Eine verlorene Generation
Im Fernsehen berichtet man uns, wie sehr sich in der Ukraine die Verbreitung des Rauchens verringert hat, wie erfolgreich die Gesetze über die Verteuerung der Zigaretten sind und die Verbote, auf öffentlichen Plätzen zu rauchen, Zigaretten zu bewerben und an Minderjährige zu verkaufen. Doch die Realität, insbesondere bei Jugendlichen, unterscheidet sich sehr von diesen Beteuerungen.
Es sind nicht einmal zwei Wochen vergangen, seitdem die Schulglocke das neue Schuljahr eingeleitet hat. Auf den Gesichtern sieht man noch die Sonnenbräune, das dunkelgrüne Schuljackett ist schon angezogen. Wir sind in einer der Schulen des Stadtteils Trojeschtschina in Kiew. Wobei ich mir sicher bin, dass ein Gespräch, wie es unten aufgeführt ist, an jeder der Schulen der Hauptstadt oder einer anderen Stadt hätte geführt worden sein können.
Es ist etwa zehn Uhr morgens. In der Schule ertönt die Pausenklingel. Aus den Türen drängt sich eine bunte Menge – von Erstklässlern bis hin zu Oberstufenschülern. Von diesem Meer aus Stimmen und Bewegungen macht sich eine eindrucksvolle „Welle“ bemerkbar – in erster Linie Jungs, aber es gibt auch ein paar Mädchen. Sie sehen aus wie 14 oder 15. Der ein oder andere zehnjährige Halbwüchsige ist auch unter ihnen. „Die Welle“ bewegt sich und umkreist das Schulgebäude, hält an. Man kann beobachten, wie in den Händen der Schüler Feuerzeuge und Zigarettenpackungen auftauchen. Ein paar haben, woher auch immer, einige Flaschen geringprozentigen Brandy-Cola.
„Ist es nicht noch etwas früh für Alkohol“?, würde ich gerne wissen.
„Dafür ist es nie zu früh und nie zu spät“, antwortet mir einer der Schüler fast exakt mit den Worten aus dem Film „Die kaukasische Gefangene“
Ungeachtet des Altersunterschiedes tun sie mir nicht sehr leid. Das ist augenscheinlich nur eine Generation, die flügge wird. Sie haben ein Gewissen, aber nicht die Scham, mit der wir uns in der sowjetischen Zeit zu Tode schämten – von der gerauchten Zigarette oder dem ungebügelten Pionierhalstuch. Sie begreifen, was gut und was schlecht ist. Und zwischen diesen beiden Kategorien gibt es noch die Kategorie „cool“.
„Merken die Lehrer denn nicht, dass ihr nach Alkohol und Zigaretten riecht?“
„Ach, das ist denen doch egal.“
„Werdet ihr denn im Unterricht nicht über die Schäden von Alkohol und Tabak aufgeklärt? Hat man euch überhaupt mal irgendwas darüber erzählt?“
„Nein, niemals.“
„Und wann hast Du die erste geraucht?“
„Ich vor einem Jahr. Ein paar rauchen schon länger, so seit zwei, drei Jahren.“
„Wie ist das, bist du ein Opfer der Zigarettenreklame?“
„Ach was. Ich nehme die Reklame gar nicht so wahr. Bei uns rauchen einfach alle in der Clique. Bin ich deswegen schlechter oder was?“
„Rauchen eure Eltern?“
Fast alle der mehr als zehn Schüler nicken.
Es zeigt sich, dass die Worte des Oberstufenschülers von der Soziologie untermauert werden. Laut Daten der Internationalen Forschungsagentur IFAK beginnen gerade einmal vier Prozent der Ukrainer, aufgrund von Reklame zu rauchen. Dafür fangen 23 Prozent an, weil sie von Freunden beeinflusst werden und 11 Prozent, weil nähere Verwandte rauchen.
„Wissen denn Eure Eltern, dass Ihr raucht?“
„Meine nicht.“
„Meine wissen es, sagt ein daneben stehender Minderjähriger mit kleinlautem Lächeln. Aber die rauchen weiter.„
„Ist das denn nicht ein etwas zu teures Vergnügen?“
„Naja, „Camel“ oder „Marlboro“ können wir uns natürlich nicht erlauben. Aber das, was billiger ist, so für vier Hrywnja (ca. 36 Cent).“
„??Wir haben auch noch einen Partner“??, mit wichtiger Miene Blick mischt sich der Ältere ein. Bei ihm können wir für zwei, drei Hrywnja welche kaufen. Die haben dann nur keinen Aufkleber (es handelt sich anscheinend um Steuerbanderolen. Ohne diese werden üblicherweise geklaute oder geschmuggelte Zigaretten verkauft – Anmerkung des Autors). Bei ihm kann man auch andere Mischungen zum Rauchen kaufen, irgendwelche „Bomben“.
„Das sind dann ja schon Drogen…“
„Nun, der Kopf wird nicht auf Kinderart durchgeblasen. Es ist wahr, danach kann es einem schon komplett scheiße gehen. Das Rauschgift – „Schwarzer Afghane“ – wird mehr beworben, als normale Kippen. Sogar in den Metrowaggons hängen Anzeigen.“
„Und trotzdem“, ich versuche, die Jugendlichen noch mehr auszuhorchen, „würdet ihr nicht lieber Fußball oder Basketball spielen, anstatt miteinander zu qualmen? Es gibt sowohl Basketballnetze, als auch Fußballtore auf Eurem Sportplatz.“
„Tore gibt’s, aber keine Bälle. Und wenn es welche gibt, gibt man sie uns nicht, weil sie denken, dass wir sie verlieren oder klauen.“
„Na gut, aber Schulsport oder beispielweise Sprach-AGs gibt’s nicht bei Euch an der Schule?“
„Sie fragen wohl bald noch nach einem Arbeitskreis für Näharbeiten (lachen). Wenn du Englisch lernen willst, musst du für den Lehrer zahlen. Schulsport haben wir überhaupt nicht, was macht es auch für einen Sinn, sich physisch anzustrengen. Zusätzliches Geld gibt uns dafür keiner.“
„Wo verbringt Ihr denn Eure Freizeit?“
„Wir treffen uns irgendwo. Oder schauen Fernsehen. Der, der einen Computer hat, spielt, „Counter-Strike“.“
Der Schulgong unterbricht unsere missmutige Konversation. Die Gruppe raucht fertig und geht zurück in die Klasse. Dort werden den Schülern Logarithmen, Quantenmechanik, Rechtschreibung und die Valenz chemischer Elemente erklärt. Einen großen Teil davon vergessen sie noch auf der Schulbank. Und die Lehrer, denen „alles egal“ ist, werden ihnen wohl kaum helfen, ihren Platz auf dieser Welt zu finden.
Jährlich entstehen in der Ukraine neue Verbote, Reklame für Zigaretten und Rauchen zu machen. Das sind im Grunde schöne Normen, die allerdings nur auf dem Papier existieren. Aber es denkt selten jemand darüber nach, dass man mit dem Rauchen nicht wegen der Reklame anfängt (die gibt es ja kaum noch), sondern aufgrund von Ausweglosigkeit und Stress, wegen der Eltern als schlechtem Vorbild und wegen falscher Ideale in der Gruppe der Altersgenossen. Wenn es eine Alternative gibt, ist es für einen Menschen (insbesondere für einen jungen Menschen) möglich, sich selbst zu verwirklichen – und das verringert die Verbreitung von Rauchen sehr viel stärker, als gedankenlose Verbote. Anders bleiben die heutigen Heranwachsenden eine verlorene Generation.
9. September 2011 // Natalja Bondarenko
Quelle: Serkalo Nedeli