Beichte der Enttäuschten
Das dritte Jahr in Folge werden die sozialen Netzwerke zu Beichtstühlen. Menschen schreiben darüber, dass ihr Traum verraten und zertrampelt wurde. Dass es nicht zu augenblicklichen Änderungen kam. Dass die Ideale des Maidans an den Rand gedrängt wurden. Dass die Politiker stehlen und die Staatsangestellten sabotieren. Und jeder dieser Beiträge deckt in seinen Autoren einen Menschen auf, der daran glaubt, dass die Geschichte eine Zusammenstellung von Daten und Ereignissen ist.
Obgleich die Geschichte tatsächlich eine Logik von Prozessen ist, die aufeinanderfolgend wie die Jahreszeiten sind. Und wenn die Geschichte uns eines lehrt, dann ist das die Unmöglichkeit sich selbst zu überlisten.
Der ukrainische Maidan war keine Revolution einfach deswegen, weil Revolutionen nicht nur eine klare Tagesordnung haben, sondern auch Menschen, die diese anschließend umsetzen. Doch der ukrainische Maidan war eher ein Aufstand gegen den Versuch der Usurpierung der Staatsmacht. Doch eine Vereinigung nach dem Prinzip „dagegen“ ist nicht das Gleiche, wie eine Vereinigung nach dem Prinzip „dafür“. Und daher ist alles, was heute in der Ukraine vor sich geht absolut gesetzmäßig.
Man kann die Lebensumstände im Land ändern, doch ist eine schnelle Änderung der Gesellschaft nicht möglich. Wir urteilen oft über das Land nach dem Facebook-Auditorium, doch ist das ein Trugschluss. Die Ukraine der sozialen Netzwerke stand auf dem Maidan, schrieb sich in die Freiwilligenbataillone ein und half als Freiwilliger der Front. Doch ihr Anteil kommt kaum über die angenommenen 15 Prozent hinaus. Und um diese Wählerschaft kämpfen heute mindestens drei Parteien.
Und das gesamte übrige Land möchte Einfaches und Verständliches: ein Ende des Krieges, ein Auskommen und Vertrauen in die Zukunft. Das Problem liegt darin, dass in einem kämpfenden Land all diese Dinge, genau so eine Utopie sind, wie auch der Traum von der augenblicklichen Transformation des Staates. Und in diesem Sinne kommen die Leute vom Maidan und die vorm Fernseher zusammen. In ihren überhöhten Erwartungen.
Einerseits schaffen genau die überhöhten Erwartungen eben jene Ansprüche, die das Land zur Fortentwicklung zwingen. Doch in dem Moment, wenn die überhöhten Erwartungen aus dem Raum der strategischen Planung in den Raum der taktischen Erwartungen wandern, beginnt die Frustration. Die eine Sache ist es dahin zu streben, dass die Ukraine in irgendeinem Moment der Europäischen Union beitreten kann. Aber etwas ganz anderes ist es darauf zu hoffen, dass dies in ein paar Jahren geschieht.
Dieselbe Idee der Eurointegration wird in vielem zur Geisel dieser Erwartungen. Die Gesellschaft ist heterogen. Für die einen sind diese Ideale für sich wertvoll, aufgrund des allgemeinen Geistes der Freiheit, mit dem sie getränkt sind. Doch für andere sind sie Instrumente und werden in erster Linie als Mittel zur Erreichung der „europäischen Lebensqualität“ gesehen. Doch darin liegt auch das Problem, dass nicht eine allgemeine und universelle „Lebensqualität“ für den gesamten europäischen Kontinent existiert.
Wir vergleichen die Ukraine oft mit Polen, stellen Löhne, soziale Garantien, die Qualität der Medizin und der Bildung gegenüber. Der westliche Nachbar wird in diesem Kontext üblicherweise als ein gewisses Vorbild für die Nachahmung serviert, als ein Rollenmodell, dem es zu folgen gilt. Doch dabei herrscht in eben jenem Polen (wie auch in vielen anderen Ländern Osteuropas) genau die gleiche Frustration darüber, dass Westeuropa für sie ein unerreichbares Ideal bleibt.
Und das ist legitim. Deutschland oder Großbritannien bleiben die Länder, in welche die Polen selbst zum Geldverdienen ausreisen. Und auf die freigewordenen Plätze kommen Ukrainer arbeiten. Und ungeachtet all des polnischen Wohlstands ruft der unvermeidliche Rückstand des östlichen Europas hinter dem westlichen genau die gleiche Müdigkeit und Gereiztheit hervor. Als Folge dessen erringen National-Populisten bei Wahlen in diesen Ländern den Sieg, deren Enthusiasmus lediglich die europäische Bürokratie bremst.
Und daher muss man sich darüber im Klaren sein, dass die Ukraine selbst im Falle des Erfolgs der Reformen niemals zu Deutschland wird, wie auch Polen nicht zu Deutschland wurde. Wenn morgen wie durch Zauberei gerechte Gerichte, effektive Rechtsschützer und ein verantwortungsvolles Parlament auftauchen, werden wir trotzdem nicht zu regionalen Führern auf dem Kontinent.
Mehr nach werden all diese erwünschten Neuanschaffungen aus der Ukraine nicht einmal ein zweites Polen machen. Erstens ist viel zu viel Zeit vertan worden. Zweitens wird nicht wenig Zeit für die kapitale Überholung der Staatsmaschinerie vergehen. Drittens, weil es keine Wunder gibt, um zu Südkorea oder Finnland zu werden, braucht es jahrzehntelange harte Arbeit. Und viertens hat den Krieg niemand abgebrochen: wir werden trotzdem viel für die Armee aufwenden und die Investoren werden die Risiken akribisch abwägen.
Das optimistischste Szenario unserer Zukunft ist es zu Rumänien zu werden. Ebenso übrigens ein orthodoxes Land mit einer langen Korruptionsgeschichte, das nach und nach die Ineffizienz aus sich herauspresst. Und wenn Ihnen scheint, dass das nicht das ist, was die Ukraine verdient, heißt das, dass Sie ebenso von den europäischen Werten enttäuscht sein werden, wie vom Maidan. Denn die Realität hat nichts mit ihren Ambitionen zu tun, wenn diese durch nichts untermauert sind.
Unsere Frustration ist lediglich der Nichtwunsch die Veränderungen zu reflektieren. Dieselben, die in der Gesellschaft und im Land in diesen drei Jahren vor sich gingen. Die Nichtbereitschaft die Realität der Tagesordnung gegenüberzustellen, die in der Ukraine vor tausend Tagen herrschte. Wir haben alle vom Maidan Schnelles und Plötzliches erwartet – schnittartige Reformen, totale Personalwechsel, eine schnelle Änderung der Regeln. Doch haben wir die Tiefe des Problems und die Größe der Herausforderungen nicht berücksichtigt.
Und das Problem liegt weniger in der Realität, als vielmehr unseren Erwartungen an diese. Im Nichtwünschen zuzugestehen, dass der Entscheidungshorizont einiger Probleme länger sein könnte, als wir es uns wünschen. Dass ehrgeizige Ziele von einer realistischen Bewertung der Zwischenresultate begleitet sein sollten.
Das beste Mittel nicht enttäuscht zu werden, ist sich nicht blenden zu lassen. Nur im Märchen liegt Ilja Muromez 33 Jahre lang auf dem Ofen und bekämpft dann die Feinde. In der Realität heilt er zuerst Druckgeschwüre und Ernährungsstörungen.
25. März 2017 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda