Lug, Betrug und Angst


Kürzlich veröffentlichte ein hoher Moskauer Beamter in der Presse einen Artikel, in dem er die gnadenlose Wahrheit über den Arzneimittelmarkt in Russland darlegte. Über die Arzneimittel, die nicht die geringste Heilwirkung haben, die zwar vehement beworben werden und jedem russischen Bürger zugänglich sind, doch offenkundig vollkommen wirkungslos sind. Erstaunlicherweise wurde dieser dem Amt für Arzneimittel vorstehende Beamte nicht seines Amtes enthoben. Und auch nicht vor seiner Haustür erschossen. Gesund und munter kämpft er weiterhin, nach seinen Möglichkeiten, für einen sauberen und transparenten Arzneimittelmarkt in Russland.

Hier in der Ukraine sehen die Umstände schon anders aus. Bei uns veröffentlicht kein Beamter derartige Informationen, es herrscht Grabesstille, und auf dem ukrainischen Markt regiert Lug und Betrug. Es gibt viele schön verpackte Mittelchen, unzähligen Mogelpackungen, die keinerlei Heilwirkung haben, dazu nicht einmal immer unschädlich sind. Auch hier bei uns gab es einen Wagemutigen, der die Courage hatte, die Wahrheit beim Namen zu nennen. Die teilte er zwar nicht der Zeitung mit, dafür Präsident Juschtschenko und Premierministerin Timoschenko. Übrigens auf deren hohe Weisung hin. Es handelt sich um einen in Mitarbeiter des ukrainischen Geheimdienstes, einen Romantiker, der an die Aufrichtigkeit ihres Interesses glaubte. Für seine Naivität musste er zahlen, er wurde im wahrsten Sinne des Wortes in die Luft gesprengt. Ihn rettete nur ein Auto, das den Hauptteil der Explosion abfing. Bis heute befindet er sich wegen seines Beines in ärztlicher Behandlung.

Präsident Janukowitsch gab die Anordnung, bei den Medikamenten für schwerkranke Kinder Ordnung zu schaffen. Es ist ja eigentlich ganz einfach. Wir leben im Jahr 2012, überall gibt es Standardverordnungen, die für alle Ärzte gelten. So auch bei uns – theoretisch. In der Realität jedoch haben wir nur wenige wirksame Arzneimittel in der Ukraine. Sie werden weder angeliefert noch verkauft. Wohlhabende (d.h. sehr wohlhabende) Eltern fliegen nach Deutschland, Israel oder Österreich und führen die notwendigen Medikamente für ihr Kind illegal ein. Aber was können die tun, die nicht wohlhabend sind, und das ist die überwiegende Mehrheit? Es ist bekannt, was. Irgendwelche Präparate aus der Region nehmen, die von den lokalen Ärzten verschrieben werden und wofür diese für jede verkaufte Flasche eine Art Provision bekommen. Und an die wundersamen Kräfte von Delfinen und Pferden glauben. Unser naiver Präsident ist immer noch davon überzeugt, dass seine Anordnung etwas bewirken könnte. Aus einem persönlichen Gespräch mit ihm weiß ich, dass er aufrichtig daran glaubt. Vor einigen Tagen hat der ukrainische Vizepremierminister Tigipko in einer politischen Fernsehshow öffentlich versprochen, dass in Zukunft Gelder für kostenfreie Delfintherapie und vieles andere zur Verfügung gestellt werden. Das hat er tatsächlich gesagt. Er muss garstige Berater haben; so etwas kann man nur einem Feind empfehlen. Ich bedauere Sergej Leonidowitsch Tigipko, ich kenne und achte ihn und frage mich, wie er, als Finanzfachmann, auf so etwas kommt. Das kann er sich unmöglich selbst ausgedacht haben, das kann nur ein Rat jener „zuvorkommenden“ Menschen gewesen sein. Die Delfine und ihre Besitzer erhalten Geld, aber für die kranken Kinder bleiben es die gleichen teuren und sinnlosen Medikamente, die in keinem anderen Land auf der Welt zur Standardbehandlung gehören.

Gelegentlich kommen Eltern schwerkranker Kinder zu mir. Sie fragen mich um Rat. Zumeist handelt es sich um Eltern mit sehr wenig Geld aus der ukrainischen Provinz. Sie wollen wissen, wer Recht hat: der verehrte Professor oder das Internet. In der Regel sage ich die Wahrheit: „Ein Wunder brauchen Sie nicht zu erwarten, das ist nun Ihr Schicksal. Sie haben die Chance zu lernen, Ihr Kind bei sich selbst zu betreuen. Bei Ihnen, nicht den Delfinen oder Pferden. Sie haben nun mal wenig Geld. Ihnen bleibt die Wahl, entweder Ihr Einkommen für ihr Kind auszugeben oder den Ärzten oder Delfindresseuren zu geben, mit anderen Worten, ihr Geld deren Kindern zu geben. Diese Entscheidung nimmt Ihnen leider keiner ab.“ Aber ich erzähle nicht alles, sage nichts davon, dass in anderen Ländern für die Nichteinhaltung der Arzneimittelstandards der Arzt verantwortlich gemacht werden kann, sogar strafrechtlich. Ich verschweige so einiges. Familien- und Firmennamen, die fraglichsten Heilmethoden, die offiziell vom ukrainischen Gesundheitsministerium bewilligt wurden. Denn ich lebe auch in der Ukraine, in dem Land, wo man Mitarbeiter des Geheimdienstes einfach mal so in die Luft sprengen kann. Und ich kenne den Geschmack der Angst.

13. März 2012 // Semjon Glusman, Arzt, Mitglied des Kollegiums des Staatlichen Gefängnisdienstes der Ukraine

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:    — Wörter: 711

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