Borys Chersonskyj: „Der Übergang zum Ukrainischen ist meine ethische Reaktion auf Putins Lügen geworden.“


LB.ua setzt seine Reihe von Interviews des Brennpunkt-Themas des ukrainischen PEN 2020/2021 „Kultur im Standby-Modus“ weiter fort. Das folgende Gespräch ist mit dem Dichter, Übersetzer, Psychiater Borys Chersonskyj.

Borys Chersonskyj ist ein bekannter ukrainischer Dichter, Essayist und Übersetzer, der auf Russisch schreibt, aber nach den Ereignissen von 2014 – dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine –bewusst auf Ukrainisch zu schreiben begann. Er ist außerdem ein anerkannter Psychologe und Psychiater, der Fachleuten nicht nur in der Ukraine bekannt ist, einer der Gründer und Vorsitzenden der Südukrainischen Psychoanalytischen Gesellschaft, Rektor des Kyjiwer Instituts für moderne Psychologie und Psychotherapie. Borys Chersonskyj ist Autor von mehr als zwanzig Büchern mit Gedichten, Prosa, Essays, Preisträger des Joseph Brodsky-Preises, des Festivals Kyjiwski Lawry, des Russischen Literaturpreises, des Österreichischen Literaris Preises und anderer.

Wir verabredeten, über die „Untergrund“-Psychoanalyse in der Sowjetzeit zu sprechen, über unsere „COVID“-Gegenwart, über die poetische Erfahrung auf Russisch und Ukrainisch, über die kulturelle und soziale Transformation von Odessa – online, über Skype.

„Psychoanalyse ist in der Ukraine ist sehr verbreitet“

In der Literaturgeschichte kennt man Dichter-Krieger, Dichter-Schmuggler, Dichter-Machthaber, Dichter-Diebe. Aber Dichter-Psychiater kenne ich keine, außer Borys Chersonskyj.

In der Tat gibt es Dichter-Psychiater. Ich bin nicht der Einzige. Vor einigen Jahren gab es sogar eine Abendveranstaltung mit Dichter-Psychiatern. Da war ein Dichter und Psychiater, Professor Wiktor Samochwalow [Samochwalow lehrte bis 2014 als Professor auf der Krym und publiziert seit den frühen 80er Jahren, Anm. d. Übers.], der in der Tschechischen Republik lebt. Ebenso die Dichterin und Psychiaterin Anastassija Afanasjewa [1982 geboren, hat sie mehr als ein halbes Dutzend Bände auf Russisch vorgelegt] aus Charkiw. Und da gibt es auch den in Deutschland lebenden Dichter und Psychiater Wiktor Kagan, der ziemlich berühmt ist und viele Bücher veröffentlicht hat. [Kagan, 1943 in Tomsk geboren, widmete sich zunächst dem Phänomen des Autismus, später anderen Feldern vornehmlich der Kinder- und Jugendpsychiatrie, 2000–2013 lehrte er in den USA, Anm. d. Übers.] Es gibt also die Kombination von Poesie und Psychiatrie.

Wir fingen an, Gedichte zu schreiben, als wir jung und jung waren, Psychiater wurden wir erheblich später. Daher ist die poetische Erfahrung derjenigen, die ich erwähnte, viel länger als die psychiatrische Erfahrung.

Wie koexistieren diese soziokulturellen Identitäten? Inspirieren sie sich wechselseitig oder geraten sie in Konflikt?

Es ist wie bei Lobatschewski [der 1792–1856 lebende russische Mathematiker schuf eine nicht-euklidische hyperbolische Geometrie, die nach ihm als Lobatschewskische Geometrie benannt ist, Anm. d. Übers.]: parallele Schnittlinien. Und dieser Schnittpunkt ist mein „Ich“. Es inspiriert nicht und stört nicht. Das sind Teile des Lebens. Ich werde oft gefragt: Was würde ich wählen und was aufgeben? Diese Dinge widersprechen sich nicht. Es gibt die ärztliche Verschwiegenheitspflicht. Was ich von meinen Klienten weiß, bin ich nicht berechtigt in der Literatur zu verwenden. Wenn ich etwas schreibe, beziehe ich mich nicht auf meine medizinische Erfahrung. Mein Facebook zum Beispiel ist ausschließlich literarisch. Es gibt fast keine Psychologie und Psychiatrie. Dies gehört in das Institut (Kyjiwer Institut für moderne Psychologie und Psychotherapie – Anm. des Verf.), das ich für meine Klienten leite.

Sie praktizieren seit der Zeit der Bolschewiki professionell Psychoanalyse und Psychiatrie. Welche Veränderungen haben sich in den Jahren der Unabhängigkeit insbesondere innerhalb der ukrainischen Psychoanalyse vollzogen? Wie sehen Sie die Subjektivität auf internationaler Ebene?

In der Sowjetzeit war die Psychoanalyse praktisch verboten. Freud wurde erst 1986 veröffentlicht, und in öffentlichen Bibliotheken befanden sich die Werke von Jung und Freud in einem Spezfonds, zu dem die Leser keinen Zugang hatten. Sie benötigen eine offizielle Erlaubnis, um ein solches Buch zu erhalten. Es gab verschiedene Bücher, verschiedene westliche Monografien, die von einem sowjetischen Amt namens „Institut für technische und wissenschaftliche Information“ veröffentlicht wurden. Es war dieses Amt, das diese Bücher veröffentlichte, und sie waren nur für den Dienst-Gebrauch bestimmt. Aber dies waren nicht einmal Monografien, sondern kleine Notizbücher – Zusammenfassungen solcher Bücher – für den Dienst-Gebrauch. Kurz gesagt, es war sehr schwierig, westliche psychologische Literatur zu bekommen, aber einige Manuskripte wurden im Samisdat/Selbstverlag veröffentlicht.

Ab 1986 begannen wir allmählich, öffentlich etwas zu tun, um die Psychoanalyse bekannt zu machen und zu praktizieren. Die erste psychoanalytische Vereinigung in Odessa entstand jedoch erst 1992. Heute ist die Psychoanalyse in der Ukraine sehr verbreitet, es gibt viel davon. Es gibt mehrere Institutionen in verschiedenen Städten – in Kyjiw, Odessa. Psychoanalyse ist beliebt. Es gibt verschiedene Zweige, weil es jetzt keine Psychoanalyse als ein einziges System gibt. Es gibt Jungianer, es gibt ego-psychologische, zu denen ich gehöre, es gibt klassische Freudianer. Hier geht es um die Ukraine. Das heißt, jetzt gibt es viele von uns und wir können nicht überwunden werden.

In Bezug auf die internationale Ebene. Seit den späten 80ern besuchen uns unsere Kollegen aus den USA und Kanada, Professoren sind zu uns gekommen und haben unterrichtet. Und wir begannen auch allmählich zu unterrichten, noch bevor ich mich offiziell am Staatlichen Medizinischen Institut Odessa befand.

Und was ist mit den Lacanisten?

Es gibt auch Lacanisten. Insbesondere in Kyjiw. Es gibt so ein internationales Institut für Tiefenpsychologie, dorthin kommen oft Lacanisten aus dem Ausland, aus Frankreich und aus anderen Ländern. Schon vor dem Krieg [gemeint ist 2014, Anm. d. Übers.] kam ein sehr berühmter Philosoph Wiktor Masin [ein renommierter, 1958 geborener Russe, Anm. d. Übers.]. Sergio Benvenuto [ein 1948 geborener, in Rom wirkender Mann, Anm. d. Übers.] kam aus Italien. Dort habe ich auch einige Zeit unterrichtet, bevor ich an das Kyjiwer Institut für moderne Psychologie und Psychotherapie kam. Ich habe mit Masin gesprochen, mit Benvenuto, wir sind weiterhin mit ihm in Kontakt.

„Die Folgen von COVID-19 werden die gleichen sein wie in jeder schwierigen Situation von großer Reichweite.“

Eine Frage mehr an den Psychiater. Wie sehen Sie den Zustand unserer traumatisierten und vernachlässigten ukrainischen Gesellschaft unter den Bedingungen der COVID-Realität?

Die Ukraine erlebt eine dritte Welle der Pandemie, die Zahl der registrierten Fälle wächst. Aber eine Besonderheit vieler unserer Leute: Sie werden krank und gehen nicht zum Arzt, bestehen nicht einmal Tests – aus finanziellen Gründen. Selbst diejenigen, die erkennen, dass sie COVID-19 haben (keinen Geruchs-, Geschmackssinn), hoffen, dass sie keine Lungenentzündung bekommen und ertragen es irgendwie. Sie wissen, dass es keine spezifische Behandlung für das Virus gibt, und hoffen auf Glück. Viele Menschen gehen zum Arzt, wenn es bereits zu spät ist.

Eine weitere Besonderheit: Wir haben zu viele Verschwörungstheorien. Einige sagen, dass COVID-19 nicht existiert, es sei von Pharmaunternehmen erfunden, andere sagen, dass COVID existiert, aber es sei eine gewöhnliche Atemwegserkrankung. Es gibt auch eine Verschwörungstheorie, dass COVID von unseren Regierungsbeamten erfunden wurde, um zusätzliches Einkommen zu erzielen. Ich habe bereits Kolumnen und Aufsätze über diese Dinge geschrieben. Aber in letzter Zeit sind diese Verschwörungstheorien etwas in den Hintergrund getreten, weil viele Menschen krank geworden sind – Verwandte, Freunde, Bekannte. Und viele starben an COVID.

Wie neurotisch ist die Gesellschaft mit diesem planetarischen Unglück? Wie wird sich dies auf die Zukunft unserer Gesellschaft auswirken?

Die Folgen von COVID-19 sind dieselben wie in jeder schwierigen Situation von großer Reichweite. Angst, Depression, Entsetzen – all dies sind sehr häufige Phänomene. Wenn es Syphilis-Phobie, HIV-Phobie gibt, so gibt es COVID-Phobie. Die Menschen verlassen das Haus wochen- und monatelang nicht, gehen auch nicht in ihren eigenen Garten, um frische Luft zu schnappen. Sie brauchen Pflege, Verwandte, um Essen zu bringen, oder Sozialarbeiter, um zu helfen. Es gibt viele solche Leute.

Es gibt aber noch andere Konsequenzen. Seit fast einem Jahr finden alle meine beruflichen Kontakte, einschließlich Vorträge, bei Zoom statt. Philosophen erfanden sogar den folgenden witzigen Spruch: Covido ergo Zoom.

Viele Büros arbeiten online. Warum Miete zahlen, wenn man online arbeiten kann? Warum in den Supermarkt gehen, wenn es Lieferservice gibt? Vor COVID-19 wurde dies nicht massenhaft getan, aber jetzt wird es getan. Die Leute werden das nicht aufgeben, auch wenn die Gefahr vorüber ist.

Wie beurteilen Sie ein solches Phänomen wie die Prosa eines Arztes, wie zum Beispiel den Neurologen Oliver Sacks [Oliver Sacks, 1933–2015, war ein allgemeinverständlich publizierender britischer Neurologe und Schriftsteller, die meisten seiner Werke erschienen in deutscher Übersetzung bei Rowohlt, Anm. d. Übers.]? Wie wichtig ist Ihnen als Künstler die psychiatrische Erfahrung?

Ich habe solche Prosa bereits geschrieben. 2012 habe ich das Buch „Quelle des Wahnsinns“ veröffentlicht, das bereits vergriffen ist. Mit Folio [einem wichtigen ukrainischen Literaturverlag in Charkiw, Anm. d. Übers.] sind Verhandlungen im Gange, um meine Vorlesungen über Psychologie zu veröffentlichen. Ich habe ihnen Aufzeichnungen von Vorträgen geschickt, sie sind abgetippt, ich werde sie bearbeiten, und irgendwann Mitte des Jahres, wenn alles gut geht, wird ein Buch veröffentlicht. Das erste Buch ist eher eine Erinnerung an die sowjetische Psychiatrie, wie solche Dinge geschahen, einschließlich der Verfolgung von Dissidenten, einschließlich der Besonderheiten der sowjetischen Psychiatrie. Ich verlasse mich auf persönliche Erfahrungen und meine eigenen Beobachtungen.

Ihre Habilitation in Form einer Monografie wird aktiv neu veröffentlicht und ist beliebt …

In Moskau gab es drei Ausgaben, die zuvor in Odessa veröffentlicht wurden. Ich bin nicht sehr erfreut, dies zu sagen, aber ukrainische Verlage veröffentlichen meine Fachliteratur nicht. Essays werden veröffentlicht, ebenso wie Gedichte. Meine Aufsätze wurden von „Duch i litera“ [Der Kyjiwer Verlag, geleitet von Kostjantyn Sigow, verlegt sowohl Literatur als auch vor allem philosophische, theologische und politisch-historische Literatur, Anm. d. Übers.] veröffentlicht. Jetzt werden meine Gedichtbände zweisprachig veröffentlicht.

Sie praktizieren das Schreiben von Gedichten in zwei Sprachen – auf Russisch und auf Ukrainisch, wie einst Rilke – auf Deutsch und auf Französisch. Was war der Stimulus, sich der ukrainischen Sprache zuzuwenden?

Rilke hatte sogar eine Zeit, in der er auf Russisch schrieb. Dies sind nur wenige Gedichte, sie waren grammatikalisch unvollkommen, aber sie waren die Gedichte eines genialen Dichters.

Für meine Experimente habe ich in der Schule angefangen, auf Russisch und Ukrainisch zu schreiben. Ich habe in der Schule Ukrainisch gelernt, einige Gedichte aus dem Lehrplan (Schewtschenko, Lesja) bewundert, aber auch solche, die nicht im Lehrplan enthalten waren. Als ich über Tytschynas [Pawlo T., 1891–1967, wird vor allem wegen seiner frühen impressionistischen und philosophisch-religiös inspirierten Gedichte gerühmt, er war eine Zeit lang dann in der Politik aktiv und sogar Bildungsminister, und schrieb dann linientreue Gedichte bis hin zur Hymne der Ukrainischen Sowjetrepublik, Anm. d. Übers.] Gedichte lachte, brachte mein Lehrer Wolodymyr Illitsch das Buch „Klarinetten der Sonne“ mit, und mir wurde klar, dass ukrainische Literatur nicht das ist, was gelehrt wird, sondern was verborgen ist, und ich fing sogar an, Stus [Wassyl Stus, ukrainischer Dissident, der 1938–1985 lebte und im GULAG von Perm verstarb, Anm. d. Übers.] in Samisdat zu lesen.

Aber meine Schulgedichte auf Russisch und Ukrainisch waren erfolglos. Ich war ein Teenager und schrieb als Teenager. Ich zitiere oft ein Gedicht aus dieser Zeit:

Oh aus dem Sumpf, aus dem Schilf,
zieht Fedor das Maschinengewehr,
und wer wartet auf wen –
Parteiarbeiter oder Tscheka.

Wenn mir gesagt wird, dass ich aus politischen Gründen angefangen habe, auf Ukrainisch zu schreiben, erinnere ich mich an dieses Gedicht und sage: „Sie haben recht. Mein erstes Gedicht auf Ukrainisch war nicht nur politisch, sondern auch terroristisch.“

Ich habe immer aus dem Ukrainischen ins Russische übersetzt, sogar Tytschynas Begräbnislieder. Ich war der erste, der sie ins Russische übersetzte, und diese Übersetzung ist auf der Website „Jahrhundert der Übersetzung“ [https://www.vekperevoda.com/ – 2003 vom berühmten russischen Schriftsteller und Übersetzer Evgenij V. Witkowskij gegründete Webseite, Anm. d. Übers.] verfügbar. Aber ich habe nicht vom Russischen ins Ukrainische übersetzt, weil ich bis 2014 dachte, es sei nicht meins und meine Kenntnisse der ukrainischen Sprache waren unzureichend. Aber es gab einen „Lehrer“ der ukrainischen Sprache, Wladimir Putin, der den Krieg begann – als diese Schrecken begannen, da sagte er, er beschütze uns russischsprachige Menschen. Und das war wahrscheinlich meine ethische Reaktion auf diese Lüge. Es war kein einfacher Weg, und es scheint mir, dass es noch nicht vorbei ist.

Meine ukrainischen Gedichte müssen redigiert werden. Marianna Kijanowska und Jurij Wynnytschuk [beides sehr bekannte westukrainische Autoren, sie Dichterin, er Prosaautor, Anm. d. Übers.] haben mich redigiert. Marianna hat sehr viel von mir übersetzt. Meine neuesten Bücher, Raspetschatka und Rosdrukiwka [Ausgedrucktes], sind auf Russisch bzw. Ukrainisch erschienen. Übrigens habe ich ein Gedicht, in dem eine Zeile auf Russisch und die andere auf Ukrainisch ist. Sie können mein Niveau des Ukrainischen jetzt hören. Aber ich tröste mich oft damit, dass mein Ukrainisch- und Surschyk-Niveau viel besser ist als das von Abgeordneten in der Werchowna Rada. Das Surschyk [Mischsprache zwischen Russisch und Ukrainisch] ist eine rein individuelle Krankheit.

Was gibt die Erfahrung, in zwei Sprachen zu sein? Wie anders sind Sie – als Dichter, der auf Russisch und Ukrainisch schreibt?

Es gibt verschiedene Kontexte. Und die emotionalen Bedeutungen des Wortes können unterschiedlich sein.
Wenn ich meine russischsprachigen Gedichte ins Ukrainische übersetze, sind sie immer noch dieselben Gedichte, weil ich den Rhythmus, den Reim behalte. Aber … wenn ich sofort auf Ukrainisch schreibe, sind das völlig andere Gedichte, weil sie andere Assoziationen haben. Meine besten Gedichte auf Ukrainisch sind die, die ich sofort auf Ukrainisch schreibe. Ich habe sogar Schwierigkeiten, wenn ich versuche, sie ins Russische zu übersetzen.
Ich habe kürzlich ein Gedicht zu Ehren von Lesja Ukrajinka geschrieben und es nicht übersetzt. Und viele Gedichte aus dem Buch „Stalin gabs nicht“ [2018] wurden auf Ukrainisch geschrieben, und es gibt keine russische Version.

„… es gibt heute nur noch wenige „typische Odessiten“ in Odessa“

Es ist unmöglich, das Thema Odessa zu umgehen, das komplexe politische und sozialen Veränderungen durchmacht. Wenn wir die Situation nicht vom Standpunkt der gegenwärtigen Politik, sondern vom Standpunkt des gesunden Menschenverstandes aus analysieren – in welche kulturelle und zivilisatorische Richtung driftet Odessa?

Odessa ist eine spezifische Stadt. Sie war das unter sowjetischer Herrschaft, sie blieb es unter der unabhängigen Ukraine. Odessa hatte nicht viel Respekt vor der Sowjetregierung, ordnet sich aber der lokalen Führung unter. Jetzt respektiert Odessa Kyjiw (die Zentralregierung) nicht sehr, aber es ordnet es sich der lokalen Führung unter. Es fügt sich dem, der am nächsten ist. Odessas Unabhängigkeit ist sehr spezifisch. Odessa war schon immer eine russischsprachige Stadt. Übrigens nicht immer, aber nach dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust – ja.

Jetzt gibt es ukrainischsprachige Communities. Dies ist eine ziemlich große Gruppe, und viel größer als vor 20, 10 und sogar 7 Jahren. Diese Community ist seit 2014 viel stärker geworden. Und das sind zwei parallele Odessa. Es gibt das ukrainische Odessa und es gibt Odessa – „Odessa“ (nicht für Putin, nicht für Kyjiw, weil Odessa Odessa ist, ein Land, und keine Stadt). Ich scherze: Wenn Odessa ein Land ist, dann sollte das Land seine Hauptstadt haben, und diese Hauptstadt ist Moskau. Weil alle berühmten Odessiten einst nach Moskau gingen und dort „berühmte Odessiten“ wurden. Dies gilt für Schwanezki [Michail, 1934–2020, leitete ab 1988 in Moskau sein eigenes Theater. Auf Deutsch erschien von ihm „Wir brauchen Helden“ im Diogenes-Verlag, Anm. d. Übers.], der in Odessa erst geehrt wurde, nachdem er in Moskau berühmt worden war. In Odessa gab es einen engen Kreis, und die örtliche Führung unterdrückte Schwanezki. Dies war einer der Gründe, warum er sowie die Schauspieler Roman Karzew und Wiktor Iltschenko [der erste – 1939–2018 – war gebürtiger Odessit, der zweite – 1937–1992 – studierte in Odessa, Anm. d. Übers.], nach Moskau gingen.

Interessanterweise fühlten sich Künstler in Moskau während der Sowjetregierung freier als in Odessa. Odessa war zu kommunistisch, die Zensurlage war viel schlimmer als in Moskau. Odessiten scherzten seinerzeit: Wer sind die Kyjiwer – es sind Odessiten, die Moskau nicht erreicht haben. Solche Witze zeigen die Psychologie eines typischen Bewohners von Odessa. Aber es gibt jetzt nur wenige „typische Odessiten“ in Odessa.

Sie haben eine gehaltvolle Formulierung, dass der Leser wie der Dichter immer multikulturell ist. Wie würden Sie Ihren eigenen Multikulturalismus der Struktur nach beschreiben?

Er hat sprachliche Aspekte. Anfangs bin ich russischsprachig, lese aktiv Ukrainisch und lese seit 20 Jahren ziemlich fließend Englisch. Ich kann jedoch nicht auf Englisch schreiben. Ich lese viele der englischsprachigen Gedichte, die ich früher in der Übersetzung gelesen habe. Ich bin Christ und mein Background ist nur christlich, weil es in meiner Familie keine jüdische Tradition gab, obwohl es auch keine christliche gab. Ich bin als junger Mann in die Kirche gekommen. Später interessierte ich mich aber für die jüdische Tradition und las einige Bücher.

Jeder, der Homer durchgelesen hat, kann sich nicht als monokulturell betrachten. Und wenn er noch Dante gelesen hat, kann er es auch nicht. Das heißt, selbst ein Leser von Übersetzungen ist multikulturell.

Das Projekt wird vom National Endowment for Democracy (NED) unterstützt.

20. April 2021 // Anatolij Dnistrowyj (Anatoliy Dnistrovyi), Schriftsteller

Quelle: LB.ua

Übersetzer:    — Wörter: 2731

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und per täglicher oder wöchentlicher E-Mail.