Der aus der Gefangenschaft befreite Wladimir Schemtschugow: „Ich hoffe, dass ich wieder leben kann.“
Der Partisan1 Wladimir Schemtschugow tritt gegen einen Draht und fliegt in die Luft. Durch die Explosion verliert er beide Unterarme sowie sein Augenlicht. Seinen gesamten Körper durchbohren Minensplitter. Um nicht gefasst zu werden, versucht er sich das Leben zu nehmen – ohne Erfolg. Er findet sich zunächst auf der Intensivstation eines Lugansker Krankenhauses auf separatistischem Gebiet wieder, später im Gefängnis.
Wladimir sitzt auf einem weißen Bett des chirurgischen Zentrums der öffentlichen Verwaltung. Ihm gegenüber sitzt seine 77-jährige Mutter. Diese weint ununterbrochen, seufzt und wischt sich die Augen mit einem Tuch: „Ich dachte, ich würde ihn nicht mehr rechtzeitig wiedersehen. Die Gesundheit ist auch nicht mehr wie früher.“ Nicht weit von uns wuselt seine Frau Lena hin und her, organisiert Treffen, spricht mit den Ärzten.
Wladimir Schemtschugow ist am 17. September aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Er wurde gemeinsam mit einem Mitglied der UN-Mission im Donbass, Jurij Suprun, nach dem Modus „zwei für vier“ ausgetauscht. Jetzt steht Wladimir nicht nur die Wiederherstellung der eigenen Gesundheit bevor, sondern auch des Glaubens daran, das Schlimmste überstanden zu haben: Frau und Mutter, die beide die ganze Zeit für ihn gekämpft hatten, sind endlich bei ihm. Wären seine beiden Selbstmordversuche erfolgreich gewesen, hätte dies ihre Leben sinnlos gemacht.
Wann begann für Sie der Krieg?
Im April 2014 fuhren wir zu Ostern zu meiner Mutter in der Lugansker Oblast (zu der Zeit lebten er und seine Frau bereits einige Jahre in Georgien). Dort gab es überall Blockaden. Als ich mit den ortsansässigen Posten sprach, begriff ich: ein Krieg ist unvermeidbar. Nachdem ich mit meiner Frau zurück nach Georgien gefahren bin, habe ich alle mit meiner Arbeit zusammenhängenden Angelegenheiten geregelt und bin nach Hause zurückgekehrt, also in den Krieg. Im Mai wurde ich Aufklärer der Ukrainischen Streitkräfte.
Sie hatten Ihr eigenes Unternehmen, Sie hatten sich gut in Georgien eingelebt. Warum haben Sie dennoch beschlossen, alles liegen zu lassen und in den Krieg zu ziehen?
Ich habe viel in Leitungspositionen gearbeitet, konnte aber so nicht weiter machen – ich habe mich ständig aufgeregt und dachte, dass ich mir noch einen Herzinfarkt anarbeite. Mit 42 habe ich mich dann selbstständig gemacht. Mir ging es in Lugansk auch nicht schlecht, ich produzierte Kunststoff und Deckel. Und dann wurde ich nach Georgien eingeladen. Ich wollte dort eigentlich nicht lange bleiben: Mir hat einfach die Gegend gefallen – meine Frau und ich fahren gern Ski in den Bergen und ans Meer. Also beschloss ich, mich ein wenig zu erholen.
Und zog in den Krieg, flüstert seine Mutter und seufzt.
Als mir bewusst wurde, dass in meinem Vaterland der Krieg begonnen hatte, hatte ich bereits einen hinter mir. Ich war während des russisch-georgischen Konflikts in Georgien, sah diesen im Fernsehen, hörte von diesem über meine Kollegen, lebte in den Folgen des Krieges. Ich habe während des Krieges auch gelitten, weil mich alle für einen Russen hielten (was gemäß meiner Nationalität auch stimmt), ungeachtet dessen, dass ich ein Bürger der Ukraine war. Ich hatte bereits in meiner Jugend genug von der sowjetischen Propaganda, interessierte mich für Geschichte. Dann erkannte ich eines Tages, dass ich in meinem Leben bereits alles Wichtige erreicht hatte: Ich hatte ein Haus gebaut, einen Baum gepflanzt, die Tochter war groß und ich beschloss, dass es an der Zeit war, Familie und Vaterland zu verteidigen.
Sie haben sich vorgeworfen, nicht am georgischen Konflikt teilgenommen zu haben?
Zum Teil, ja. Ich erinnere mich, wie einmal an einem ganz normalen Arbeitstag der Bruder eines Mitarbeiters aus einem Keller in Zchinwali anrief, um mit den Worten „Wir haben keine Patronen mehr“ Lebewohl zu sagen.
Wie hat Sie das verändert?
Krieg ist durch die Geschichten der Menschen, die Dich umgeben, immer traumatisch. Die Georgier sagten, die Russen brächten sie um. Und ich war unter ihnen ein Russe. Das war nicht einfach.
Glauben Sie, Sie haben die Idee, mit welcher Sie 2014 in den Krieg zogen, umsetzen können?
Ich wurde das ständig von den „Lugansker MGBlern“ (Mitarbeiter des „Ministeriums für Staatssicherheit der ‚Lugansker Volksrepublik‘“ – Autorin) gefragt. Das war hart, ich kämpfte die ganze Zeit um mein Leben. Ich habe keine Arme, keine Augen. So zu leben, ist hart. Aber ich sage Ihnen, was ich auch damals denen gesagt hatte: Ich bereue nichts. Ich würde trotz allem wieder in den Krieg ziehen. Ich wusste, worauf ich mich einließ: Ich hatte vorsorglich mit einem Notar eine Vollmacht aufgesetzt. Ich war bereit, zu sterben, war aber nicht auf derart schwere Verletzungen vorbereitet. Die ersten drei Monate waren sehr hart für mich. Ich wollte mir das Leben nehmen. Ich konnte mir nicht vorstellen, meiner Familie eine derart große Last aufzubürden. Während der Befragungen haben sie Druck auf mich ausgeübt, baten Angehörige, mich davon zu überzeugen, Buße zu tun und auszusagen. Dann hat man mich einfach mit Kriminellen ins Gefängnis gesperrt. Sie versuchten, mich mit einer Gefängnisstrafe von 22 Jahren einzuschüchtern, aber ich hatte so viel durchgemacht, dass mir das egal war. Und ich hatte auch keine Angst davor, im Gefängnis zu sterben.
Wie war Ihre letzte Mission?
Am 28. September machte ich mich nach Lugansk auf, um eine 8-KW-Stromleitung, die von Russland zu einem Militärflughafen und einer kleinen Stadt führte, zu sprengen. Ich kam in der Nacht zum 29. dort an, platzierte eine Mine, die am nächsten Tag detonieren sollte. Auf dem Rückweg schlug ich mich am Wegesrand durch die Bäume und trat gegen einen Sprengdraht. Mir wurden beide Unterarme abgerissen und ich verlor mein Augenlicht. Ich war die ganze Zeit über bei Bewusstsein, fühlte, wie mein Blut floss – ohne Ende. Ich drehte mich auf den Rücken und verabschiedete mich vom Leben. Nachdem ich aber 20 Minuten gelegen hatte, begriff ich, dass ich noch am Leben war und das Blut zu gerinnen begann. Ich wollte vor allem nicht gefangen genommen werden, weshalb ich beschloss, mir das Leben zu nehmen. Ich kroch zum Weg, den die „Ural“-Kolonne immer nahm, legte mich auf den Rücken und wartete darauf, dass sie mich überfahren.
Aber man hat Sie entdeckt …
Die „Ural“-Kolonne kam tatsächlich, ich habe sie am Geräusch der Räder erkannt. Aber sie hat mich umfahren und muss jemandem Bescheid gegeben haben. Zehn Minuten später hat mich ein Auto aufgesammelt. So bin ich auch auf der Intensivstation des Krankenhauses der Lugansker Oblast gelandet. Dort starb ich auch das zweite Mal: Ich hatte eine Peritonitis (Bauchfellentzündung), den Ärzten aber wurde gesagt, mich nicht sterben zu lassen. Man behielt mich ständig im Auge und schließlich holte man mich aus dem Jenseits zurück.
Sie haben mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Wann ist Ihnen bewusst geworden, dass es sich nicht lohnt, es weiter zu versuchen?
Ich bin mir bis jetzt nicht ganz sicher, ob es sich wirklich nicht lohnen würde. Wenngleich es für meine Angehörigen sehr schwer ist, das zu hören. Mental geht es mir nicht gut mit diesen Verletzungen. Ich bin ein Invalide ersten Grades, habe vollständig meine Eigenständigkeit verloren. Beim Suizid ist das Wichtigste die Entscheidung. Hast Du Dich entschieden, fühlst Du Dich erleichtert. Ich erinnere mich daran, dass das Schwierigste war, zum Asphalt zu kriechen und mich unter die Kolonne zu legen. Und als ich mich schließlich hinlegte, dachte ich „So, bald kommt der Tod und alles wird leichter“. Das zweite Mal hatte ich erst lange über meinen Selbstmord nachgedacht, als ich allein im Krankenzimmer lag. Ich hatte den Schlauch vom Tropf zwischen die Zähne genommen und dachte lange darüber nach, ob es sich lohnen würde, es zu tun. Dann hatte ich mich entschieden, habe den Schlauch durchgebissen und begann, in diesen zu blasen. Aber ich wurde gerettet. Ich schrie, brüllte, bettelte, dass man mich erschießen möge.
Warum dachten Sie, dass man dies nicht sowieso tun würde?
Ich musste am Leben sein, um zu reden, um Informationen preiszugeben, um als Beweis herhalten zu können.
Aber sie müssen doch verstanden haben, dass Sie keine strategischen Informationen preisgeben würden?
Sie gingen davon aus, dass ich ein Mitarbeiter des GUR (militärischer Geheimdienst), der Streitkräfte oder des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU), ein Agent der Auslandsaufklärung wäre. Als ich das mitbekam, machte mich das auch ein bisschen stolz – als wäre ich James Bond. Aber ich bin einfach ein Patriot, der etwas gegen die Okkupation tun wollte. Als die ortsansässigen Separatisten mich voller Erstaunen fragten: „Warum kämpfst Du gegen uns? Du bist doch ein ehemaliger Bergmann, Du kommst doch von hier.“, antwortete ich: „Ich bin nicht gegen euch, ich bin gegen die russische Welt“.
Vielleicht hatte man Sie auch festgehalten, weil Sie für einen Austausch ein „wertvoller“ Gefangener waren?
Wahrscheinlich. Bevor die GRU-Mitarbeiter (GRU = russischer Militärgeheimdienst) für Sawtschenko ausgetauscht wurden, verhielten sie sich mir gegenüber besser. Nach dem Austausch wurde ich direkt in das Lugansker Gefängnis überführt.
Unter welchen Bedingungen lebten Sie im Gefängnis? Wie verhielten sich die Gefangenen Ihnen gegenüber?
Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal. Ich bekam sofort Probleme mit der Haut, Läuse sprangen einen an, so dass man sich die Haare kurz scheren musste, es gab Darmerkrankungen. Die Gefängnismitarbeiter haben ständig versucht, mir einzureden, dass mich meine Familie nicht brauche, dass sie mich vergessen hätten, dass die ukrainische Regierung auf mich spucken würde. Sie wussten einfach nicht, dass ich eigentlich nicht irgendein stinknormaler Partisan war. Ich hatte ausgesagt, dass ich seit 2015 als Partisan unterwegs war, tatsächlich war ich aber bereits seit Mai 2014 als Aufklärer auf dem okkupierten Gebiet aktiv. Ich war der Kommandant einer Partisaneneinheit und für einen großen Teil der Sabotagetätigkeiten in der Lugansker Oblast war meine Einheit verantwortlich.
Wer saß mit Ihnen ein? Waren im Gefängnis auch Menschen aufgrund ihrer politischen Überzeugungen?
Es gab eine „separatistische“ Strömung innerhalb der Separatisten (interne Auseinandersetzungen – Autorin). In einer benachbarten Zelle saßen Kosaken aus Krasnyj Lutsch mit Sergej Kosorog (dem früheren Kommandanten von Krasnyj Lutsch, der von den Leuten von Igor Plotnizkij, dem Führer der ‚Lugansker Volksrepublik‘, entführt wurde – Autorin), die früheren Banditen Kaban und Tajson. Heute sitzen im Lugansker Gefängnis 1800 Menschen ein, etwa 800 von ihnen sind Kosaken oder aus der Volkswehr.
Du musst es ja wissen, seufzt Jelena Iwanowna.
Wladimir beachtet seine Mutter nicht und fährt mit seiner Erzählung fort:
Es gab auch politische Gefangene – die, deren Meinung von der Mehrheit der Separatisten abwich. Zwischen Kriegsbeute und Plünderungen, müssen Sie wissen, existiert nur eine sehr feine Linie.
November vergangenen Jahres erschien im Internet ein Video zu Ihrer Befragung. Sie bekannten sich darin, ein Partisan zu sein sowie zu ein paar Anschlägen. Entspricht das, was Sie darin sagten, der Wahrheit oder ist das eine speziell konstruierte Geschichte, die Sie unter Folter erzählen sollten?
Für den Fall des Scheiterns (einer Operation – Autorin) hatten wir immer vorbereitete Antworten parat. So sollte der Anschlag, in dessen Zuge ich gefangen genommen wurde, für den Feind meine erste und einzige Aktion sein: Gemäß dieser Version sei ich an einer Grenzkontrolle gefasst worden, sei auf mich Druck ausgeübt, mir gedroht worden und habe man mich gezwungen, mich gegen meinen Willen handeln lassen. Aber dann haben sie mein Handy und meinen Computer geknackt, auf denen Programme der Sicherheitsdienste waren. Da sind sie dann von selbst drauf gekommen. Danach begannen sie, psychischen Druck auf mich auszuüben: Sie wollten, dass ich ihnen die Zugangscodes für die Programme gebe. Ich wurde nicht geschlagen, denn das wäre kontraproduktiv gewesen, da ich in einem sehr schlechten Zustand war. Da meine erste Geschichte aufgeflogen war, habe ich angefangen, mir eine zweite zusammenzubasteln. Damit sie mir glaubten, musste ich dafür Lüge und Wahrheit ein wenig vermischen. Dazu musste ich mich zur Sprengung der Stromleitung, die den Lugansker Flughafen versorgte, bekennen. Sowie zu zwei weiteren Anschlägen auf die Eisenbahn. Wenn man mich fragte, was ich jeweils über die konkreten Fälle wusste, habe ich bei jeder Einzelheit zunächst immer sorgfältig geprüft, ob sie etwas darüber wussten. Erst dann habe ich irgendwas zugegeben.
Ihre Familie wusste auch nicht, was Sie machten?
Nein. Hat es aber wahrscheinlich erraten.
Wie hat man auf Sie reagiert, nachdem das alles bekannt wurde?
Sie waren wütend, vor allem, da ich trotz allem nicht sämtliche Fragen beantwortet habe: Ich hatte ihnen weder die Codes ausgehändigt, noch irgendwen verraten oder alle Anschläge aufgelistet. Ich war der einzige Partisan, den sie während der gesamten Zeit in der Lugansker Oblast fassen konnten. Es ist eine Schande, dass ich sie so lange für die Okkupation, für die getöteten Zivilisten sühnen ließ, und dann auf so dumme Weise in ihre Hände fiel. Sie konnten keinen Partisanen finden, da die Aufzeichnungen über uns in den staatlichen Behörden vernichtet wurden. Daher konnte ihnen auch ein Zugang zu den Archiven nicht weiterhelfen und sie darüber informieren, wer genau die Anschläge verübt hat.
Gibt es zum jetzigen Zeitpunkt in der Lugansker Oblast Partisaneneinheiten und droht ihnen Gefahr?
Momentan sind die Partisanen sehr aktiv, aber es besteht keine Gefahr. Selbst wenn ich dem Feind etwas zu meiner gescheiterten Mission erzählt hätte, würden ihm diese Informationen nicht weiterhelfen. Ich weiß selbst nicht, wer mir die Sprengladung übergeben hat. Alles läuft anonym ab. Ich bin in der Nacht zum 29. gefangen genommen worden, am 29. wussten bereits alle aus unserem Netzwerk von meinem Scheitern. Und haben alle losen Enden aus dem Weg geräumt. Alle meine Freunde sind am Leben und gesund.
Die Spezialausbildung hat Ihnen in Gefangenschaft geholfen, diese Informationen nicht preiszugeben?
Ich konnte einen Monat lang durchhalten. Ich wurde nach fast jedem Anschlag verhört: Mit wem hast Du in Rowenki zusammengearbeitet? Ich antwortete, dass ich es nicht wisse. Und ich wusste es wirklich nicht. Dann wurden mir aber Drogen injiziert, die mich gesprächiger machten. Am meisten fürchtete ich, zum Verräter zu werden. Ich weiß bis heute nicht, was ich genau erzählt habe und was ich verschweigen konnte. Ich erinnere mich nur daran, wie ich über meinen Dienst in der sowjetischen Armee erzählte.
Hatten Sie nicht zumindest ein klein bisschen gehofft, dass man Sie aus dem Gefängnis holt?
Im Mai hörte ich, dass die ‚Lugansker und Donezker Volksrepubliken‘ nach den Wahlen und der Amnestie einen Gefangenenaustausch planten. Für mich war da klar, dass ich wahrscheinlich nicht freigelassen werden würde. Also begann ich, mich auf das Lagerleben einzustellen. Ich begann, Sachen zu horten: Wasserkocher, Unterwäsche. Mir wurde gesagt, dass ich in die 19. Zone in eine Baracke für Invaliden kommen würde.
Gelang es Ihnen, mit Ihrer Frau zu kommunizieren?
Die MGBler dachten nein. Aber ich erinnerte mich an die Telefonnummer meiner Frau, auch wenn ich das nicht zugegeben hatte. Als ich im Krankenhaus lag, fand ich gute Menschen, die die Kranken besuchten und mir erlaubten, meine Frau anzurufen. Ich bat sie, das Telefon auf das Kissen zu legen, ich legte mich dann auf die Seite und sprach mit meiner Frau. Wenn die Wachen an meinem Zimmer vorbeikamen, gaben sie mir ein Zeichen und ich schwieg, bis sie weg waren. Von Januar bis Mai konnten wir so hin und wieder miteinander telefonieren. Meine Frau war zu dieser Zeit schon in der Ukraine – sie warf ihre Arbeit und alle anderen Dinge in Georgien hin, tat alles für meine Freilassung. Im Gefängnis wurde dieses Problem mit schwarzem Tee und Zigaretten gelöst: Meine Frau ließ mir diese Dinge ständig zukommen und ich habe mit den Gefangenen vereinbart, dass sie sie manchmal anrufen und mitteilen, dass mit mir alles in Ordnung sei. Da in meiner Zelle aber eine Wanze war, wurde ich nach den Anrufen immer „gefilzt“. Seit August war die Verbindung zu meiner Frau vollkommen abgebrochen.
Jelena Iwanowna, an wen haben Sie sich gewandt, um Wladimir freizubekommen, wem haben Sie geschrieben?
Ja, wir waren überall: Im Zentrum zur Freilassung Gefangener, beim Roten Kreuz, beim Präsidenten, dem SBU. Jelena Iwanowna zuckt mit den Schultern und schweigt.
Wladimir, wie haben Sie erfahren, dass Sie ausgetauscht werden sollen?
Am 16. September 2016 kam abends der Leiter der Krankenstation in die Zelle und gab den Gefangenen den Befehl, mich in Ordnung zu bringen. Mich machte stutzig, dass er die Ausführung seines Befehls selbst überwachte. Ich dachte zuerst, dass man mich ans Gericht überstellen würde: Zu der Zeit fanden in Krasnodon die ersten Verhandlungen statt. Ich hatte sogar eine Rede vorbereitet und plante, sie alle mit „Ihre Ehrlosigkeit“ anzusprechen. Krasnodon ist die Geburtsstätte der Junggardisten, die gegen die Okkupation kämpften. Also, hätte ich Ihnen ein Lied gesungen:
Ich schaue zum Himmel und mir kommt ein Gedanke:
Warum bin ich kein Falke, warum kann ich nicht fliegen …
Warum sehe ich den blauen Himmel nicht … (Text von M. Petrenko)
Wladimir seufzt und bricht ab.
Ich saß also da: rasiert und gewaschen. Dachte, dass am Morgen Journalisten oder vielleicht eine Kontrollkommission kommen würde. Und plötzlich kam jemand und befahl, meine Sachen zusammenzupacken. Mir war es eigentlich gar nicht mehr so wichtig, ob ich ausgetauscht werde oder nicht.?
Wann verstanden Sie, dass Sie nach Hause fahren?
Ich habe es überhaupt nicht kapiert. Ich wartete die ganze Zeit auf Provokationen, dachte, dass sie mit mir spielen. Als sich Graham Phillips (Brite, der im Dienste der russischen Propaganda arbeitet, A.d.R.) an mich wandte, begriff ich, dass es sich möglicherweise um einen Austausch handeln könnte. Ich habe aber nicht daran geglaubt, nach Hause zu kommen, solange zumindest nicht, bis mich meine Lena umarmte und mir sagte: „Meine Sonne, mein geliebter Igelkopf.“
Wie empfinden Sie die enorme Aufmerksamkeit seitens der Journalisten?
Gelassen. Die letzten Gefangenen wurden im Februar ausgetauscht, daher gab es schon länger keine Leute für Interviews. Das liegt sicher auch daran, dass ich mich trotz meiner schweren Verletzungen deutlich ausdrückte. Vielleicht auch, weil ich keine Angst habe, ich weiß es nicht. Die ersten drei Monate konnte ich meine Verletzungen nur schwer annehmen. Da ich aber keine Hoffnung hatte, nach Hause zurückzukehren, wo mir hätte geholfen werden können, musste ich mit allen eine gemeinsame Sprache finden. Jeder Tag war ein Überlebenskampf. Also rückte meine Verletzung in den Hintergrund und ich begann mehr darüber nachzudenken, wie ich am Leben bleiben konnte. Mein Kampf dort hält mich auch jetzt zusammen.
Wie sieht die Prognose der Ärzte aus?
Man muss den Magen (aufgrund der vielen Splitter muss ich einen speziellen Gürtel tragen) wiederherstellen, anschließend die Augen operieren (das geht nur im Ausland), dann über Prothesen und darüber, wie das durchbohrte Trommelfell wiederhergestellt werden kann, nachdenken. Bislang ist für mich alles kostenfrei. Aber ich habe keine Dokumente: Ich bin kein Mitglied der Streitkräfte, des SBU oder des Innenministeriums. Ich habe keine Sozialversicherung. Alles, was ich habe, ist das Wort des Präsidenten, dass man mich nicht fallen lassen würde.
Wir beenden das Gespräch, ich packe das Diktafon ein. Wladimir sagt nach einer langen in Gedanken verlorenen Pause:
Das war sehr hart. Seine Stimme zittert.
Er erinnert sich daran, wie er vor Kurzem für eine Radioübertragung ins Zentrum von Kiew fuhr, als aus einem vorbeifahrenden Wagen ein Mann ausstieg, ihn umarmte und sagte: „Wladimir, halte durch, wir haben Dich nicht vergessen!“ Zu gleichen Zeit gingen zwei Mädchen vorbei und baten darum, mit ihm fotografiert zu werden. „Die Ukraine wird Euch nicht vergessen!“ Wladimir kann sich nicht mehr zurückhalten und die Tränen fallen. Er wischt sie schnell mit dem Arm weg.
Das war sehr hart. Ich weiß nicht, ob ich zurecht kommen werde. Ich hoffe, dass ich es irgendwann wieder kann … leben.
29. September 2016 // Margarita Tulul
Quelle: Lewyj Bereg
1 Anmerkung: Vor der Freilassung von Wladimir Schemtschugow am 17. September 2016 hieß es, dass er nur für persönliche Sachen noch einmal nach Krasnyj Lutsch gefahren sei nachdem er seine Mutter bereits ins Regierungsgebiet gebracht hatte und sich bei seiner Frau nicht wie verabredet zurückmeldete. Seiten der dritten Sorte behaupteten damals bereits, dass er am 29. September 2015 bei einem missglückten Anschlag gefasst wurde, aber dass er russischer Staatsbürger sei.
Wladimir Schemtschugow ist inzwischen zur weiteren Behandlung in Deutschland.