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Großer Nicht-Vaterländischer Krieg

Ewige Flamme am Grab des Unbekannten Soldaten
Erich Maria Remarque verbrachte die Jahre des Zweiten Weltkriegs in den USA.

Einen New Yorker Nachtclub in der Kriegszeit beschrieb er so: „Im Nachbarraum spielte ein Wiener Musikant deutsche und österreichische Lieder und sang sie auf Deutsch, obwohl Amerika mit beiden Ländern, mit Deutschland und Österreich Krieg führte. In Europa wäre so etwas ausgeschlossen gewesen. Den Sänger hätte man sofort hinter Gitter ins Gefängnis oder Konzentrationslager gebracht, oder ihn einfach auf der Stelle gelyncht. Aber hier sangen die Soldaten und Offiziere, die sich an diesem Abend im Publikum befanden, mit Enthusiasmus die Lieder des Feindes mit, soweit ihnen das in der fremden Sprache möglich war.“

Dieses Bild erfreut die patriotischen Ukrainer wahrscheinlich wenig, die die „Sprache des Feindes“ brandmarken, mit der russischen Kulturproduktion hadern und gewohnheitsmäßig im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg appellieren: „Stellen Sie sich vor, man hätte 1942 in Moskau deutschen Interpreten gelauscht!“

Uns fällt es schwer uns an den Gedanken zu gewöhnen, dass derselbe Krieg auch völlig anders ausgesehen haben kann.

Es fällt uns schwer, uns den Krieg außerhalb der stereotypen Vorstellungen der begrenzten Stalin’schen UdSSR und Hitlerdeutschlands vorzustellen. Und in diesem Sinne unterscheidet sich unser Landsmann mit dem roten Mohn nicht sonderlich von einem Russen mit dem Sankt-Georgs-Band.

Man meint, dass mit dem Tausch des 9. Mai gegen den 8. die Ukraine den sowjetischen großen Vaterländischen gegen den globalen Zweiten Weltkrieg tauscht. Aber faktisch bleiben alle konservativen Schablonen, festen Bewertungen und gewohnten Emotionen in uns bestehen.

Das ukrainische historische Narrativ, das zum Tausch des „Großen Vaterländischen“ führte hätte ihn besser nicht „Zweiten Weltkrieg“, sondern richtiger „Großer Nicht-Vaterländischer Krieg“ nennen sollen. Im Grunde ist es immer noch die gleiche grobe Legende, nur mit negativem Vorzeichen.

Darin ist immer noch genau soviel begrenztes, oberflächliches und schwarz-weißes, nur dass Schwarz und Weiß die Plätze getauscht haben. Die guten Leute wurden zu schlechten und umgekehrt.

Wenn Schukow früher ein tadelloser Held war, so wurde er nun zum Verbrecher und Mörder. Während früher Bandera ein Verbrecher und Mörder war, wurde er jetzt zum tadellosen Helden.

Während die Deutschen früher das infernale Böse verkörperten, so wirken sie jetzt wie das kleinere Übel vor dem Hintergrund der teuflischen Sowjets.

Während der Krieg früher auf eine große Ruhmestat der sowjetischen Nation hinauslief, so kommt nun eine große Heldentat der ukrainischen Nation heraus, die trotz allem für die Unabhängigkeit kämpfte.

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Aber die Hauptrolle bei der Umdeutung des Krieges spielt nicht der Durst nach Wahrheit und Erkenntnis, sondern unser Bestreben, die frühere ideologische Orientierung schnellstmöglich zu zerstören.

Im Ergebnis demontieren die Ukrainer erfolgreich die sowjetische Auffassung des Großen Vaterländischen Kriegs, aber der vielgesichtige Zweite Weltkrieg bleibt für uns die gleiche Terra incognita wie für den unwissenden sowjetischen Menschen.

Wir streiten ob Pjotr Poroschenko Winston Churchill ähnelt, obwohl der Vergleich der kriegführenden Ukraine mit dem mächtigen kolonialen Imperium an sich schon absurd ist.

Viel logischer wäre es unser Land mit dem armen und problematischen Griechenland zu vergleichen, das 1940 das faschistische Ultimatum zurückwies und zur allgemeinen Verwunderung der vielgerühmten Armee Mussolinis eine Abfuhr erteilte.

Aber ein solcher Vergleich kommt den Sofa-Strategen aus einem einfachen Grund nicht in den Sinn: Die Mehrheit von uns weiß nichts von Ioannis Metaxas oder Alexandros Papagos. Das ist ein Teil des Zweiten Weltkriegs aber nicht des Großen Nicht-Vaterländischen.

Wir bemühen uns darum, Schande über unsere ausländischen Gegner zu bringen, indem wir besonders betonen, dass Stepan Bandera im Konzentrationslager der Nazis saß.

Dies scheint uns ein eisernes Argument zu sein, das jegliche ideologische Vorwürfe gegenüber der Organisation Ukrainischer Nationalisten und ihrem Anführer beseitigt.

Leider wirkt dieses Argument nur im Rahmen des Großen Nicht-Vaterländischen Krieges überzeugend, aber nicht für den Zweiten Weltkrieg.

Weil es im Zweiten Weltkrieg die rumänische „Eiserne Garde“ gab, die blutige Judenprogrome in Bukarest organisierte. Und es gab den Anführer der „Eisernen Garde“ Horia Sima, der im Konzentrationslager Buchenwald saß.

Wir betrachten die tragische Geschichte der Karpaten-Ukraine (1939 für ein paar Stunden vor dem Einmarsch Ungarns ausgerufenes Staatsgebilde auf dem Gebiet des heutigen Transkarpatiens, das damals zur Tschechoslowakei gehörte) als etwas Einzigartiges und in deren Betonung bemerken wir die offensichtlichen Parallelen zur Ersten Slowakischen Republik nicht, die 1939 gegründet wurde und bis 1945 bestand.

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Die naive Vorstellung über den Großen Nicht-Vaterländischen Krieg zwingt uns um die ukrainische Unabhängigkeit zu trauern, die im Keim erstickt wurde.

Aber der Zweite Weltkrieg regt uns an darüber nachzudenken, wie unwürdig die Geschichte des ukrainischen Staates aussehen würde, wenn Vater Augustin Woloschin doch das Ersehnte erstritten hätte – ähnlich wie sein slowakischer Kollege Monsignore Jozef Tiso.

Wir rühmen uns unserer intellektuellen Überlegenheit gegenüber den Russen, weil wir auf die sowjetischen Militärführer schimpfen können und über die Legende der 28 Panfilow-Leute spotten.

Aber darüber hinaus hat niemand von uns etwas über den holländischen Admiral Doorman gehört, der sich während eines dramatischen Gefechts in der Javasee weigerte, sein sinkendes Flaggschiff zu verlassen.

Oder von der Schlacht um die Aleuten-Insel Attu, wo es den Amerikanern gelang gerade einmal 28 japanische Wehrdienstleistende gefangen zu nehmen. Die anderen zweieinhalbtausend starben im erbitterten Kampf und widersetzten sich bis zuletzt.

Dieses Theater des Zweiten Weltkriegs existiert nicht für die russischen Verteidiger des Großen Vaterländischen Kriegs und nicht für unsere Verfechter des Großen Nicht-Vaterländischen Kriegs.

Es versteht sich von selbst, dass die Rede nicht davon ist, dass jeder fortschrittliche Ukrainer Experte für die Geschichte des 20. Jahrhunderts sein muss.

Aber der „Zweite Weltkrieg“ und der „Große Nicht-Vaterländische Krieg“ sind nur eine zufällige Begebenheit, die ein größeres und wichtigeres Problem illustriert.

Es ist ein Beispiel für die zivilisatorischen Alternativen, vor denen unsere Gesellschaft steht.

Als Erbe der UdSSR blieb uns ein außerordentlich begrenztes und primitives Bild des Weltgebäudes.

Es erlaubte uns nicht uns eine adäquate Vorstellung des menschlichen Universums zu machen, den wahren Platz für die Ukraine auf der Weltkarte zu finden, die ukrainischen Erfahrungen mit fremden zu vergleichen, andere Länder und andere Menschen mit anderen Geschichten zu verstehen.

Aber jetzt, in der Epoche der Globalisierung und der offenen Informationsgesellschaft, haben wir alle Chancen das Verpasste nachzuholen.

Die ukrainische Sicht auf die Welt kann man um das Zehnfache erweitern, sie mit Hunderten neuen Gedanken erweitern, sie mit der Kraft frischer Farben und Farbtöne aufblühen lassen.

Man kann aber auch einen anderen Weg wählen: unser Bild in der gleichen Begrenztheit und Primitivität belassen, aber Moskau zum Trotz alle Akzente um 180 Grad verschoben.

Die Wahl ist an uns.

8. Mai 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Anja Blume — Wörter: 1065

Anja Blume ist Sozialpädagogin und übersetzt - zwischen eigener poetischer Tätigkeit - auch immer wieder Märchen und Lieder aus dem Russischen ins Deutsche. Ehrenamtlich ist sie im Bereich der internationalen Jugendarbeit tätig.

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