Existentielle Niederlage


Nach dem Konflikt zwischen Milizionären und dem Journalisten Mustafa Najem, sowie auch den anderen Pressevertretern erschien eine große Zahl von Publikationen und Notizen in sozialen Netzwerken, deren Sinn sich folgenderweise ausdrücken lässt: Alles klar… Wir sind in Russland angekommen.

Als ob wir ab jetzt einen Polizeistaat hätten und wenn nicht heute, dann morgen könnte man Präsident Janukowitsch in Wladimir Wladimirowitsch umtaufen.

Jedoch besteht das Problem überhaupt nicht darin und auch nicht darin, dass Präsident Kutschma unrecht hätte und dass die Ukraine doch Russland ist.

Das Problem besteht darin, dass sowie in Russland als auch in der Ukraine dieselbe postsowjetische Kultur übrig geblieben ist und gedeiht. Und es wurde keine Ersatzkultur in Kiew und überhaupt in der ukrainischen Gesellschaft im Laufe der letzten 20 Jahre geschaffen. Eigentlich hat man auch nicht versucht, diese zu schaffen.

Anders gesagt, wenn wir das Wort „Ukraine“ oder „Russland“ nennen, dann sprechen wir über einen und denselben Raum, wir bezeichnen ihn nur mit anderen Worten.

Dieser Raum wurde zuerst als das Russische Reich geschaffen und danach in die Sowjetunion verwandelt. Und bis 1991 dank Andropows Bemühungen und Bemühungen seiner Genossen wurde dieser Raum zum postsowjetischen Raum.

Noch einmal: die Ukraine und Russland sind ein einheitlicher Raum. Jedoch nur der Gedankenraum und nicht der Raum der Wirtschaft oder Politik. Es sind nicht die gleichen Staaten.

Das sind verschiedene Völker, das Gedankengut ist aber dasselbe.

Das ist das, was es Kisseljow und Schuster ermöglicht, ihre Tätigkeit in Kiew auszuüben. Das ist das, was Bakaj und Bilokon die Möglichkeit gibt, dem Establishment in Moskau anzugehören.

Das ist das, was es möglich macht, den waschechten russischen Zank aus der Rede von Parfjonow als den eigenen in der Ukraine wahrzunehmen. Das ist auch das, was Präsident Janukowitsch den Ansporn gibt, die Olympiade in der Ukraine zu organisieren und gewisse nationale Projekte durchzuführen.

Und auch das, was die ukrainischen Journalisten dazu bewegt, sich so benehmen, als ob wir keine Inlandsmassenmedien hätten, sondern nur eine Filiale von „Echo Moskwy“.

Und auch das, was die ukrainischen Polizisten dazu bewegt Mustafa Najem ins Gesicht zu sagen, dass er eine „Person kaukasischer Nationalität“ sei.

Das ist ein Gedankenraum. Wenn es beliebt, eine Beschreibung der Welt.

Ohne Zitat lässt das sich nicht erklären.

Ich verstehe, dass es schlechter Ton ist, Carlos Castaneda zu zitieren. In einem aber von seinen Texten geht ist eine Idee, die ich zum Ausdruck bringen möchte, hinreichend lakonisch formuliert. Also hier das Zitat.

In seinem dritten Band „Reise nach Ixtlan“ hat er Folgendes geschrieben:
??„Die Welt, die wir alle kennen, ist nur eine Beschreibung. […]

Don Juan gab sich alle Mühe, mich davon zu überzeugen, dass das, was in meinen Augen die wirklich vorhandene Welt war, nur eine Beschreibung der Welt sei; eine Beschreibung, die mir seit dem Augenblick meiner Geburt eingehämmert worden sei.

Jeder, der mit einem Kind in Kontakt komme, erklärte er, sei ein Lehrer, der unaufhörlich die Welt erkläre, bis zu dem Augenblick, wo das Kind die Welt so wahrnehmen könne, wie sie ihm erklärt wird. Nach Don Juan haben wir keine Erinnerung an diesen folgenschweren Augenblick, einfach weil wir keinen Bezugsrahmen hatten, in dem wir ihn mit etwas anderem hätten vergleichen können. Doch von diesem Augenblick an ist das Kind ein Mitglied. Es kennt die Beschreibung der Welt; und es erreicht, glaube ich, die volle Mitgliedschaft, wenn es in der Lage ist, alle seine Wahrnehmungen so zu deuten, dass sie mit dieser Beschreibung übereinstimmen und sie dadurch bestätigen.

Für Don Juan besteht die Wirklichkeit unseres alltäglichen Lebens daher aus einem endlosen Fluss von Wahrnehmungsinterpretationen, welche wir, die Individuen, denen eine bestimmte Mitgliedschaft gemeinsam ist, gemeinsam anzustellen gelernt haben […]

Tatsächlich wird die Realität der Welt, wie wir sie kennen, als so feststehend angesehen, dass die Grundprämisse der Zauberei, nämlich dass unsere Realität nur eine von vielen möglichen Beschreibungen ist, kaum eine Chance hat, als ernsthafte These akzeptiert zu werden.“??

Also hatte Präsident Kutschma Recht, als er geschrieben hat, dass die Ukraine nicht Russland ist. Er kam leider nicht auf den Gedanken, dass sich die Ukrainer in den letzten 20 Jahre um alles Mögliche kümmerten, aber nicht um die Beschreibung einer Welt, die sich von der postsowjetischen unterscheiden könnte.

Die Schaffung einer eigenen Welt – das ist der Beginn des selbständigen Lebens. Das ist eine geistliche Revolution, wovon vor kurzem der Präsident Saakaschwili im Europaparlament sprach: „Die Grenzen der sowjetischen Mentalität sind nicht verschwunden und die Sowjetunion existiert weiter in Köpfen und Geistern der Menschen. Nur eine geistige Revolution hätte eine europäische Transformation herbeiführen können.“

Eine Revolution in der Mentalität, nach welcher Präsident Janukowitsch und seinen Beratern irgendwelche anderen Ideen gekommen wären und nicht Sprünge à la Putin wie etwa die Olympiade. Irgendwelche anderen Begriffe und nicht „nationale Projekte“.

Nach der die Ukraine für Journalisten nicht nur Russland wäre. Nach der die ukrainischen Milizionäre Mustafa Najem irgendetwas anderes als eine „Person kaukasischer Nationalität“ hätten vorwerfen können. Zumindest eine Verbindung mit Al-Qaida, der Kerl kommt doch aus Afghanistan.

Hier muss man sich entscheiden. Entweder die ukrainischen Journalisten schauen gemeinsam auf den Mund Parfjonows, der mit sich nichts anders als eine postsowjetische Persönlichkeit darstellt und über postsowjetische Probleme berichtet, zu denen er alleine beigetragen hat; Oder den Anspruch auf die Arbeit und Wohnen in einem Land erheben, das als postsowjetisches Land zu existieren aufhörte und zu einem anderem wurde.

Warum ist es nicht zu klären, ob es noch einige ungarische, slowenische oder rumänische Fernsehjournalisten gibt, auf deren Mund man schauen kann? Larry King z. B. wurde in einer Emigrantenfamilie aus Belarus geboren. In der Welt der euroatlantischen Bestrebungen des einheimischen Journalismus sollte er doch näher am Herzen liegen als Parfjonow.

Oder noch eine Variante.
Entweder ukrainischen Journalisten benennen die Vorgänge in der Ukraine einhellig als Machtvertikale und mit anderen putinschen Begriffen und dann braucht man sich nicht zu wundern, dass Präsident Janukowitsc dasselbe macht oder besser gesagt umsetzt. (Seine Aufgabe besteht doch darin, nicht zu bezeichnen, wie das Journalisten machen, sondern zu wählen, zu unterzeichnen und die Erfüllung zu kontrollieren, d.h. zu vollziehen) Oder zu lernen in der Ukraine nicht nur Russland zu sehen und dann vielleicht werden Präsident Janukowitsch und ebenfalls die Milizionäre das auch lernen.

Oder noch eine Variante.
Entweder die ukrainischen Journalisten betrachten die Massenkrawalle von Fußballfans in Moskau und versuchen dabei zu klären, ob so ähnliche Ausschreitungen bei uns möglich wären und wie eigentlich die Situation mit dem Neonazismus bei uns aussieht; Oder sie lernen zu sehen, dass sich hier viel interessante Unruhen ereignen, die der Ukraine näher sind, besser gesagt, näher der Tiefe des wirtschaftlichen Sturzes liegen.
Wie in Griechenland beispielweise.

Entweder befinden sich die ukrainischen Journalisten, der ukrainische Präsident, die ukrainischen Milizionäre und viele andere Ukrainer im Gedankenraum, der als postsowjetischer Raum bezeichnet wird und dessen Zentrum folglich Moskau ist; Oder die ukrainischen Journalisten beginnen an der Schaffung eines anderen Gedankenraums zu arbeiten, an einer anderen Beschreibung der Realität, an ihrer eigenen Beschreibung der Realität, wo die Themen des Fernsehkanals ORT nicht wichtiger wären als die Themen von CCTV oder der Deutschen Welle. Einem Raum. wo der Name Madoff nicht weniger bekannt wäre als der Name Chodorkowski. Einem Raum, wo die Ereignisse in Athen nicht weniger bekannt wären als die in Moskau.

Übrigens, ein paar Worte zu Griechenland. Als der Präsident Janukowitsch Athos seinen Besuch abstattete, waren ukrainische Journalisten nicht imstande, was anderes darin zu erkennen, als nur das Moskau Patriarchat. Ist das nicht eine existenzielle Niederlage?

Es ist die Zeit gekommen, an eine andere Beschreibung der Realität außer der postsowjetischen zu denken.

Das hängt von den Journalisten ab. Journalisten plus Phantasie ergibt eine Mentalitätsrevolution.

17.12.2010 // Dmitrij Litwin

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Ljudmyla Melnyk  — Wörter: 1259

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