25 Jahre ukrainische Außenpolitik: Die unaufhörliche Flucht aus dem „Sowok“
Die ukrainische Außenpolitik der letzten 25 Jahre kann mit dem anhaltenden Versuch, der Umarmung des „Sowok“1 zu entkommen, gleichgesetzt werden – zuerst aus der der UdSSR, dann aus der Russlands, um letzten Endes zur europäischen Familie zurückkehren zu können. Der Umsetzung dieses Plans stand immer wieder die Schwäche oder Unentschlossenheit der ukrainischen Regierung entgegen. Und als diese dann endlich die erforderliche Entschlossenheit zeigte, machten sich im Westen bereits Zweifel breit.
Vor 25 Jahren änderte sich die Situation grundlegend und erst jetzt konnte sich Kiew wie noch nie zuvor diesem Ziel nähern. Aber diese „Flucht“ ist noch nicht beendet – die Ukraine hat lediglich die ersten erforderlichen Schritte getan und die Grundlage für den weiteren Weg zum erwarteten Ziel gelegt.
Parallel zum Aufbau einer europäischen Ukraine muss diese gegen den heftigen Widerstand Russlands gegen den gewählten Weg kämpfen. Zudem mit einer gewissen Unentschlossenheit des Westens, die sich nach den unerwarteten Ergebnissen der Referenden in Großbritannien und den Niederlanden, dem Krieg in Syrien, dem Flüchtlingsstrom nach Europa und den Terroranschlägen verstärkte. Was im Übrigen auch nicht vollständig ohne Russlands Beihilfe geschah.
Im Folgenden versuchen wir, die Etappen der ukrainischen Außenpolitik der letzten 25 Jahre zu analysieren.
Die Epoche Krawtschuks (1991-1994)
Die wichtigste außenpolitische Aufgabe war für Leonid Krawtschuk zuallererst die zivilisierte, friedliche und gewaltfreie Loslösung von Russland. Um dann zum Zweiten die Weltgemeinschaft vom Existenzrecht einer unabhängigen Ukraine zu überzeugen und mit dieser über die Anerkennung der Unabhängigkeit zu verhandeln. In Kiew erinnert man sich nämlich noch sehr gut an die Worte des ehemaligen US-Präsidenten George W. Bush sen. vom 1. August 1991, als dieser die Ukrainer aufrief, nicht aus dem Bestand der UdSSR auszutreten, und das ukrainische Bestreben nach Unabhängigkeit als „selbstmörderischen Nationalismus“ bezeichnete. Wie auch an die Worte Margaret Thatchers, die die Unabhängigkeit der Ukraine mit der Loslösung Quebecs von Kanada gleichsetzte.
Um ersteres umzusetzen, fuhr Krawtschuk 1991 zu einem Gipfeltreffen der GUS – der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, mit deren Schaffung die UdSSR schließlich de facto aufhörte zu existieren. Allerdings hallten bestimmte Schwierigkeiten noch eine ganze Weile nach: auf der Krim gab es starke separatistische Tendenzen und Russland beanspruchte bis 1996 Sewastopol. Unter Krawtschuk begann auch die Aufteilung der Schwarzmeerflotte.
Unter Krawtschuk wurde 1994 zudem mit dem Budapester Memorandum ein weiterer wichtiger internationaler Vertrag unterzeichnet. Für den Nuklerwaffenverzicht seitens der Ukraine, garantierten die USA, Großbritannien, Russland und China die Sicherheit der Ukraine und verpflichteten sich die Unabhängigkeit und Integrität der Ukraine anzuerkennen. Genau dieser Vertrag erlaubte es der Ukraine, konstruktive Beziehungen zum Westen aufzubauen und von diesem finanzielle Unterstützung zu erhalten. Auch wenn die im Vertrag verankerten Ziele am Ende nicht umgesetzt werden konnten, da dieser von Russland gebrochen wurde.
Die Epoche Kutschmas (1994-2005)
Die Außenpolitik des über zwei Legislaturperioden regierenden Präsidenten Leonid Kutschma sah keine eindeutige Integrationsrichtung für die Ukraine vor. Er gilt als Vater der Vielvektorenpolitik – des politischen Lavierens zwischen Russland und dem Westen. Für ihn fingen die Probleme immer dann an, wenn er zu irgendeiner Richtung tendierte.
Kutschma wurde zunächst aufgrund seiner prorussischen Rhetorik als Präsident gewählt. Dadurch konnte er die Spannungen in den Beziehungen zu Russland verringern – die separatistischen Tendenzen auf der Krim beenden, die Aufteilung der Schwarzmeerflotte 1997 vollenden und schließlich 1997 den Vertrag über Freundschaft und Zusammenarbeit zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnen.
In den darauffolgenden Präsidentschaftswahlen 1999 gewann Kutschma bereits als prowestlicher Präsident. Unter Kutschma wurden die ersten Schritte Richtung NATO gemacht – die NATO-Ukraine-Charta unterzeichnet und auch die Grundlage für die zukünftige Annäherung an die Europäische Union gelegt.
Der prowestliche Kurs Kutschmas wurde allerdings durch verschiedene Skandale erschüttert: die bislang unbewiesenen Lieferungen des „Koltschuga“—Frühwarn-Radarsystems an den Irak trotz und an den Sanktionen vorbei führte zur internationalen Isolierung des ukrainischen Präsidenten. Die daraus resultierende Verschlechterung der Beziehungen zum Westen veranlasste Kutschma zu einer außenpolitischen Neuausrichtung in Richtung Russland. So kündigte er an, dem prorussischen Gemeinsamen Wirtschaftsraum beitreten zu wollen. Zudem strich er das außenpolitische Ziel einer NATO- und EU-Mitgliedschaft 2004 aus der ukrainischen Militärdoktrin. Mit der Begründung, dass diese Fragen nicht mehr aktuell seien.
Die Epoche Juschtschenkos (2005-2010)
Wiktor Juschtschenko, der im Zuge der „Orangenen Revolution“ Präsident wurde, richtete den außenpolitischen Kurs wieder Richtung Wesen und die NATO-Mitgliedschaft wurde zum primären Ziel der Staatspolitik. Diese Zielstrebigkeit wurde nicht belohnt: Auf dem NATO-Gipfel in Bukarest wird der Vorschlag eines Membership Action Plan für die Ukraine abgelehnt – auf beharrliches Drängen Putins, dem Merkel und Sakozy in die Hände spielten. Auch wenn die grundlegende Bereitschaft, die Ukraine in der Zukunft in die NATO aufnehmen zu wollen, im Abschlussdokument festgehalten wurde.
Juschtschenko unterstützte auch Georgien, als dieses von Russland überfallen wurde.
Dafür sah sich die Ukraine zum ersten Mal seit ihrer Unabhängigkeitserklärung einem großangelegten Angriff des Kremls aus allen Richtungen der ukrainisch-russischen Beziehungen konfrontiert und zwischen den Staaten herrschte bis 2010 das sogenannte „Jahrfünft des Hasses“.
Die Epoche Janukowitschs (2010-2014)
Die Präsidentschaft Wiktor Janukowitschs ist nichts weiter als der Versuch, die Vielvektorenpolitik Kutschmas fortzusetzen: Auf eine NATO-Mitgliedschaft wurde zugunsten Moskaus in Kiew verzichtet (weil keine wirtschaftlichen Vorteile zu erwarten waren), aber die Entwicklung in den Beziehungen zur EU blieben davon zunächst unberührt.
Im Resultat erklärte Janukowitsch die Ukraine zu einem blockfreien Staat und verlängerte den
Pachtvertrag mit Russland für die Schwarzmeerflotte auf der Krim um weitere 25 Jahre bis 2042 (Charkower-Vertrag von 2010).
Formal hatte der Kurs Richtung EU weiter Bestand. Aber drei Jahre später weigerte sich Janukowitsch zur Überraschung aller und auf Druck von Wladimir Putin, das Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU zu unterzeichnen. Das war ein Schock für die europäische Außenpolitik und führte auch in Kiew zu Massenprotesten. Nachdem die Sicherheitskräfte gegen die Protestanten Gewalt angewendet hatten, eskalierte der Konflikt – mehr als hundert Aktivisten starben durch Kugeln der Sicherheitskräfte des Janukowitsch-Regimes (der Nachweis wurde bisher nicht gebracht, A.d.R.). Janukowitsch selbst, der nach diesen Vorfällen Verhandlungen unter Vermittlung der EU-Länder sowie vorgezogenen Präsidentschaftswahlen zustimmte, floh dennoch nach Russland.
Die Epoche Turtschinows (23. Februar bis 7. Juni 2014)
Direkt nach der Flucht Janukowitschs begann Russland einen großangelegten militärischen Angriff auf die Ukraine: Zunächst besetzte es die Krim, danach förderte es Unruhen in den östlichen und südlichen Oblasten und im August 2014 entschied es, reguläre Militäreinheiten auf ukrainischem Gebiet einzusetzen.
Daher bestand die Aufgabe des amtierenden Staatsoberhaupts (Janukowitsch zog sich selbst von seinen Aufgaben zurück) Aleksander Turtschinow, der zugleich auch der Vorsitzende der Werchowna Rada war, in der Schaffung einer breiten internationalen Front zur Unterstützung der Ukraine bei ihrem Widerstand gegen die RF.
Ein wichtiger Schritt war auch die einseitige Aufkündigung der von Janukowitsch unterzeichneten „Charkower-Verträge“ durch Kiew. Daneben hat das Parlament eine Reihe von Gesetzen zur Vorbereitung der Einführung der Visafreiheit mit der EU verabschiedet.
Die Epoche Poroschenkos (Juni 2014 bis zum jetzigen Zeitpunkt)
Den auf dem Euromajdan durchgesetzten proeuropäischen Kurs der Ukraine setzte Pjotr Poroschenko, der mit großem Abstand die vorgezogenen Präsidentschaftswahlen für sich entscheiden konnte, fort. Er erklärte die Annäherung an die NATO zum strategischen Ziel und unterzeichnete auch die von Janukowitsch abgelehnten Abkommen zur EU-Assoziierung und Freihandelszone.
Seine Erfahrungen als Außenminister nutzend, schuf er eine internationale Staatenkoalition, die die Aggression Russlands nicht nur verurteilte, sondern auch wirtschaftliche Sanktionen gegen Russland einführte und die Ukraine in ihren Reformvorhaben unterstützte. Eine solche internationale Unterstützung hat die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit in dieser Breite noch nicht zuvor erfahren können.
Der Westen unterstützt die Ukraine finanziell, technisch, beratend und auch etwas militärisch. In der Ukraine arbeiten beratende Fachleute internationaler Organisationen und Länder, eine ganze Reihe von Ausländern mit weltweitem Ruf helfen bei der Umsetzung von Reformen, einige haben sogar die ukrainische Staatsbürgerschaft angenommen.
Die jetzige Regierungsspitze der Ukraine baut einen Staat, der die Integration in die westliche Staatengemeinschaft im Visier hat. Der Westen unterstützt demonstrativ diese Absichten.
Allerdings gibt es in der Praxis einige Einschränkungen – so beeilt sich Europa nicht damit, Visafreiheit zwischen der Ukraine und der EU einzuführen, egal, ob Kiew alle Bedingungen erfüllt hat oder nicht. Andererseits bleibt Kiew auf Armlänge von einer vollwertigen NATO-Mitgliedschaft entfernt, ersetzt diese mal mit durch eine „besondere Partnerschaft“, mal durch ein Paket zur Unterstützung der Reformierung des Sicherheitssystems. In der Europäischen Union die Aussicht auf eine vollwertige Mitgliedschaft laut anzusprechen, ist ebenfalls nicht Usus – um den mit Kiew sympathisierenden Regierungsspitzen in den EU-Ländern nicht in den Rücken zu fallen, da diese sich vor der wachsenden Zahl der Euroskeptiker rechtfertigen müssen.
Russland versucht dagegen, mit aller Kraft die in der Ukraine stattfindenden Veränderungen zu stoppen: indem es den Krieg im Donbass unterstützt, die Lage in der Ukraine mithilfe seiner Unterstützer destabilisiert oder interne Konflikte ausnutzt, aber auch, indem es einige Kräfte in Europa davon zu überzeugen versucht, die Ukraine nicht zu unterstützen. Bislang waren diese destruktiven Tätigkeiten nicht von Erfolg gekrönt, aber in Russland wird der Widerstand nicht aufhören, so lange die jetzige politische Elite im Kreml sitzt, die sich aus ehemaligen Geheimdienstlern zusammensetzt. Denn genau diese impfen den russischen Bürgern diese imperiale, militärische und aggressive Stimmung ein und stehen Transformationen innerhalb der RF entgegen. Und genau aus diesem Grund ist die Flucht der Ukraine aus dem „Sowok“ – aus dem russischen Einflussbereich – ohne die gemeinsamen Bemühungen der westlichen Staatengemeinschaft noch immer gefährdet.
1 „Sowok“ (dtsch. auch Schaufel, Kehrblech) = umgangssprachliche Bezeichnung für die ehemalige UdSSR, steht aber auch für Menschen mit sowjetischer Mentalität
24. August 2016 // Igor Solowej
Quelle: Lewyj Bereg