Braucht die Ukraine Einwanderer?


Die Ukrainer sind schon lange nicht mehr 52 Millionen und wahrscheinlich werden sie auch nie wieder so viele werden. Die Probleme einer niedrigen Geburtenrate und der Alterung der Nation zwingen zur Suche nach Auswegen aus der schwierigen Situation. Ende Oktober fand in der Ukraine die Präsentation des Migrationsprofils statt (Basis der Daten über Einwanderungsprozesse im Land, aufbereitet durch die staatliche Einwanderungsbehörde mit Unterstützung internationaler Arbeitsorganisationen und der EU), während derer Informationen darüber bekannt wurden, dass das demografische Potenzial der Ukraine erschöpft ist und nur durch regelmäßige, massenhafte Einbeziehung von Einwanderern.

LB.ua interessierte sich dafür, wie ukrainische Experten den Erfolg dieser Idee einschätzen.

Die Direktorin des Instituts für Demografie und Sozialforschung M. W. Ptuchi der Ukrainischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (NAW) Ella Libanowa:

Wenn man von der demografischen Krise spricht, meint man üblicherweise die Depopulation, d.h. die Verringerung der Bevölkerungszahl. Tatsächlich spiegelt die heutige Entvölkerung die Erschöpfung des demografischen Wachstumspotenzials wider, die schon in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts begann.

Die sinkende Geburtenrate, das ist eines der charakteristischsten demografischen Merkmale der letzten zwei Jahrhunderte, das sich auf der ganzen Welt beobachten lässt, selbst in den weniger entwickelten Ländern. Man muss die moderne niedrige Geburtenrate als absolut objektive Erscheinung betrachten, welche leider eine Reihe ökonomischer und sozialer Schwierigkeiten aufweist. Die Regierungen aller Länder versuchen sie so oder so zu lösen, insbesondere zu Geburten von Kindern anzuspornen. Diese Praktik verlangsamt, so sie nicht zur Erhöhung der Geburtenrate führt, wenigstens ihre Verringerung (in manchen Fällen kommt sie auch ganz zum Stillstand).

Die weitverbreitetste Praktik ist die staatliche Hilfe für Familien mit Kindern. Sie bekämpft jedoch eher Armut als dass sie die Erhöhung der Geburtenrate fördert. Die zweite verbreitete Richtung ist die Entwicklung eines Systems von Einrichtungen für Vorschulkinder. Leider wurden in den ersten Jahren der Unabhängigkeit, als die Geburtenrate im Land jäh sank und Kindergärten einfach verwaisten, viele von ihnen „umprofiliert“. Im Ergebnis ist es heute ziemlich schwierig, einen Platz in einer Kindereinrichtung für ein Kind unter drei Jahren zu finden. Es ergibt sich, dass Eltern erkennen, dass, wenn sie sich für ein Kind entscheiden, sie auch eine unvermeidliche dreijährige Arbeitsunterbrechung der jungen Mutter einrechnen müssen. Außer dem nicht unwesentlichen Verlust ihres Verdienstes für das Familienbudget bedeutet so eine lange Unterbrechung fast unweigerlich eine Dequalifizierung.

In entwickelten Ländern bedient man sich weitverbreitet nicht standardisierter Beschäftigungsformen, flexibler Arbeitszeit und Heimarbeit. Doch in Ermangelung zugänglicher Systeme vorschulischer und außerschulischer Erziehung löst das die Probleme nicht.

Was die Migration angeht, muss man anmerken, dass eine einmalige Aufnahme von Einwanderern die demografische Situation für eine nur kurze Zeitspanne verändern kann. Nach verstreichen weniger Jahrzehnte altern diese Menschen genauso, brauchen staatliche Unterstützung in Form von Renten, sozialen und medizinischen Einrichtungen. Für die Verjüngung der Altersstrukturen und zur Kompensation der natürlichen Bevölkerungsverluste braucht es einen ständigen Zufluss, einen massiven. Aber dann wird hier ein ganz anderer Ethnos leben. Nicht besser oder schlechter, einfach anders. Und die Bemühungen um die Adaption in die ukrainische Gesellschaft stehen mindestens denen gegenüber die man braucht zum Beispiel zur Einführung moderner Technologie und zur Erhöhung der Produktivkraft.

Die Ukraine braucht nicht unbedingt eine Bevölkerung von 52 Millionen. Wenn es nach mir ginge, können in diesem Land lieber weniger Menschen leben, dafür länger und gut, in komfortablen Häusern; die neue Haushaltstechnik benutzen, sich gut ernähren, reisen, nicht krank sind. Natürlich, dafür muss man hart arbeiten und nicht auf Wunder und Schätze hoffen.

Der Leiter der Abteilung für Migrationsforschung am Institut für Demografie und Sozialforschung namens Ptuchi Aleksej Posnjak:

Die heutige demografische Situation der Ukraine darf man nicht kritisch nennen. Im Moment ist die Bevölkerungszahl weit entfernt von dem Stadium, in dem es unmöglich wäre, den Mindeststandard zur Bewirtschaftung des Territoriums zu halten. Aber dieses Problem könnte in der weiteren Zukunft tatsächlich real werden; sagen wir, in einigen Jahrzehnten.

Der Zufluss von Migranten verjüngt die Altersstrukturen und früher oder später werden wir Einwanderer brauchen. Das Problem ist, wenn wir bis zum letzten Moment warten, werden wir sofort große Gruppen von Einwanderern brauchen, um die notwendige Bevölkerungszahl und Zahl der Arbeitskräfte zu halten. Im Prinzip ist es optimal für den Staat, wenn nicht eine bestimmte Gruppe Migranten dominiert, sondern eine große Zahl kleinerer Kontingente. In diesem Fall werden sie sich schneller in die Gesellschaft integrieren. Jetzt haben wir nur eine kleine Zahl von Einwanderern, die nicht von einem bestimmten Kontingent dominiert wird. Diese stammen aus den ehemaligen Sowjetrepubliken und aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Man muss ihnen jetzt, da es noch nicht viele sind, die Adaption erleichtern, die Einbürgerung, sie in die Gesellschaft integrieren. Die Integration der ersten Gruppe wird die Integration der folgenden Gruppen fördern.

In Europa wurde zu Beginn geplant, dass die Einwanderer für die Zeitspanne weniger Jahre zum Arbeiten kommen. Jedoch versuchen aus weniger entwickelten Ländern abstammende sich am neuen Ort festsetzen, und einem Teil von ihnen ist es gelungen. Praktisch ist es nicht zu ermöglichen, dass Einwanderer kommen, arbeiten und wieder gehen, um das Mindestmaß an Arbeitskräften zu erhalten. Deshalb sollte man besser Maßnahmen zur Integration von Einwanderern in die Gesellschaft ergreifen.

Die Direktor des soziologischen Dienstes des Rasumkow-Zentrums Andrej Bujtschenko:

Die demografische Situation der Ukraine kann man im Moment noch nicht kritisch nennen. Es lässt sich jedoch eine deutliche Disproportion der Altersgruppen erkennen, eine Vergrößerung der Gruppen im Renten- und fortgeschrittenen Alter, und in wenigen Jahrzehnten wird es sehr schwierig werden, alle Rentner zu unterstützen. Die Frage könnte durch die Schaffung eines nicht-solidarischen Systems der Rentenversorgung gelöst werden, in die die Menschen selbst für ihre zukünftige Rente verantwortlich sind.

Außerdem muss man schon heute eine Migrationspolitik erarbeiten. Entwickelte Länder verfügen über ausformulierte Parameter für Einwanderer, die zu ihnen passen. Dazu zählen die Bildung, das Alter, Beruf und weitere Punkte, für die potentielle Einwanderer Wertungspunkte erhalten. In Ländern, die ein vorsichtiges Verhältnis zu Migranten haben, erfreuen sich zum Beispiel Spezialisten auf dem Gebiet von Biologie und IT großer Beliebtheit.

Im Übrigen interessieren sich Migranten schon jetzt nicht besonders für die Ukraine. Noch vor der Krise zeigten sie großes Interesse, jetzt wird sie häufiger eher als Umschlagplatz auf dem Weg nach Europa gesehen.

Die führende wissenschaftliche Mitarbeiterin des soziologischen Instituts der Ukrainischen Nationalen Akademie der Wissenschaften (NAW) Doktor der Wirtschaftswissenschaften Irina Pribujtkowa:

Die Einbeziehung von Migranten ist ökonomisch nicht zweckmäßig. Jedes Mal wenn ich davon höre, dass die Ukraine Einwanderer braucht, stellt sich mir die Frage: Welche Region genau braucht Arbeitskräfte? Wo und was werden die Migranten arbeiten bei der hohen Arbeitslosenquote in der gesamten Ukraine? Wo doch selbst in Kiew Vertreter aller Regionen der Ukraine arbeiten, die daheim keine Stelle gefunden haben.

Was die Migranten in der Ukraine tun werden, bleibt unverständlich. Es lohnt sich, nicht zu vergessen, dass wenn die Krimtataren auf die Krim zurückkehren, große Probleme entstehen, wo man sie ansiedeln und ihnen Arbeit geben soll. Die normale Einwanderung, das ist ein sozialer Prozess und nicht irgendeine Lösung.

Bitte, stirb nicht

Kolossale demografische Reserven unseres Landes verbergen sich in der Senkung der Sterblichkeit der Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter. Heute nimmt die Ukraine in der Weltrangliste in Bezug auf die Lebenserwartung den 121. Platz ein, obwohl wir zu Beginn der 60er Jahre die Siebten waren. Nach Information des Instituts für Demografie und Sozialforschung erleben von tausend 20-jährigen jungen Männern 292 nicht ihren 60. Geburtstag. In Polen liegt diese Zahl bei 178, in Schweden bei 67. Von tausend 40-jährigen vollenden 241 nicht das 60. Lebensjahr, was heißt, das jeder vierte 40-jährige Mann das Rentenalter nicht erreicht. Bei den Frauen ist die Situation besser, aber die Verluste sind auch sehr hoch; von tausend 20-jährigen werden 111 nicht 60 Jahre alt (zum Vergleich – in der Schweiz 39). Wenn man rechnet, dass hier in erster Linie die Rede von gesundheitlichen Problemen ist, aber 50-55% der Gesundheit nach Bewertung der WHO von der Lebensführung abhängt (15-20% von der genetischen Veranlagung, 20-25% von Umwelteinflüssen, 10-15% von der Medizin), dann kann man feststellen, dass die Reserven zur Senkung der Sterblichkeit in der Ukraine kolossal sind. Die Ukraine nimmt den 121. Platz auf der Welt bei der Lebenserwartung ein. Zu Beginn der 60er Jahre waren wir Siebte. Das ist das, was wir durch die Lebensweise verloren haben.

In vielen europäischen Ländern reagieren die Regierungen auf Risiken, die mit Erkrankungen zusammenhängen, die eine hohe Sterblichkeit aufweisen. Zur Vorbeugung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen begann Finnland Großküchen anzuregen, ihren Kunden gesunde Kost anzubieten. In Europa sind Fitness-Clubs weit verbreitet, in denen es große Rabatte für Familien gibt.

15. November 2013 // Julia Borissenko

Quelle: Lb.ua

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1406

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