Das Gespenst des Kommunismus


Der 100. Jahrestag des bolschewistischen Umsturzes ist kein schlechter Anlass, um eine Zwischenbilanz der ukrainischen Entkommunisierung zu ziehen. In den zweieinhalb Jahren des Kampfes mit Lenin und Hammer und Sichel haben sich zwei verschiedene Sichtweisen innerhalb des fortschrittlichen Teils der Gesellschaft durchgesetzt.

Eine von ihnen hält die Entkommunisierung für einen epochalen Schritt, der eine riesige Bedeutung für das Land hat. Für die anderen ist die Entkommunisierung eine Entweihung, die mit bürokratischen, sowjetischen Methoden realisiert wird und nicht für eine Ausmerzung des totalitären Bewusstseins geeignet ist. Doch tatsächlich widersprechen beide Bewertungen einander nicht. Es ist hinreichend einfach dies anzuerkennen.

Der Ausdruck „Entkommunisierung“ dient in der Ukraine als Euphemismus für die Benennung eines anderen wichtigen Prozesses – der Dekolonisierung.

Von der Sache her unterscheiden sich die Vorgänge bei uns nicht so sehr von den früheren Entkolonisierungsmaßnahmen in Osteuropa, Lateinamerika, Asien oder Afrika. Dabei sind die Losungen, von denen die Dekolonisierung begleitet wird, selbst vielfältig.

In unserem Falle dient die antitotalitäre Rhetorik der Form, doch vom Inhalt her ist es der Kampf mit den Spuren der imperialen Herrschaft. Eben in dieser Weise muss die gesamte Tätigkeit der einheimischen Entkommunisierer gesehen werden. Beispielsweise ist es völlig logisch, dass im Laufe der Entkommunisierung die Straßen von (Alexander) Suworow und (Michail) Kutusow (russische Herrführer des 18./19. Jahrhunderts, A.d.R.) verschwinden. Zur gleichen Zeit kommt niemanden in den Sinn die Prospekte (Pawel/Pawlo) Tytschinas oder (Nikolaj/Mykola) Baschans (sowjetische Poeten, ukrainischer Herkunft, A.d.R.) zu entkommunisieren – ungeachtet der von ihnen während des Holodomors geschriebenen „Die Partei führt“ und „Ein Mensch steht im sterntragenden Kreml“. Sogar vor dem kommunistischen Regime kapitulierend und sein Talent in den Dienst des Totalitarismus stellend, wurden die ukrainischen Klassiker nicht mit dem imperialen Einfluss assoziiert und rufen keine Ablehnung hervor – im Unterschied zu den zaristischen Feldmarschällen.

„Der Kommunismus ist ein Avatar des russischen Imperialismus“, diese Äußerung des Direktors des Ukrainischen Instituts für nationales Gedächtnis gibt wie keine andere die Philosophie von Entkolonialisierung-Entkommunisierung wieder. In diesem Vergangenheitsbild gibt es keinen Klassenhass, keinen Klassenkampf, kein inniges Träumen von der hellen Zukunft – es gibt nur eine verschlagene Maskierung des Imperiums. Der Weg in die sowjetische Hölle ist nicht mit guten Absichten gepflastert, sondern mit bewusster imperialer Heimtücke. Der bolschewistische Holodomor tritt nicht als direkte Folge der Kollektivierung auf, sondern ausschließlich als Frucht der stalinschen Ukrainophobie. Das Kapital von Marx hat weitaus weniger Bedeutung, als die Anordnung des Rats der Volkskommissare der UdSSR und des Zentralkomitees der Kommunistische Allunions-Partei (Bolschewiki) zur Russifizierung der nationalen Schulen.Und wahrscheinlich ist, dass sogar die Pariser Kommunarden, die klassenfeindliche Geiseln bereits 1871 erschossen, bei näherer Betrachtung lediglich als Marionetten von Zar Alexander II. erscheinen …

Nun ja, die ukrainische Entkolonialisierung, die taktvoll „Entkommunisierung“ benannt wurde, erfüllt erfolgreich ihre Funktion – die Loslösung von der ehemaligen Metropole.

Insofern sind die Anstrengungen der Entkommunisierer tatsächlich effektiv und, wenn man den fortdauernden hybriden Krieg mit der Russischen Föderation berücksichtigt, vollkommen gerechtfertigt. Doch leider steht das alle in keiner Beziehung mit der Bekämpfung des totalitären Denkens. Eher im Gegenteil.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Geschehens wird eine linkstotalitäre Renaissance in der verarmten Ukraine noch wahrscheinlicher.

Die weltweite Erfahrung zeugt davon, dass für eine diskreditierte Ideologie die Menschen besonders empfänglich sind, die diese Ideologie nicht erkennen und mit dem eigenen „Ich“ verbinden können. Nach dem Zweiten Weltkrieg Österreichern gesagt, dass ihr Land kein Beteiligter des Nationalsozialismus, sondern ein Opfer der hitlerschen Besatzer war. Die Deutschen der DDR wurden davon überzeugt, dass sie achtbare Antifaschisten und Thälmann-Anhänger seien, die unter Hitler nicht weniger als andere gelitten haben. Infolge dessen erlangen heute ultrarechte, fremdenfeindliche Parteien im Osten Deutschlands und in Österreich eine Rekordzahl an Wählerstimmen. Die Logik des österreichischen oder ostdeutschen Wählers ist einfach: Nazis, das sind schlechte Burschen, Feinde, die unsere Großväter unterdrückt haben, doch wir stimmen für die guten Burschen von der Freiheitlichen Partei Österreichs und der Alternative für Deutschland, die unsere Interessen vertreten.

Im Verlaufe vieler Jahre wurden die Russen gelehrt, stolz auf den „historischen Sieg über den Faschismus“ zu sein. Infolgedessen billigt die russische Gesellschaft fremdenfeindliche und militaristische Rhetorik bereitwillig und unterstützt leidenschaftlich diktatorischen Methoden und freut sich über die Annexion der Krim. Dabei werden faschistische Ansichten in der Russischen Föderation nicht als solche identifiziert. Die Logik des Einwohners des Nachbarstaates ist einfach: Faschisten sind Bastarde und Feinde, die versuchten das russische Volk während des Großen Vaterländischen Krieges auszurotten, doch wir unterstützen unseren Führer, der Russland von den Knien erhebt.

Etwas derartiges lässt sich auch in unserem Land beobachten.

Unter dem Deckmantel der „Entkommunisierung“ erzieht uns die einheimische Entkolonialisierung die Assoziation der kommunistischen Ideologie mit der Ukraine und den Ukrainern ab.

Im allgemeinen Bewusstsein setzt sich das Axiom fest, dass ein Kommunist ein fremder Unterdrücker, ein Diener des Imperiums, ein hinterhältiger nördlicher Nachbar ist. Als Folge dessen werden linkstotalitäre Ansichten in der unabhängigen Ukraine einfach nicht als kommunistische identifiziert werden.

Bereits jetzt ziehen die einheimischen Schergen des aggressiven Kollektivismus es vor, sich „rechts“ zu nennen. Die „Rechten“ halten einen freien Verkauf von Land für ein Verbrechen und träumen von einer Entkulakisierung der fettgefressenen Krämer. Die „Rechten“ demonstrieren eine völlige Missachtung für das Privateigentum und das private Unternehmertum, wenn die Angelegenheit Sprache, Kultur oder andere delikate Fragen betrifft. Die „Rechten“ denken und handeln bolschewistisch – doch sind sie sich dessen nicht bewusst. Ihre Logik ist einfach: Kommunisten sind böse imperiale Schurken, die danach streben unsere Nation zu vernichten, doch wir sind progressive ukrainische Patrioten, die nach Gerechtigkeit dürsten.

Der Ironie des Schicksals nach bewahren die Überreste der postsowjetischen Selbstwahrnehmung die Ukraine vor einer scharfen linkstotalitären Schlagseite.

Unsere kreative Klasse, die mit den liberalen Werten der Perestroika und der 1990er aufwuchs, ist noch in der Lage den Kommunismus mit dem eigenen „Ich“ zu verbinden. Aufrufe zur Gleichmacherei und des Angriffs auf das Privateigentum hörend, erinnert sich der intelligente Bürger mittleren Alters sogleich an das Jahr 1917 mit der Ankunft der Scharikows (Polygraf Polygrafowitsch Scharikow ist eine lächerliche Figur in der Erzählung „Hundeherz“ von Michail Bulgakow, A.d.Ü.) – und fühlt einen Abstoßungsreflex.

Doch im ruinösen Krieg wächst im Land eine neue Generation Ukrainer heran, die sich aneignen, dass der Kommunismus überhaupt nur ein „Avatar des russischen Imperialismus“ sei. Und diese neue Generation kann die einfachsten und radikalsten sozioökonomischen Rezepte wählen, die überhaupt nicht mit der anrüchigen kommunistischen Ideologie assoziiert werden.

Wie weit dieser Prozess geht und was dabei herauskommt, ist schwer zu prognostizieren. Doch an einem braucht man nicht zu zweifeln: In der Ukraine werden sich die Kommunisten der Zukunft ernsthaft selbst für Antikommunisten halten.

5. November 2017 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1080

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