Bericht über die Diskussion "Ein Abend mit ukrainischen Menschenrechtlern über die Verletzungen von Menschenrechten und des Völkerrechts in der Ostukraine", Berlin, 28.07.2015



Im Rahmen eines Projektes des Deutsch-Russischen Austausches, hat eine Gruppe ukrainischer Menschenrechtler Ende Juli Berlin besucht, um über ihre Arbeit sowie die in der Ostukraine stattfindenden Menschenrechtsverletzungen zu berichten. Nach Angaben der UNO sind bis Juni 2015 über 6.000 Menschen in den Auseinandersetzungen in der Ostukraine getötet worden, 15.000 wurden verletzt. 1,5 bis 2 Millionen Menschen sind von den Kriegsgeschehnissen innerhalb des Landes geflohen, eine weitere Million Menschen in die benachbarten Länder. Laut Menschenrechtlern wohnen noch 200.000 – 300.000 Menschen in der Nähe der Frontlinie. Trotz dieser bekannten Zahlen wird die Lage in der Ukraine sehr selten als das bezeichnet, was es eigentlich ist: „ein russischer Krieg in der Ukraine“. Man spricht jedoch immer noch von einem „Ukraine-Konflikt“, obwohl längst wirklicher Krieg herrscht. Dies sollte sich ändern. „Dinge beim Namen zu nennen“ und den Kampf für europäische Werte „ohne wenn und aber“ zu unterstützen waren einige der Hauptappelle der Menschenrechtler an dem Abend.

Wolodymyr Schtscherbatschenko stammt aus Luhansk und musste wie viele Menschenrechtler aus seiner Heimatstadt fliehen. Seit die Stadt okkupiert wurde, ist es für die Aktivisten dort gefährlich geworden, sich in der Stadt aufzuhalten und zu arbeiten. In Luhansk leitete er die NGO „Ostukrainisches Zentrum für zivilgesellschaftliche Initiativen“, die sich mit dem Zugang zu Unterlagen im Bereich Stadtentwicklung beschäftigt und nun nach Kyjiw übergesiedelt ist. Auf dem Podium stellte er die Koalition aus zivilgesellschaftlichen Initiativen „Justice for peace in Donbas“ vor. Diese Koalition hat das Ziel, Menschenrechtsverletzungen im Donbass zu dokumentieren und besteht zurzeit aus 14 Menschenrechtsorganisationen, darunter das Projekt „No Borders“ des „Social Action Centers“, das „Center for civil liberties“, „Postup“, „Wostok SOS“ und weitere.

Nach Angaben von Schtscherbatschenko ist der Hauptunterschied der Menschenrechtsverletzungen in den von der Ukraine kontrollierten Gebieten und in den okkupierten Regionen der Ostukraine die Tatsache, dass es in der Ukraine Mechanismen gibt, mit denen Menschenrechtler auf die Situation einwirken können. Dagegen funktioniert in den okkupierten Gebieten das Recht an sich nicht mehr, die Menschenrechte werden außer Kraft gesetzt. Menschen, gegen deren Rechte verstoßen werden, haben keine Möglichkeit, sich mit einer Beschwerde an irgendeine Stelle zu wenden. Beschwerden an internationale Organisationen sind nicht wirkungsvoll. Hoffen können sie allein auf ihr Glück.

In den okkupierten Territorien der Ostukraine wurden Folterkeller eingerichtet. Nach Schätzungen der Menschenrechtler haben bereits 10.000 – 15.000 Menschen Folter erlitten. Zum Beispiel ist der Keller der „Ostukrainischen Universität“ in Luhansk zu einem solchem geworden. Es sind Fälle von Hunger in den psychiatrischen Anstalten bekannt, auch in den Städten, die von der humanitären Hilfe nicht erreicht werden, wird gehungert. Die Ukraine hat gegen Russland zwei Anträge beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gestellt, die derzeit bearbeitet werden.

Schtscherbatschenko unterstrich, dass es seiner Meinung nach, keine Gründe für einen zivilen Konflikt in der Ostukraine gegeben hat. Ein solcher ist neu für diese Region und kam erst im Frühling 2014 in die Region.

Dies bestätigte ebenso Kostjantyn Reuzkyj, der fast sein ganzes Leben in Luhansk verbracht und dort u.a. die Menschenrechtsorganisation “Postup” gegründet und koordiniert hat. Während des Euromaidans organisierte er zusammen mit anderen Aktivisten die Maidan-Proteste in Luhansk und war in die Geschehnisse nach dem Machtwechsel in Kyjiw direkt involviert.

Reuzkyj führte Gespräche mit den Demonstranten, die sich in März-April 2014 zu Protesten gegen die neue Kyjiwer Regierung in Luhansk versammelt hatten. Die Forderungen dieser Protestierenden waren sehr ähnlich wie die auf dem Maidan: Gerechtigkeit, Möglichkeit ein wohlhabendes Leben zu führen und auf die politischen Prozesse im Land Einfluss zu nehmen. Als Gespräche zwischen den beiden „Lagern“ in Luhansk im Frühling 2014 erfolgreich abgeschlossen wurden und die Kyjiwer Regierung bereit war, die Forderung der Demonstranten zu erfüllen so dass klar wurde, dass die Proteste aufhören würden, tauchten auf den Luhansker Straßen ab Ende April 2014 Söldner aus Russland auf. Daraufhin trat der Konflikt zum ersten Mal in eine blutige Phase. Die regionalen Eliten verloren die Kontrolle über die Situation. Später kamen immer mehr reguläre russische Einheiten sowie Waffen aus Russland ins Land, bewaffnete Gruppen okkupierten Teile der Donezker und Luhansker Gebietes. Reuzkyj schätzte die Zahl der verschiedenen Separatistengruppen, die zum Septemberanfang 2014 in der Ostukraine agierten, auf 50. Diese hatten jedoch unterschiedliche Größen – von ein paar Personen bis zu einigen tausend Menschen. Nicht alle dieser Gruppen waren bereit, den Befehlen des Kremls zu folgen, einige Gruppen haben sich auch der Kontrolle Moskaus ganz entzogen. Mittlerweile hat der Kreml jedoch die am meisten „störenden“ Akteure „neutralisieren“ können und auch diese Gruppen unter seine Kontrolle gebracht. Reuzkyj unterstrich den künstlichen Charakter der Staatsgebilde auf den okkupierten Territorien: die sogenannten „Donezker und Luhansker Volksrepubliken“ verfügen über keine ausgearbeitete ideologische, politische und wirtschaftliche Plattform.

Wegen dieser Geschehnisse siedelte Reuzkyj ebenso wie Schtscherbatschenko nach Kyjiw um, wo er zusammen mit den anderen Aktivisten die Initiative „Wostok SOS“ gegründet hat, die Binnenflüchtlingen auf unterschiedliche Weise hilft: im Jahr 2014 haben sie 25.000 Anfragen von Binnenflüchtlingen bearbeitet und Menschen in ihrem Leben geholfen.

Switlana Walko stammt aus der Südukraine und arbeitet für die NGO „International Partnership for Human Rights“, eine Organisation mit Büro in Brüssel, die sich auf das Monitoring und Interessenvertretung bezüglich Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine und Asien spezialisiert. Sie unterstützt Menschenrechtler in den jeweiligen Ländern und hilft ihnen, internationale Aufmerksamkeit für Menschenrechtsverletzungen in ihren Ländern zu bekommen. Walko berichtete, dass in ihrer Organisation eine Feldmission zur Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ostukraine eingerichtet wurde, die aus russischen und ukrainischen Menschenrechtlern besteht. Sie führte bis zum heutigen Zeitpunkt (28.07.2015) 25 Feldreisen in die Ostukraine durch und hat Zeugen befragt sowie Beweise der Verbrechen gesammelt. Ab Januar hat sich ihr Fokus auf die Dokumentation des Einsatzes von verbotener Militärtechnik sowie von nicht gezielten Beschüssen gerichtet. Bei solchen Beschüssen handelt es sich um Artillerieeinsatz, der weit von militärischen Objekten stattfindet und die Zivilbevölkerung trifft. So gab es zum Beispiel beim Beschuss der Stadt Mariupol durch pro-russische Kämpfer Schüsse auf scheinbar militärische Objekte, die aber Wohngebiete trafen und zum Tod von 31 Personen (darunter zwei Kindern) führten. Auch vorige Woche gab es einen intensivierten Beschuss der Städte. So wurden zum Beispiel am 17. und 18. Juli Wohngebiete der Stadt Awdijiwka beschossen. Schätzungsweise kämpfen 30.000 Menschen in der okkupierten Ostukraine. Man kann sie in folgende Gruppen aufteilen: „einfache“ Kämpfer, reguläre russische Armeeeinheiten, freiwillige Kämpfer aus anderen Ländern, wie zum Beispiel die „Interbrigade“, die aus Franzosen, Tschechen, Slowaken besteht. Die „Interbrigade“ verfügt über eine eigene Web-Seite, ihr Zentrum befindet sich in Moskau.

Was Menschenrechtsverletzungen in der Ostukraine betrifft, so sprach sie von einer Relation 90 zu 10, wenn man die Verbrechen und ihre Intensivität von den pro-russischen Kämpfern (90 Prozent) mit denen von den ukrainischen Einheiten vergleicht (10 Prozent).

Ein weit verbreitetes Menschenrechtsverbrechen ist Kidnapping. Switlana Walko unterschied vier Typen der Gefangennahme, die von pro-russischen Kämpfern praktiziert werden:

Gesondert listete sie Menschenrechtsverletzungen auf, die mit der Religion zu tun haben. Sie zitierte dabei eine Untersuchung des „Center for civil liberties“ vom April 2015. Nach 1,5 Jahren sind alle Konfessionen auf den okkupierten Gebieten, die nicht der Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats angehören, vertrieben worden. Ihre Häuser wurden beschlagnahmt, ein Priester und seine Kinder wurden sogar getötet; andere sind gefoltert worden.

Ein weiteres gravierendes Menschenrechtsverbrechen sind außergerichtliche Hinrichtungen seitens der pro-russischen Kämpfer. Auf den okkupierten Territorien finden keine ordentlichen Gerichtsverfahren statt, bisweilen entscheidet eine Gruppe aus drei Personen über Leben und Tod. Erschießungen werden vorgenommen wie im Dorf Peremoschne, wo eine ganze Familie erschossen wurde, weil sie unter Verdacht stand, die ukrainische Armee zu unterstützen. Darüber hinaus wurde und wird immer noch gezielt gegen Journalisten und Medien vorgegangen. Die meisten TV-Redaktionen sind zerstört, Journalisten wurden verhaftet oder gefangen genommen, wie bspw. Marija Warfolomejewa, die für ihre Fotos aus der Stadt Donezk sich bereits seit einem halben Jahr in der Gefangenschaft der pro-russischen Kämpfer befindet. Ihr drohen 15 Jahre Haft in der „Luhansker Volksrepublik“. Während es in der „Donezker Volksrepublik“ zumindest ein System der Akkreditierung (auch ausländischer) Journalisten gibt, so findet in Luhansk die Arbeit in einer Grauzone statt.

Nach der Frage des Moderators, was sich die Podiumsteilnehmer von der europäischen Öffentlichkeit, insbesondere in Deutschland, wünschen, betonte Jewhen Sacharow (Charkiwer Menschenrechtsgruppe), dass es sehr helfen würde „die Dinge beim Namen zu nennen“. Die Ukraine, so Sacharow, kämpft gerade für ganz Europa und verteidigt an ihrer östlichen Grenze europäische Werte. In Europa müsse diese Tatsache verstanden werden. Das Abkommen Minsk II wird von der russischen Seite nicht eingehalten. Die Ukraine kann in diesem Konflikt allein keine Lösungen finden, die Situation wird sich nicht von allein erledigen. Die Ukraine braucht Unterstützung von Deutschland und mehr Empathie.

Kostjantyn Reuzkyj trat mit einem Appell auf, sich mehr für die Belange der Binnenflüchtlinge zu interessieren, die Ukraine erlebt die größte Welle von Binnenflüchtlingen im Nachkriegseuropa. Diese brauchen Wohnungen und Arbeit. Dabei werden sie derzeit von NGOs unterstützt, das kann jedoch nicht ewig so weitergehen. Deutschland tut bereits viel in dieser Hinsicht, aber es ist immer noch nicht genug. Die deutsche Zivilgesellschaft soll ebenso Druck auf die ukrainische Regierung ausüben, damit die benötigten Reformen vorangehen.

Oleksandra Bienert, PRAVO. Berlin Group for Human Rights in Ukraine

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