin, dass sie unter der Okkupation lebten!

Doch im eigenen Krieg gibt es keinerlei Nachsicht gegenüber dem einfachen Bewohner. Ein bedeutender Teil der Gesellschaft ist überzeugt davon, dass die Leute, die auf der Krim und im Donbass blieben, keine Patrioten sind und das bedeutet, dass sie kein menschliches Mitgefühl verdienen. Wenn sie leiden, so sind sie selbst schuld. Sogar wenn sie nicht zu den „Referenden“ gegangen sind und sich nicht in die „Landwehr“ eingeschrieben haben, sondern sich einfach nur der neuen Ordnung anpassten, bleiben sie dennoch passive Gehilfen des Feindes.

Und wenn im Laufe der Befreiung des Donbass jemand vorschlägt, die lokalen Männer zu mobilisieren und sie als erste in den Kampf zu werfen, wird diese Idee sicherlich heiße Unterstützung in den sozialen Netzwerken finden: „Richtig! Sollen sie anstelle unserer Jungs sterben! Sollen sie ihre Schuld gegenüber der Ukraine mit Blut abwaschen!“ In den Augen vieler Ukrainer würde so eine Entscheidung als gerecht angesehen werden. Denn der jetzige Krieg ist der eigene.

Aus allem obigen gesagten kann man zwei Schlüsse ziehen.

Erstens: Vor dem Hintergrund des Verständnisses der Geschichte erwies sich der Verzicht auf den „Großen Vaterländischen“ unbestritten als Segen.

Indem er zum fremden wurde, befreite sich der Krieg der Jahre 1941-1945 von den ungeschriebenen Tabus. Er wurde anschaulicher und eindrücklicher, dabei eine Vielzahl von Schattierungen und Halbtönen enthüllend. Doch die Hauptsache ist, dass der Krieg menschlicher wurde und anstelle von unnatürlichen Helden und Bösewichtern kamen lebendige Menschen mit ihren Sorgen, Schwächen, Leidenschaften, Tugenden und Lastern in den Vordergrund.

Zweitens: Kraft dieser Gründe ist es sinnlos an den derzeitigen Krieg mit allgemeinmenschlichen Maßstäben heranzugehen. Dabei kommt nichts heraus: Die gesamte intellektuelle und moralische Last, entnommen aus klugen Büchlein über fremde Kriege, wird nutzlos sein. Und man kann den Ukrainern nicht vorwerfen, dass die Vorgänge eben so aufgenommen werden und nicht anders. Der Appell an den Humanismus und die europäischen Werte wird nicht funktionieren, solange der Krieg der eigene ist.

Es kann passieren, dass die Kampfhandlungen im Donbass enden, Putin seine Seele dem Teufel übergibt, die Krim zur Ukraine zurückkehrt und die Veteranen der Antiterroroperation zu tiefsinnigen Greisen werden, doch im Massenbewusstsein wird der Krieg weiter der eigene bleiben – schwarz-weiß, eindeutig und gnadenlos.

Und niemand weiß, wie viel Zeit vergehen muss, bevor die Ukraine auf die derzeitigen Ereignisse mit Abstand schauen kann.

21. Juni 2016 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1314

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