Geboren als Ukrainer: Warum die Kinder der Emigranten uns weiter helfen
Solche wie Taras Ferenzewytsch, die in den USA geboren wurden und in den Familien patriotischer ukrainischer Migranten aufgewachsen sind, gibt es viele. Ihre Eltern verließen vor Jahrzehnten die Ukraine, um sich und ihre Familien vor Gefängnis, Verbannung, oder auch Tod zu schützen. Heute setzen schon die Kinder ihre Sache fort.
Der Vater von Taras – Jurij Ferenzewytsch – war Angehöriger der galizischen SS-Division Nr. 1 (Die 14. Waffen-Grenadier-Division der SS wurde 1943 aus Freiwilligen im deutschbesetzten ostpolnischen Galizien gegründet und vor allem zur Partisanen- und Aufstandsbekämpfung unter anderem in der Slowakei und Jugoslawien eingesetzt. In den Nürnberger Prozessen wurden alle Einheiten der Waffen-SS als verbrecherische Organisation eingestuft. Als ehemalige polnische Staatsbürger konnten die 1945 in britische Gefangenschaft geratenden Soldaten allerdings später nach Kanada und die USA auswandern, A.d.R.), für die aktive Teilnahme am nationalen Befreiungskampf (sic!) im Jahre 1944 wurde er gefangen genommen, bald wanderte er nach Amerika, nach New York aus.
Dort wurde er Vorsitzende der Gesellschaft „Brody-Lew“, die gegründet wurde, um „den ukrainischen Kriegsversehrten, -witwen und -waisen zu helfen und Kriegsgräber zu schützen“. Nach dem Tod des Vaters setzte Taras seine Sache fort und jetzt kommt er oft in die Ukraine als Vorsitzende der Gesellschaft, die heutzutage die Restaurierung der Denkmäler sowie Durchführung historischer Untersuchungen sponsert.
„Der Vater hat mich nie gezwungen, aktiv zu werden“
Der Vater von Taras – Jurij Ferenzewytsch – wurde in Lwiw geboren und bis zu den Jugendjahren wohnte er in der Armenischen (Wirmenska) Straße (in der Familie gab es sieben Kinder).
„Sobald er sechzehn geworden ist, trat er in die galizische SS-Division Nr. 1 ein, nach einer Vorbereitung geriet er in die Schlacht bei Brody. Da sind viele junge Leute umgekommen. Der Vater hat das überlebt. Danach kehrten einige in ihre Dörfer zurück, einige wurden in die Slowakei verlegt und wurden erneut zusammen mit Ukrainern aus anderen Truppenteilen umgegliedert. Als alle erfuhren, dass der Krieg an der Ostfront zu Ende war, wurden die Angehörigen der SS-Division nach Österreich an die Westfront geschickt. In Kürze gaben sie sich den Engländern gefangen, da sie kein Interesse hatten, Widerstand zu leisten. Unter ihnen war auch mein Vater“, erzählt der Mann.
Damals, bevor die „Sowjets“ kamen, war die ganze Familie Ferenzewytsch gezwungen zu fliehen. Solcherweise gerieten sie in die Flüchtlingslager in Deutschland und einige Zeit lang war die Familie zerstreut.
„Sogar wenn der Vater aus der Gefangenschaft freigekommen wäre, so wäre er, in die Ukraine zurückkehrend, sofort als ein „Verräter“ im Gefängnis gelandet. Deswegen wendete sich mein Opa mit einem Schreiben an die englische Königin nicht nur mit dem Gesuch um die Freilassung seines Sohns aus der Gefangenschaft, sondern auch um die Erteilung der Erlaubnis für die Ausreise nach Amerika“, erklärt Taras.
In Kürze bekam sein Großvater einen Antwortbrief mit Stempel aus dem Buckingham Palace, der auch heute im Familienarchiv aufbewahren wird. Die Königin gab ihr Einverständnis.
„So wurde mein Vater aus der Gefangenschaft freigelassen und ihm wurde die Erlaubnis erteilt, sich mit der Familie zu vereinigen und nach Amerika auszuwandern“, erinnert sich der Mann.
Die Familie von Taras Mutter – Chrystyna Wolozka – war auch unbequem für die Staatsmacht. Ihr Vater war Gymnasialdirektor in Solotschiw. Die Familie zog nach Schydatschiw um und wohnte dort bis zur Ankunft der Sowjets, wonach sie gezwungen war auszuwandern.
Die Sache ist die, dass nach Taras Deutung sein Großvater mütterlicherseits, der am Befreiungskampf der Jahre 1917-1920 teilgenommen hatte, als „Feind“ der Staatsmacht auch fliehen musste, um Gefängnis oder sogar Erschießung zu entgehen. Deswegen reiste die Familie seiner Mutter auch zunächst nach Deutschland aus, erst dann nach Kanada.
„Meine Eltern waren Pfadfinder bei ‚Plast‘. So lernen sie sich auf einem der Zusammenkünfte der Pfadfinder kennen. Bislang wohnte meine Mutter in Toronto, aber nach der Hochzeit zog sie nach New York zum Vater um. Damals wurden meine ältere Schwester und ich geboren“, sagt Taras.
An die Beziehungen zum Vater erinnert sich Taras mit besonderer Wärme.
„Der Vater erzählte viel von seiner Jugend, der Teilnahme an den Befreiungskämpfen, über die Familiengeschichte, später habe ich seinen Vorsitz in der Gesellschaft „Brody-Lew“ beobachtet, manchmal habe ich bei verschiedenartigen Konferenzen, Zusammenkünften geholfen“, erinnert sich Taras.
„Der Vater zwang mich nie, aktiv zu werden oder sich mit dem Schicksal der Ukrainer zu beschäftigen. Ganz natürlich entwickelte sich solches Verständnis an seinem Beispiel. Ich habe gesehen, dass meine Eltern in der Gemeinschaft, in der Diaspora sehr aktiv waren, überdies war der Vater Vorsitzende von Plast in der Welt und in Amerika… Ich hatte keine Chancen, anders aufzuwachsen (lacht).“
Die Mehrheit der Ukrainer der Generation von Jurij Ferenzewytsch, die nicht auf eigenen Wunsch nach Amerika auswanderten, sondern nicht ins Gefängnis zu kommen, hatte in der Emigration ein Pflichtgefühl. Wie Taras sagt, war das „eine gewisse Unmöglichkeit die Ukraine zu vergessen.“
„Wenn wir über Kameraden meines Vaters sprechen, über die ehemaligen Angehörigen der galizischen SS-Division Nr. 1, dann sollte man natürlich nicht alle idealisieren“, sagt Taras. „Unter Angehörigen dieser Division gab es auch viele Irrungen. Einige wollten ihre Teilnahme an der Befreiungsbewegung vergessen und erzählten ihren Kindern nichts darüber. Überdies galt ein solcher Punkt in der Biografie auch im beruflichen Bereich als Minuspunkt.“
Gefühl der Verbindung mit den eigenen Vorfahren
Die Gesellschaft „Brody-Lew“ wurde am 15. Juni 1952 von ehemaligen Angehörigen der galizischen SS-Division Nr. 1 gegründet. Ihre Ziele sind „den ukrainischen Kriegsversehrten, -witwen und –waisen zu helfen und Kriegsgräber zu schützen.“
Zunächst waren das die Projektierung und Errichtung von Denkmälern für die Ehrung von Kriegsgräbern der Ukainischen Sitscher Schützen (ukrainische Einheit, die im Ersten Weltkrieg für Österreich-Ungarn kämpfte, A.d.R.) und Kämpfer der Ukrainischen Aufstandsarmee, die im Ausland begraben sind, unter anderem in Österreich und Amerika.
Mit der Unabhängigkeit der Ukraine ist die wichtigste Aufgabe der Gesellschaft die Wiederherstellung der Kontakte zu den ehemaligen Angehörigen der Division, die noch am Leben waren, oder mit ihren Verwandten.
„Wir fuhren in die Ukraine und unterhielten uns mit den ehemaligen Kämpfern, unter anderen mit denen, welche die Verbannung überlebten und keine Furcht hatten, darüber zu erzählen. Parallel haben wir nach Witwen und Kindern der Angehörigen der Division gesucht und versuchten sie finanziell zu unterstützen. Seitdem begann die Errichtung und Renovierung von Mahnmalen in der Ukraine. Unter anderem auf dem Lytschakiwer Friedhof in Lwiw und Grabstätten der Kämpfer im Dorf Tscherwone, Kreis Solotschiw“, erzählt Taras.
Nach dem Tod des Vaters im Jahre 2011 stellte sich Taras an die Spitze der Gesellschaft. Das, was am Anfang Verpflichtung war, wurde zum persönlichen Dienst.
„Zum Begräbnis meines Vaters kamen seine Kameraden zu mir und sprachen mit mir, damit ich seine Sache fortsetze“, erzählt Taras. „Zuerst konnte ich einfach nicht absagen, aber mit der Zeit engagierte ich mich immer mehr bei der Arbeit. Die ehemaligen Veteranen erklärten mir die Pflichten und halfen bei der Stiftung des Fonds der Gesellschaft, aus dessen Mitteln heutzutage unterschiedliche Initiativen in der Ukraine unterstützt werden. Eine der letzten ist die Finanzierung des Lehr- und Untersuchungsprogramms der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Ukrainischen Katholischen Universität zum Thema „Geschichte der Ungebrochenen: Ukrainische Befreiungsbewegung des XX. – Anfang des XXI. Jahrhunderts.“
Taras teilt mit, dass die Gesellschaft „Brody-Lew“ beschlossen hat, die wissenschaftliche Arbeit der Ukrainischen Katholischen Universität in der Hoffnung zu unterstützen, dass die geschichtlichen Forschungen, die das Programm in Geschichte durchführt, nicht nur die schwierige Periode der Befreiungsbewegung deuten können, sondern auch auf deren Basis einen Fahrplan, eine bestimmte Tagesordnung für das Land schaffen hilft.
Nach Taras Meinung haben die Untersuchungen der Studenten der Ukrainischen Katholischen Universität alle Chancen, praktische Anwendung zu finden, und die Studenten können selbst gewisse Botschafter in der Gesellschaft werden.
„Die junge Generation der Ukrainer ist der Generation meines Vaters ähnlich“, ist der Mann überzeugt. „Die jungen Leute damals und auch heute konnten sich die wichtigen Fragen stellen: Warum tue ich das? Mache ich das in einer nützlichen Weise oder gibt es eine nützlichere?“
Heute wohnt Taras Ferenzewytsch mit seiner Familie in der Nähe von New York. Er erzieht zwei Kinder zusammen mit Frau Ksenja, auch Ukrainerin der Herkunft nach und Urgroßenkelin des bekannten Publizisten und Anwalts Lew Hankewytsch.
Auf die Frage: „Als wen fühlt er sich?“ antwortet er bedächtig, jedes Wort abwägend: „Ich bin in Amerika geboren… Ich habe den amerikanischen Pass… Aber geistig fühle ich mich als Ukrainer… Die Ukraine ist für mich der Ort, wo ich das Gefühl der Verbindung mit meinen Vorfahren haben kann…“
04. April 2018 // Oksana Lewantowytsch
Quelle: Ukrajinska Prawda – Schyttja