Diagnose: Isolierung


Das westliche Europa hat aufgehört, sich für die Ukraine zu interessieren. Die Parlamentswahlen in diesem Land, die vom Wahlkampf in den USA verdrängt wurden, gingen an den Nachrichtenseiten vieler führender Zeitungen der Alten Welt vorbei. Dabei half weder das Fehlen der im Westen bekannten Julia Timoschenko in den Listen, noch die Teilnahme des von den Europäern heiß geliebten Vitali Klitschko an den Wahlen. Man darf die Schuld nicht nur auf die westlichen Europäer schieben: das fehlende Interesse an der Ukraine im Westen ist eher ein Zeichen für gegenseitige Gleichgültigkeit.

Einige Tage vor der Abstimmung in der Ukraine veröffentlichte die konservative Zeitung „Die Welt“ einen Artikel, in dem die Gleichgültigkeit der deutschen Öffentlichkeit zu den Ereignissen in der Ukraine kritisiert wurde. Man muss sich eingestehen, dass es wirklich ungewöhnlich war, dass einige Tage vor den Wahlen keine Artikel zur ukrainischen Thematik in den deutschen Zeitungen zu finden waren, und das alles nach den massiven Angriffen im Frühling wegen der inhaftierten Ministerpräsidentin Timoschenko und nach der im Sommer ausgegebenen Nachrichtenmischung aus Fußball, Straßenhunden und politischem Boykott.

Auch als diese Wahlen vorbei waren, wurden Neuigkeiten über sie in dem gebildeten und lesenden deutschen Auditorium nur unbewusst diskutiert, und das hat ihnen den Löwenanteil von Unterhaltungsladung mit der Soße „Boxer in der Politik“ gebracht. Mit der Ukraine fühlende deutsche Journalistenkollegen, beschwerten sich nicht das erste Mal darüber, dass die führenden Redaktionen ihre Moskauer oder Warschauer Korrespondenten damit beauftragten, über die ukrainischen Wahlen zu berichten.

Als Außenstehender, aber ständiger Zuschauer des deutschen Fernsehens habe ich in diesen Tagen kein echtes und buntes Bild aus Kiew gesehen. Entweder sind alle Spezialkorrespondenten „auf die Jagd“ in die USA geschickt worden, oder diejenigen haben recht, die behaupten, dass die Ukraine für die Deutschen uninteressant geworden ist. Oder sogar soweit, dass die Ukraine der deutschen Öffentlichkeit noch weniger Interesse weckt als vorher.

Man kann die Empörung und auch eine gewisse Beleidigung der Mitleidenden verstehen. In einem Land, in dem 30% der Bevölkerung die Hauptstadt der Ukraine nicht nennen können, ist das fehlende Interesse der zentralen Presse an dem politischen Hauptereignis einem Boykott gleichzusetzen.

Und wenn man Deutschland als nächsten geografisch und politisch einflussreichen Brückenkopf für die Ukraine betrachtet, so heißt das, dass die Ukraine praktisch für Westeuropa zu existieren aufgehört hat.

Was kann man dann noch zur deutschen Politik sagen. Die mit einem Bein bereits im Wahlkampf stehende Bundesregierung bemerkte vermutlich erst eine Woche später, dass überhaupt Wahlen in der Ukraine stattgefunden hatten. Ich wage zu unterstellen, dass die lustlose und diplomatische Bemerkung des liberalen Außenministers Guido Westerwelle über die Besorgtheit um die Verschleppung bei der Stimmauszählung, die von der Botschaft in Kiew am 6. November mitgeteilt wurde, noch für lange die einzige Botschaft des offiziellen Berlins für die Ukrainer bleiben wird.

Jedoch wäre es zu dumm den Weg der Vorwürfe bezüglich der Teilnahmslosigkeit der Deutschen und der anderen westlichen Europäer zu gehen. Das fehlende Interesse der westlichen Öffentlichkeit an der Ukraine zeigt ja ein ewiges ukrainisches Problem – das Fehlen echten gesellschaftlichen Interesses am Westen.

Innerhalb der einundzwanzig Jahre Unabhängigkeit hat die Ukraine es nicht geschafft, sich ihren Nachbarn gegenüber zu öffnen, im Gegenteil, hat sie sich von ihnen noch mehr distanziert, und hat sich somit einen festen Kokon der eigenen Isolierung gebaut.

Von allen Ereignissen in Europa könnten die Ukrainer einigermaßen realistisch nur die Ereignisse in Russland bewerten, und das nur ganz im Allgemeinen. In anderen Fragen ist die Nachbarwelt für die Ukrainer unbegreiflich. Der ukrainische Informationsraum ist pathologisch selbstbezogen, woran die Medien im Wesentlichen schuld sind. Sie schicken ihre Korrespondenten nicht hinaus, um über wichtige politische Ereignisse aus verschiedenen europäischen Staaten zu berichten. Die Journalisten sind auch teilweise daran schuld, weil sie nichts von ihren westlichen Kollegen lesen und nicht an die Welt außerhalb der Ukraine denken.

Wir könnten all diese Krankheiten noch lange der allgemeinen Armut zuschreiben, die auch Nachrichtenredaktionen und jeden von den Journalistenkollegen betrifft, doch können wir das irgendwie nicht den fehlenden Fremdsprachenkenntnissen oder, was besonders wichtig ist, dem fehlenden persönlichen Interesse an den Ereignissen, die tausend oder zweitausend Kilometer westlich von Kiew geschehen, zuschreiben. Wenn wir möchten, dass man über unsere Politik ohne primitive Stereotype schreibt und spricht, müssen wir uns in den politischen Systemen anderer Staaten ebenso gut auskennen, wie die anderen sich in unserem System auskennen sollen. Ich erlaube mir eine Vermutung, dass wenige von den ukrainischen Meistern des Wortes wissen, aus welchen politischen Kräften die führende deutsche Koalition besteht und welche Partei die Bundeskanzlerin Angela Merkel vertritt. Das Wissen über den britischen Premierminister David Cameron und den französischen Präsidenten Francois Hollande erwecken bei mir die gleichen Befürchtungen. Ich will gar nicht erst den österreichischen Kanzler, die neue Regierung der Niederlande oder den Premierminister Schwedens erwähnen.

Wenn wir wirklich der EU beitreten wollen und die Journalisten die Ukrainer dahin führen wollen, dann sollen sie nicht nur von den EU-Strukturen erzählen, mit denen die internationalen Nachrichtenblöcke in der Ukraine wie üblich überfüllt sind, sondern auch über die Länder selbst, das heißt über die Menschen, welche die EU ausmachen. Es ist ja klar das, wenn man in Richtung einer abstrakten EU rennt, man auf dem Weg sehr leicht ausrutschen kann, doch eine Bewegung anhand lebendiger Vorbilder für politische Systeme zieht viel eher den Wunsch der Nachahmung nach sich.

Schlussendlich kann man bei den Leuten im Westen den Wunsch die Ukraine kennenzulernen befördern, indem man lediglich am lebenden Beispiel gegenseitiges Interesse zeigt, welches nicht auf Stereotype über vergänglichen Reichtum und einen ungetrübten Alltag beschränkt ist. Wie viele unsinnige Treffen mit westlichen Europäern hatte jeder von uns, nach denen fast nichts im Kopf des Gesprächspartners blieb, außer ein Kater und ein paar russische Schimpfwörter? Wie viele gab es, nach denen unser Land ein lebhaftes Interesse beim Gesprächspartner erweckte? Die ersteren überwiegen offensichtlich.

Als mich ein deutscher Psychologiestudent (!) einige Tage nach den Wahlen fragte, welche Ideen die nationalistische Partei „Swoboda“ verteidige und dabei den Namen ohne Fehler aussprach, war ich erstaunt. Danach begriff ich, dass er dieses Interesse nicht gehabt hätte, wenn ich ihm nicht vor einem Monat von den Anfängen, Erfolgen und dem Wesen der deutschen Piratenpartei erzählt hätte, die für ihn in vielen Aspekten neu waren.

In der postmodernen Welt der ständigen chaotischen Informationsströme, in der Wichtiges sich vorzugsweise auf der Basis persönlichen Interesses herausragt, kann man sich nur abheben, indem man Interesse in den Augen derjenigen, deren Meinung einem wichtig ist, entwickelt. Doch, genauso wie in persönlichen Beziehungen, kann man den ersten Schritt nur tun, in dem man sein persönliches Interesse demjenigen zeigt, von dem man eine Antwort erwartet. Doch die Hauptsache ist, damit zu beginnen auf Westeuropa, zu dem wir so sehr hinstreben, zu schauen, genauso wie auf einzelne Länder und Millionen von Personen, die tagtäglich ihren Alltag bewältigen und die Herausforderungen dieser Welt meistern.

9. November 2012 // Danylo Bilyk

Quelle: Lb.ua

Übersetzerin:   Iryna Vereschahina  — Wörter: 1123

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