Awdijiwka. Hier leben Menschen


Eine zerstörte Stadt. Zersplitterte Fensterscheiben. Schmutzige und wütende Menschen. Eingestürzte Häuser und durchlöcherte Dächer. Vor dem Krieg hatte Awdijiwka 37.000 Einwohner – jetzt nur noch 7.000. Die Stadt stirbt aus. Die Separatisten schießen aktiv auf Wohnviertel und schlagen dabei noch zwei Fliegen mit einer Klappe – sie schießen von den Posten der ukrainischen Armee und machen den Bewohnern der Region weiß, dass vor allem ukrainische Soldaten für die Beschüsse von Schulen, Märkten und Wohnhäusern verantwortlich seien.

„Herzlich Willkommen in Awdijiwka, meine Damen und Herren!“, sagt Jura, einstmals aus Luhansk, jetzt „wilder Volontär“, und tritt vor der leeren Tram-Linie am Eingang der Stadt voll in die Bremsen.

In seinem Transporter sitzen sechs Leute, zwei Journalisten, drei Volontäre – Wolodja, Jura und Mascha, und der Kriegs-Kaplan des 20-sten Bataillons der 93-sten Brigade – Dmitrij Poworotnyj. Das Bataillon ist in Awdijiwka stationiert. Er ist auf dem Weg zu ihnen, mit adressierten Päckchen, aber auch mit rund einer Tonne Gemüse sowie Haltbarem von den Bauern aus Werchnjodniprowsk für die friedliche Bevölkerung.

„Es spielt keine Rolle, ob sie schuldig sind oder nicht, ob sie die russische Armee gerufen haben oder nicht. Es ist nicht an uns ein Urteil zu fällen. Unsere Aufgabe, als Christen, ist es zu helfen, alles zu tun, was wir können. Sie nicht auf der Stelle an Hunger sterben zu lassen. Die Spenden sammelten Werchnjodniprowsker Volontäre auf Bauernhöfen. Sie gingen von Tür zu Tür – fragten, wer kann etwas geben. So hat man eine Tonne gesammelt.“

Vater Dmitrij erreicht die Leute immer mit seinen Reden. Es gibt ein Video aus Krasnyj Partysan, in dem Vater Dmitrij die Körper der Soldaten der 20-sten einsammelt, mit zusammengebissenen Zähnen, und die ukrainische Flagge von einigen mit ihr überdeckten Körpern nimmt. Ihm gelingt es in wenigen Sätzen die Soldaten des Bataillons „Wostok“ zu überzeugen ihm dabei zu helfen, die ermordeten ukrainischen Soldaten in den Wagen zu heben.

Den Menschen hier ist Dmitrij kein Fremder, man lädt ihn ein, mit den Gästen gemeinsam Tee zu trinken.

Die Nachricht des Tages, die die Soldaten sofort kundtun, ist, dass Filippow in Freiheit ist. Filippow ist einer von ihnen, er wurde in eben jenem Krasnyj Partysan in Gefangenschaft genommen. Es waren mehrere. Darunter die, dessen Leichname Vater Dmitrij später einsammelte. Filippow brachte man nicht um, man hinterließ ihn quasi als Postkartengruß. Sascha, ein großer hagerer Kerl, ruft seine Frau an.

„Hallo, mein Hase, man hat mich freigelassen. Ja, heute. Alles ist gut. Ja. Ja. Alles ist gut, bald sehen wir uns“, ein langer emotionaler Monolog auf der anderen Seite. „Ira, Schatz, lass uns später reden, alles ist gut. Ja,“, am Ende lächelt Sascha Filippow, „ja. Ruf bitte Mama an. Gut, bis dann.“

Sascha möchte kein Interview geben.

„Entschuldigen Sie bitte, ich habe bereits für mein ganzes Leben genügend Interviews gegeben. Sie brachten mich täglich mehrmals auf allen Kanälen. Sie wissen ja, wie die Interviews führen.“

Sascha hatte Glück. Als man ihn auf allen russischen Kanälen zeigte, waren sie daran interessiert, ihn gut aussehen zu lassen.

Während Dmitrij eine Messe für die Soldaten hält, laden unten im Hof des Hochhauses die Volontäre die Spenden aus. Da kommt Wera. Eine Frau um die Fünfzig, blond und bescheiden. Sie ist geblieben, weil sie überzeugt ist, dass ihr Platz hier ist. Wenn die Bombardierungen anfangen und alle in die Keller rennen, zieht sich Wera schnell an und eilt hierher.

„Ich bin Krankenschwester. Wenn bei Bombardierungen die Ärzte nicht nachkommen, helfe ich ihnen. Sobald ich zum Beispiel die Liste mit Invaliden bekomme, gehe ich zu ihnen, um sie zu versorgen. Weihnachten, da hatten wir zwölf Menschen auf der Liste. Oder was es auch gibt, ich finde Menschen auf der Straße und bringe sie her, zu den Soldaten. Hier bekommt man immerhin etwas zu essen. Ich weiß nicht, was man woanders über humanitäre Hilfen erzählt, bei uns kommt jedenfalls nichts an. In den Geschäften gibt es fast nichts mehr, lediglich irgendwelche Reste. Nicht alle haben Geld, selbst für die Reste nicht. Meine Familie ist auch hiergeblieben. Mein Mann, meine Tochter. Wegen mir. Sie verstehen, dass ich nicht weggehen konnte, dass ich hier sein muss. Wera wohnt im Nachbar-Aufgang. Es ist ein Hochhaus, es hat fast keine Fensterscheiben mehr. Sehr wenige Leute wohnen noch da. Vor allem die, die aus irgendwelchen Gründen nicht wegkönnen – Alte, Invaliden, einsame Menschen.“

In der Stadt hat man angefangen die Türen der sich leerenden Wohnungen mit Kreuzen zu versehen. Es kommt vermehrt zu Plünderungen. Als Gegengewicht tauchen an den Wohnungen Zettel mit der Aufschrift auf: „Hier wohnen Menschen“. Ein besonders Einfallsreicher schrieb: „In dieser Wohnung können Sie Gymnastik machen“.

Ein beladener Mann kommt zu Wera, sie gibt ihm zwei Pakete Lebensmittel – süße Dosenmilch, Buchweizengrütze, Reis und Kekse. Das, was in Awdijiwka gerade nicht zu bekommen ist. Wera versucht ihn zu überreden sich bei den Soldaten etwas zu essen zu holen, aber dieser tritt verlegen von einem Fuß auf den anderen, nimmt die Pakete mit den Lebensmitteln und macht sich eilig auf den Weg. Ich muss ihm hinterherlaufen.

„Wera ist meine Nachbarin, sie hilft hier“, erzählt er schnell, ohne die Pakete auf dem Boden abzustellen, „und man hilft ihr, versorgt sie mit Essen. Sie sagt immer, los, gehen wir. Diese Lebensmittel hier hat sie mir gegeben. Ich bin mit meiner Frau und meiner Tochter geblieben, wegen Invalidität. Die beiden anderen Töchter habe ich nach Russland geschickt, der Invalide ist meine Tochter. So sind wir alle hier.“

„Warum gehen Sie nicht weg?“

„Da ist das Haus, Garage eins, Garage zwei. Gestern haben wir uns in der Garage versteckt, wir waren gerade drin, da fallen Splitter aufs Dach, tok-tok-tok – ganz leise konnte man es hören.“

„Und wenn Sie getroffen werden?“

„Dann werden wir getroffen. Was soll man denn tun, man kann nicht alles verlassen. Wir versuchen Essen zu bekommen, wo wir können.“

Am Aufgang wartet eine junge Frau. Um die Dreißig. Sie ging zielstrebig auf die Soldaten zu, um Lebensmittel zu holen.

„Ich komme einmal pro Woche hierher. Alle kommen her. Ich könnte weggehen, aber ich gehe nicht, weil es eine Frau gibt, die ich nicht allein zurücklassen kann, sie hat keine Papiere, nichts. Sie ist alt. Ich kann sie doch nicht einfach hier lassen.“

„Ist sie ihre Verwandte?“

„Nein, einfach nur eine Nachbarin.“

Die Volontäre gehen mit der jungen Frau zum Wagen, um ihr von den Lebensmitteln der Dnipropetrowsker Bauern zu geben.

Hier, im zerstörten Hof, stehen zwei alte Frauen. Eine erzählt Schauergeschichten von toten Menschen auf der Straße.

„Da ging er gestern Streichhölzer holen und fiel draußen tot um.“

„Weshalb?“

„Weiß ich nicht. – Er fiel um und starb, das ist alles. Wir riefen bei der Miliz an, sie kamen, warfen einen Blick auf ihn und fuhren wieder. Ich habe keine Ahnung, vielleicht liegt er immer noch da.“

„Aber woran ist er denn gestorben?“

„Vielleicht auch an Hunger. Woher soll ich das wissen. Vielleicht auch an einem Splitter.“

„Und wer bombardiert?“

Die Frau grinst erst unwillkürlich, als sie die Provokation spürt, dann verbirgt sie das Grinsen und sagt:

„Wer bombardiert, wissen wir nicht. Das ist uns nicht bekannt.“

Meine Kinder haben vor denen keine Angst

Auf einem anderen Posten der 20-sten machen die Soldaten Meldung von einem toten Separatisten. Mit einer halben Flasche Wodka in der Tasche, die wie es scheint nicht die erste an diesem Tag war, ging er einfach zum Checkpoint unserer Jungs und schrie, dass er einer von ihnen sei, er sei vom Bataillon „Wostok“. Ein Soldat, der nur an diesem Tag in der 20 war, sprang hervor. Der betrunkene Herausforderer spürte Unbequemes und schoss los. Der ukrainische Frischling hatte das Glück, dass eine Kugel querschlug, nachdem er den Wostok-Soldaten getötet hat. Seinen Papieren zufolge erwies er sich als gebürtig aus dem Rajon Petropawliwka, Dnipropetrowsker Oblast. Registriert in Dniprodserschynsk.

„Ha, er kam vom linken Ufer. Und weshalb blieb er nicht an seinem linken Ufer sitzen?“, kommentiert der Landsmann des Ermordeten aus der 20. die Papiere. Auch hierher kommt Vater Dmitrij und hält eine Messe. Weihwasser – aus einer Mineralwasserflasche. Alles unter freiem Himmel. Nach der Messe spricht er immer einige Worte zu den Jungs. Immer etwas besonders Wichtiges. Dieses Mal bittet er, menschlich mit den Leichnamen der Separatisten umzugehen.

„Das war`s, sein Krieg ist schon zuende. Schließen Sie ihm die Augen, richten Hände und Füße und umwickeln Sie den Körper. Tun Sie es nicht wie die Tiere.“

Es folgen einige kurze Besuche, Soldaten, eine Familie mit einem Neugeborenen. Während Vater Dmitrij beschäftigt ist, entdecken wir eine halbfertiggebaute Kirche. Eine große, aus Holz, an einer Quelle. Aus dem Wald kommt ein Mann in schmutziger Kleidung, mit einem Fünfliter-Kanister Wasser.

„Das ist eine besondere Quelle, sag` ich Ihnen. Wunderheiler waren da und alle haben das bestätigt“, erzählt Sascha.

Er ist hier fast der einzige Priester, der mit seiner Familie geblieben ist.


??„Und wohin sollte ich gehen? Würden wir dort jemanden finden, der uns hilft? Die Menschen fahren nach Krasnoarmijsk und kommen als Bettler zurück: Sie haben die Wohnung bezahlt und das Essen, haben keine Arbeit und kein Einkommen. Sie lassen dort all ihr Geld und kommen zurück. Meine Kinder sind zuhause, sie gehen nirgendwo hin. Und ich, ich komme manchmal hierher, zum Holzschlagen, nach der Kirche zu schauen, damit sie nicht geplündert wird. Der Priester bleibt zuhause, er sagt, es gibt keine Gemeinde, also auch niemanden, für den man eine Messe halten könnte. Aber wir gehen abwechselnd immer wieder vorbei und sehen nach dem Rechten.

Sascha fragt nach einer Zigarette. Die Volontäre geben ihm nicht nur Zigaretten, sondern auch Butterbrote – alles, was von den Hilfslieferungen noch geblieben ist.

„Ich will es so ausdrücken: großen Dank an die ukrainischen Streitkräfte. Ich weiß, was ich sage. Diese Burschen aus der 93-sten und 37-sten Brigade, kaum stehen sie irgendwo, in Luhansk, in Mariupol, sie finden immer die Zeit und rufen an; das erste, was sie taten, war, den Kindern Bonbons, süße Dosenmilch und Kekse mitzubringen. Wie kann so ein Mensch schlecht sein? Meine Kinder haben keine Angst vor ihnen. Sie stoßen meinen Kindern nicht mit Maschinengewehren ins Gesicht, ihre Hände winken ihnen vom Schützenpanzer. Und sie schenken ihnen Bonbons. Wir haben gelernt das Gute und das Böse derart zu unterscheiden. Dafür muss man kein verschraubter Intellektueller sein.“ Sascha hinterlässt den Volontären seine Adresse in Awdijiwka. Beim nächsten Mal wird er auch ein adressiertes Päckchen bekommen.

Russische Welt

Als sich der Transporter für den Rückweg bereitmacht, räumen die Übrigen behelfsweise die Trümmer der zerstörten Häuser vom Gelände. Aus dem noch unversehrten Hof gegenüber kommt ein Mann mit einer Flasche Wodka und ruft:

„He, Sie! Das ist, was Ihr anrichtet?! Schämen Sie sich nicht?!“. Er ist um die Sechzig. Er ist betrunken.

„Das machen nicht wir, das macht Ihre russische Welt!“, antwortet der Priester schroff und dann steigen alle schnell in den Wagen und fahren los.

Auf dem Gelände des Wohnhauses spielen Kinder. Man hört das Donnern der GRAD-Raketen. Hier sind überhaupt die ganze Zeit Schüsse zu hören. Nach einigen Stunden fängt man an zu unterscheiden, wann sie von einem wegfliegen und wann sie auf einen zukommen. Die Anwohner sagen, dass die Kinder sogar GRAD von schwerer Artillerie, Mörser von Panzerbeschüssen unterscheiden können. Mit den Kindern lässt man uns nicht sprechen, sie sagen, sie haben es eilig, man müsse noch die Soldaten zum Krankenhaus bringen. Aber dann steht plötzlich das Zentrum unter Beschuss. Vor unseren Augen fliegt eine Rakete ins Dach eines fünfstöckigen Hauses. Der Fahrer gibt Vollgas, aber niemand kann die Augen von dem schrecklichen Schauspiel abwenden.

„Da sieh sich das einer an, da, und es heißt, dass unsere bombardieren!“, empört sich Vater Dmitrij. „Auf sich selbst, genau!“

Die Soldaten geben uns Unterschlupf, bieten uns Kaffee und Käse an. Aleksander holt die Karte von Awdijiwka hervor. Vor dem Fenster wird geschossen.

„Hört sich an wie ein Panzer“, sagt Aleksander, „da, hier, diese Straße wird beschossen, dieses fünfstöckige Haus haben sie eben getroffen. Und hier in diesem Wohnviertel schießen sie ständig. Schule, Markt, Wohnhäuser. Und reden den Anwohnern ein, dass wir sie beschießen würden.“

An allem ist das russische Fernsehen schuld, davon sind die Soldaten überzeugt. In Awdijiwka gibt es seit zwei Wochen keinen Strom. Vielleicht dauert es noch lang genug an, sodass die Leute zu sich kommen.

10. Februar 2015 // Soja Lukjanowa

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Wenke Lewandowski  — Wörter: 2030

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