Bruder gegen Bruder
Der Krieg in der Ukraine macht echte Brüder aus noch gestern einander fremden Kämpfern, aber manchmal trennt er auch blutsverwandte Brüder. Als die Okkupation der Krim begann, begriff der 39-jährige Charkower Alexej Marzinjuk, dass sein Platz an der Front ist, und er schrieb sich als Freiwilliger ins Bataillon „Donbass“ ein. Sein älterer Bruder Wladimir lebte in diesem Moment in Donezk. Bald erfuhr Alexej, dass er jederzeit durch die Kugel des eigenen Bruders sterben kann, der auf der Seite von «Neurussland» kämpft und Ukrainer für «Faschisten» hält.
Wie erfuhren Sie, dass Ihr Bruder mit dem Gewehr in der Hand die Separatisten unterstützt?
Ich erfuhr es zu Beginn des Sommers, als ich auf den Übungsschießplatz des Bataillons „Donbass“ kam. Bis dahin haben wir uns einigermaßen adäquat am Telefon und in den sozialen Netzwerken unterhalten. Aber als ich ihm mitteilte, dass ich im Bataillon „Donbass“ bin, schickte mir mein Bruder ein Foto, auf dem er mit Maschinengewehr im Korridor steht. Ich verstand, dass er Separatist ist.
Was tat Wladimir vor dem Krieg? Und wo ist jetzt seine Familie? Haben Sie sich vor dem Krieg mit ihrem Bruder gut verstanden?
Wir hatten ein normales familiäres Verhältnis. Ich war oft in Donezk. Selbst das letzte Neujahr haben wir dort gefeiert. Wolodja (= Wladimir – Anm. d. Übers.) arbeitete die letzte Zeit im Schacht. Seine Frau und Tochter wurden im Sommer aus Donezk in zentrale Gebiete der Ukraine evakuiert. Wir konnten nur einmal die Nichte am Telefon erreichen, aber ihre Mutter schnappte den Hörer, sagte, dass bei ihnen alles in Ordnung sei, und schaltete das Telefon ab. Sie hält uns für „Banderowzy“, Feinde. Im September kehrten sie nach Donezk zurück. Ich weiß nicht, wie es ihnen jetzt geht.
Was glauben Sie, warum sich Ihr Bruder auf die Seite der DNR («Donezker Volksrepublik») geschlagen hat?
Mein Bruder ist eigentlich ein Arbeitstier, er hatte nie eine eigene Meinung, ihm war alles gleichgültig. Er versuchte immer, seine Pflichten auf irgendjemanden abzuwerfen, ein wenig verantwortungslos und leichtsinnig. Im Prinzip ist er ein guter Mensch, aber er lässt sich leicht beeinflussen. Und hier kamen Menschen, gaben ihm ein Maschinengewehr und sagten, dass dies «Neurussland» ist. Mein Bruder erfreute sich an der Natur der Separatisten, weil er unter ihnen zu einer gewissen Macht kam, zu Erfahrung und wahrscheinlich auch Geld.
Haben Sie irgendwie versucht mit Ihrem Bruder zu reden, ihn umzustimmen?
Ich versuchte zu ihm durchzudringen! Wenn wir uns im Netz unterhielten, dann schrieb er zurück: „Hier sind keine Russen, hier sind meine Freunde und ich. Wer auch immer hier herumschnüffelt – wir werden sie schlachten wie Hammel.“ Und schickte ein Foto von einer am Boden liegenden ukrainischen Flagge. Ich versuchte ihm auszureden gegen die Ukraine zu kämpfen, wollte seine Familie aus Donezk wegbringen. Aber er verkehrte alles ins Gegenteil: ich wolle kommen, um seine Familie aufzuschlitzen. Ich verstehe nicht, wie man so etwas sagen kann – ich habe seine Tochter, meine Nichte, auf Händen getragen. Ohne Erfolg versuchte ich durchzudringen…
Wie reagiert Ihr Bruder darauf, dass Sie für die Ukraine kämpfen?
Mein Bruder sagt, dass ich eine Strafe bin, Frauen und Kinder umbringe, Donezk vernichte. Mein Bruder sagte Journalisten in einem Interview, dass sie, die Aufständischen, gegen den Faschismus kämpfen. Sagte, dass das ihre Erde sein, auf der ihre Väter und Vorväter starben, die gegen den Faschismus kämpften. Und jetzt sei er an der Reihe. Mein Bruder sagte sogar, dass wenn er mich in der Schlacht träfe, er sogar mit Hurra schießen würde.
Und wie verhielten Sie sich, wenn Sie Ihren Bruder in der Schlacht träfen?
Ich würde mich entfernen, aber ihn nicht umbringen. Tatsächlich wäre das nicht nur für mich, sondern auch für meine Freunde gefährlich, aber für mich sind sie jetzt genauso Brüder. Ich würde das Feuer eröffnen, aber ihn umbringen möchte ich nicht.
Wann haben Sie zuletzt mit Ihrem Bruder gesprochen?
Mein Bruder rief mich im Januar an. Nach und nach wurde es leichter zu sprechen, aber erklären kann man ihm immer noch nichts. Er ist das Opfer russischer Propaganda, die ihm einflüstert, die Ukraine wäre kein Staat, und das Land der östlichen Teile nur ein Randgebiet Russlands. Er versuchte das auch schon, mit historischen Fakten zu belegen: Wann wurde Moskau erbaut? Wer hat es erbaut? Aber er beginnt sich zu drücken! Legt schweigend den Hörer auf, das war‘s.
Ist es schwierig, sich damit abzufinden, dass man sich mit einem nahestehenden Menschen nicht versteht?
Ich glaube, ich habe den eigenen Bruder verloren. Ich weiß nicht einmal, ob er im Moment noch lebt oder nicht.
Aber ich habe in diesem Krieg einen neuen Bruder gefunden – Jaroslaw Zymbaljuk. Sein Vater ist der bekannte Neurochirurg Witalij Zymbaljuk (sowjetischer und ukrainischer Wissenschaftler und neurochirurgischer Arzt, Doktor der Medizin, Professor, Wissenschaftler der AMW der Ukraine, Vizepräsident der NAMW (Nationale Akademie der Medizinwissenschaften der Ukraine). Er half mir mit der Ausrüstung. Alles, mit dem ich kämpfte und das ich jetzt trage, kaufte er. Schon seit dem Sommer half er den Soldaten. Mit anderen Freiwilligen sammelte er ca. 1 Million Hrywnja und übergab sie den bewaffneten Kräften der Ukraine. Doch dieses Geld verschwand, niemand weiß, wohin. Deshalb beschloss Witalij Iwanowitsch, den Kämpfern persönlich zu helfen und traf zufällig auf mich. Und so kam es, dass wir uns sogar verbrüdert haben. Im September wurde Witalij Iwanowitsch mein Taufpate. Und die Mutter seiner Frau wurde Taufpatin. Ich wurde in Kiew getauft.
Unterhalten Sie sich jetzt oft mit Ihren Taufpaten und dem neuen Bruder?
Ja, meine Frau und ich waren mehrfach bei ihnen in Kiew. Wir waren bei Jaroslaw an seinem Geburtstag im Januar. Er wurde wie ein Bruder für mich. Wir haben sogar die gleiche Blutgruppe. Und Witalij Iwanowitsch entpuppte sich als Landsmann meiner Frau, sie stammen beide aus dem Rownoer Gebiet. Er ist bereit, meine Kämpfer kostenlos zu behandeln.
_Alexej Marzinjuk kam im August aus dem Antiterroreinsatz zurück, nachdem er lebend aus dem „Ilowaisker Kessel“ entkommen war und zusammen mit seinen Kampfkameraden verletzte Kämpfer der 51. Brigade dort herausgebracht hat. Nach einer Pause von vier Monaten trat er wieder in die Reihe der Freiwilligen.
Diesmal nahm man ihn in die Abteilung für Spezialoperationen in das 73. Marinezentrum spezieller Bedeutsamkeit auf, das sich in Otschakow befindet. Jetzt bildet er auf dem Schießplatz Kämpfer für eine Diversions- und Erkundungsgruppe aus, die Spezialaufgaben erfüllen soll. In Charkow war Alexej Instruktor im Rechten Sektor und in der Spezialoperationsabteilung des Innenministeriums „Sloboschanschtschina“. Er wollte nach Saporoschje zur Spezialoperationsabteilung „Storm“ der Nationalgarde fahren. Aber er hat es sich anders überlegt. „Das wichtigste ist eine gute Befehlsführung,“ sagt Alexej, „und ich bin nicht überzeugt von der Unterabteilung „Storm“, das ist ein Teil des Bataillons Donbass.“ An dieses Bataillon habe ich nicht die besten Erinnerungen. Ich beschloss, mit denen zu arbeiten, die ich selbst vorbereite.“_
Warum gehen Sie zum zweiten Mal in die Antiterroroperation?
Wie könnte ich anders? So viele meiner Freunde fielen, und ich werde hier sitzen? Und kämpfen werden irgendwelche kleinen Jungs? Solche wie mein Sohn zum Beispiel? Lieber kämpfe ich für uns beide, und er verdient Medaillen für unser Land. Mein Sohn Aleksander (19 Jahre) ist Europameister im Balltanz, Silbermedaillengewinner der Weltmeisterschaft. Seine Partnerin und er haben sehr gute Aussichten. So dass ich nicht nur meine Heimat verteidige, sondern auch meine Familie und die Zukunft meines Sohnes!
Wie bewerten Sie die jetzige Situation im Osten der Ukraine?
Wenn ich ehrlich bin, wir hätten im September alles beenden können. Wir rückten mehrfach in Donezk ein, aber man gab uns den Befehl, von Donezk abzurücken. Darüber wird natürlich nirgendwo gesprochen. Die Kommandeure … nur die Leute. Ich habe das Gefühl, dass irgendwer das braucht. Über die Kontrollpunkte schweige ich lieber ganz. Ich erfülle, obwohl Spezialeinheit, gefährlichere Aufgaben, aber ich arbeite mit meinen Kämpfern, wir verstehen und beschützen einander. Wir gehen raus, machen unsere Arbeit, und wir haben höhere Chancen zu überleben, als Leute, die an den Kontrollposten stehen.
Denken Sie, der Krieg lohnt sich für irgendjemanden?
Da spielt wahrscheinlich viel Geld eine Rolle. Da ist Semjon Sementschenko, als er Abgeordneter wurde, sollte er seine Vollmacht als Bataillonskommandeur niederlegen. Aber er ist bis heute verbunden mit diesen 150 Rekruten, die ihm zufielen. Als ich im „Donbass“ kämpfte, erhielt ich die erste Bezahlung für drei Monate im August – 1054 Hrywnja. Und selbst dann erhielt ein Teil der Soldaten Geld, ein Teil nicht. Nicht alle wurden berücksichtigt. Die Spendengelder für die Kämpfer des „Donbass“ kamen nicht an. Sementschenko erzeugte viel durch seinen gemeinnützigen Fonds. Das Geld sollte gleichmäßig im gesamten Bataillon verteilt werden, aber es ist unverständlich, wohin die Hilfe der Freiwilligen verschwand. Zum Beispiel trainierten wir auf dem Ausbildungsschießplatz mit Rucksäcken, die mit guten Notfall-Apotheken ausgerüstet waren. Sie versprachen, dass die gleichen für die Front verteilt werden. Am Ende bekamen wir gar nichts! Nur Freiwillige versorgten uns mit Apotheken, in denen Kompressen, Binden, Aktivkohle und Jod waren.
Was denken Sie über die neue Welle der Mobilmachung?
Viele der Mobilisierten sind keine Kämpfer. Sie haben Angst vor dem Kämpfen. Sie geraten manchmal während der Schlacht in Panik, verstehen überhaupt nicht, wohin sie geraten sind. Im Schreck können sie ihre eigenen Leute beschießen. So dass die Mobilisierten keine sehr große Hilfe sind. Oft sogar eine Gefahr. Ich will nicht kritisieren. Ich bemühe mich selbst nach Möglichkeit, die Situation zu ändern. Ich denke, dass es viel klüger wäre, die Bataillone aus Freiwilligen zusammenzustellen. Es gibt viele Spezialisten, die an guter Arbeit interessiert sind. Freiwillige muss man auch gut ausbilden. Mich hat man in der Nationalgarde ungefähr einen Monat vorbereitet. Spezialisten aus vier Ländern zeigten mir, wie man mit Waffen und Kriegssachen umgeht. Jetzt gebe ich das Wissen an neue Kämpfer weiter. Viele ziehen für ihren Patriotismus in den Krieg, zu allem bereit. Aber in erster Linie muss das Kommando hervorragend sein, damit sich Ilowaisk nicht wiederholt.
Woher nehmen Sie für sich die Motivation zum Kämpfen?
Ich habe schon so viel gesehen, dass ich bei allem Patriotismus, in das Bataillon oder die Abteilung gehe, in die ich vertrauen habe. In erster Linie in die Befehlsführung. Man wollte mich als Instruktor nicht gehenlassen, weil nicht viele so ausbilden. Aber ich muss meine Familie ernähren. Und hier haben sie mich gar nicht bezahlt. Da ist alles nicht einfach. Ich bin bereit, bis zum Ende zu kämpfen, aber mit Verstand. Ich brauche keine Auszeichnungen, je mehr Leben meiner Kämpfer ich rette, das wird mein Lohn sein. Das ist für mich das Wichtigste. Ich habe versprochen zurückzukehren, das heißt, ich sollte auch zurückkehren. Es beten ziemlich viele Leute für mich, und ziemlich viele Leute erwarten mich zurück.
13. Februar 2015 // Olga Prigorowa
Quelle: Lewyj Bereg