Gegen sechs Uhr Abends komme ich ins Restaurant „Rathaus“, um den Raum für die nächste Vorlesung im Rahmen des Aufklärungsprojektes „Jüdische Tage im Rathaus“ vorzubereiten. Zum Erstaunen der Organisatoren und Partner ist diese Reihe von Bildungsveranstaltungen sehr beliebt unter Lwiwern und Touristen geworden. Also außer dem Testen des Mikrofons, der Klimaanlage und des Beamers, musste man auch dafür sorgen, dass es genug Platz für alle gibt, da jede Vorlesung von ca. 70-100 Leuten besucht wird. Genau in dem Moment, als ich die Stühle aufstelle, kommt mein Freund Jaroslaw, um etwas kurz zu besprechen. Er guckt sich im Saal um und ist erstaunt, dass er so groß ist: „Kommen wirklich so viele Leute zu diesen euren jüdischen Dingens?“ Und wiederholt den Satz, den ich schon mehrmals hören musste: „Wie viele dieser Juden es doch gibt!“
Jaroslaw weiß nicht, dass die Geschichte der Juden in Lwiw und die Geschichte Lwiws in der Tat untrennbar sind. Vor einem Jahr hatte ich selbst davon nicht gewusst, bis ich zur Mitarbeit an der Förderung des Projektes eingeladen wurde. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass vor dem Zweiten Weltkrieg über 33 Prozent der Bürger der Stadt Juden waren. Sie waren die stadtschaffende Gemeinschaft, diejenigen, die das Gesicht der Stadt gestalteten. Trotz des beliebten unter den Touristen „jüdischen Viertels“, wohnte die jüdische Gemeinde überall. Vor dem Kriegsbeginn funktionierten hier jüdische Unternehmen, auf den Straßen war Jiddisch zu hören, in der Stadt wirbelte das richtig vielfältige Leben.
Jaroslaw wusste auch nicht, dass das geistige Leben der jüdischen Gemeinde nicht nur auf die paar Meter der in ganz Europa berühmten Goldenen-Rose-Synagoge passte. Genau wie ich, hat mein Freund nicht gehört, dass noch vor 70 Jahren in Lwiw ein paar Dutzend Synagogen verschiedener Glaubensrichtungen funktionierten. Wo sind sie jetzt?
Letztendlich, wo sind all die 33 Prozent der Bürger der Stadt, die sie mitgestaltet und mit ihren einmaligen Sinnen gefüllte haben? Sie gibt es nicht mehr. Sie hat, wie man einfach erraten kann, der Holocaust genommen. Weder ich, noch Jaroslaw, noch die Mehrheit von uns, wissen, dass in diesem, offenen für die Welt, Lwiw sich ein riesiges Konzentrationslager befand. Mehr als 300.000 Stimmen verstummten auf dem Weg durch das KZ für immer. Wichtig ist auch zu betonen, dass über das Janiw-Todeslager (Zwangsarbeitslager Lemberg-Janowska, A.d.R.) vor allem führende westliche Forscher und weniger die ukrainischen sprechen.
Aber was wissen wir? Irgendwann haben wir über den Krakauer Markt gehört, der fast vollkommen auf der Stelle des ältesten jüdischen Friedhofs gebaut ist. Hier ist alles symbolisch. Die Nazis haben die Zerstörung der jüdischen Gräber begonnen und die sowjetische Macht hat sie endgültig zerstört. Die einen benutzten die Grabsteine – Mazewot – für die Pflasterung der Straßen, die anderen legten sie als Plattenfundament für die sowjetischen Göttergestalten. Sie haben zerstört, einen Markt gebaut und dachten, sie löschen die Geschichte der jüdischen Präsenz in Lwiw für immer aus dem Gedächtnis.
Wenn man heute zufällig ein Gespräch über die Verlegung des Markts und die Schaffung eines Gedenk-Komplexes an der Stelle, an der den dort begrabenen Lwiwern würdig gedacht werden sollte, beginnt, stößt man auf eine Mauer. Diese Mauer ist aus Ungebildetheit und Ignoranz gebaut. Und auch aus der kompletten Abwesenheit von Empathie. Leute, die gewohnt sind, mit Fleisch oder „Second-Hand“ auf dem Krakauer Markt zu handeln, werden wie taub, wenn sie von diesem Thema hören. Ein wichtiger Fakt: Vor kurzem wurde gerade in der Mitte des Markts (also in der Mitte eines jüdischen Friedhofes) eine christliche Kapelle eröffnet. So ist es also.
Warum ist es so? Woher kommt dieses „Wie viele dieser Juden gibt es denn!“? Was erlaubt uns Sakralbauten einer religiösen Gemeinde auf der Stelle zu bauen, wo die Vertreter einer anderen begraben sind. Warum ist ein Jude in unserem Bewusstsein immer noch eine negative Figur des Krippenspiels und der Protagonist aus Anekdoten. Warum nicht der Nachbar? Warum ist schon seit fast zehn Jahren die „Jüdische Kneipe“ erfolgreich, die auf groben Stereotypen über diese Gemeinschaft parasitiert und trotz der Kritik von überall keinen Schritt zurück von ihren fremdenfeindlichen „Erfindungen“ geht?
Die Antwort ist einfach – Unwissen. Unwissen und Ungebildetheit. Und dazu soll man hinzufügen – die Unlust zu wissen.
Wir schwiegen und wollten zu sowjetischen Zeiten nichts wissen. Wir beschränkten uns auf das in den 1990er Jahren aufgestellte Monument an der Tschornowil-Allee, das übrigens auf Initiative der Juden selbst entstanden ist. Danach kamen wir überhaupt nicht mehr dazu. Wir haben aktiv das Bild der „ukrainischen Stadt Lwiw“ konstruiert, mit Fackelzügen und dem schnell aufgestellten bronzenen Bandera.
Die „Jüdischen Tage im Rathaus“ finden schon zum zweiten Mal statt. Lektoren und Lektorinnen aus der ganzen Welt erzählen Interessierten über verschiedene Sachen – vom Bild des Juden in der Lwiwer Literatur aus der Zwischenkriegszeit bis zu den blutigen Pogromen im Juli 1941. Diese Vorträge lösen hitzige Debatten aus. Und es ist nicht so wichtig, welche Gedanken dort geäußert werden, sondern viel mehr die Tatsache, dass das Thema besprochen wird. Offen und laut. Obwohl erwähnt werden soll, dass die akademische geschichtliche Gemeinschaft von Lwiw die Treffen mit ihren besten Kollegen traditionell ignoriert. Und in dieser Mehrstimmigkeit fehlt eindeutig ihre Position, die sie mit Nachdruck in ukrainischsprachigen Publikationen für den „inneren Verbrauch“ propagieren.
Und schon am 4. September wird in Lwiw ein öffentlicher Gedenk-Bereich eröffnet, der den Namen „Raum der Synagoge“ bekommen wird. Im Rahmen von diesem Projekt werden den Lwiwern und den Besuchern die Symbole des schrecklichsten Verbrechens gegen die Menschheit neu gezeigt – die Reste der während des Holocausts zerstörten Goldenen-Rose-Synagoge und des jüdischen Lehrhauses. Das ist auch eine Aussage. Und auch eine Erinnerung. Erinnerung daran, wohin die Aufteilung in die „polnische Geschichte Lwiws“, seine „ukrainische Geschichte“ oder die „Geschichte der einheimischen Juden“ führt. Wir haben eine gemeinsame Geschichte, ein gemeinsames Erbe und eine gemeinsame Verantwortung dafür. Da eine reife Gesellschaft nicht nur auf die wunderschöne Architektur und die interessante Geschichte stolz ist, sondern keine Angst hat, die Verantwortung für die schändlichen und blutigen Seiten der Vergangenheit zu übernehmen.
Verschweigen und Vergessen sind eine Art von Lüge. Und mit der Lüge kommt man nicht weit. Also rufe ich dazu auf, endlich offen und ehrlich zu sprechen. Es ist nie zu spät, damit zu beginnen. Jaroslaw und ich wissen das jetzt.
2. August 2016 // Wolodymyr Bjehlow
Quelle: Zahid.net
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