Was empfindet ein normaler Mensch, wenn man über die Opfer der Stalin-Ära spricht? Über die, die während des Holodomors ums Leben kamen, erschossen wurden, in den Lagern starben?
Seelenschmerz. Mitleid und Trauer. Abscheu vor einem System, dem Millionen Leben zum Opfer fielen.
Doch mit der Arbeit an sich selbst, kann man diese natürlichen menschlichen Gefühle unterdrücken.
In unserem Nachbarland Russland hat man gelernt, auf eine tiefsinnige Art über die Opfer Stalins zu sprechen, die Vernunft und Sachlichkeit erkennen lässt.
Ja, zu Beginn der 1930er Jahre starben Millionen Menschen vor Hunger, aber dafür gelang es der UdSSR in kurzer Zeit erfolgreich eine leistungsfähige Industrie aufzubauen.
Ja, Stalin war ein Diktator und agierte mit repressiven Methoden, doch diese rigide Politik entsprach ihrem historischen Moment und zeigte ihre Effektivität während des Krieges.
Ja, durch Stalin wurden die Krimtataren und andere Völker deportiert, doch waren diese Deportationen die gerechte Strafe für Kollaboration und eine Alternative zu spontaner Rache…
Vielleicht ist das der abscheulichste Teil des post-sowjetischen Narratives. Insbesondere des post-sowjetischen Narratives, da die totalitäre UdSSR als solche noch immer keine ausdrückliche Rechtfertigung des Kannibalismus gefunden hat.
Es hat Millionen Untertanen vernichtet, doch das Sowjetregime blieb ein schamhafter Mörder, der versucht seine Verbrechen zu vertuschen.
Gewiss gibt es auch für Stalin und Co eine Akte, wie für jeden beliebigen Verbrecher, allerdings wurden ihre grausamen Gründe nicht nach außen getragen.
Sie ließen im Kreml glauben, dass man Bauern aufgrund der Zwangsindustrialisierung missachten kann. Doch öffentlich wurde das nie gesagt.
In offiziellen Darstellungen gab es den Hunger 1932-1933 überhaupt nicht und Millionen Menschen starben nicht an ihren Leiden. Es wurde ebenso sorgfältig wie andere Grausamkeiten des Regimes geheim gehalten.
Die massenhaften Repressionen, die Gulags, die politischen Morde im Ausland, die geheimen Protokolle zum Molotow-Ribbentrop-Pakt, das Massaker von Katyn, die Deportationen missliebiger Volksgruppen – sämtlicher Dreck und alles Blut, das an den Händen des Sowjetregimes klebt, wurden sorgfältig aus dem historischen Gedächtnis entfernt.
Die offizielle Geschichte der UdSSR war durch und durch verlogen. Aber manchmal ist eine Lüge der zynischen Offenheit und den dunklen Flecken der Vergangenheit vorzuziehen – das ist nun einmal der Fall.
Es ist besser erst gar nicht an die Verbrechen des NKWD in Katyn zu glauben, an die Gaskammern in Auschwitz oder an die ethnischen Säuberungen in Wolhynien, als sie zu glauben und behaupten „Sie haben es verdient“.
Dass wir fremde Verbrechen verschweigen und verleugnen, heißt, dass die Rede von etwas für den Menschen Unzumutbarem ist. Aber in dem wir sie anerkennen und rechtfertigen, sagen wir uns von allen moralischen Tabus los.
Genau diese Lossagung von Tabus führte zu einer positiven Revision sowjetischen Geschichte in den 2000ern. Während der Perestroika und in den 1990ern kamen zu viele Tatsachen über die Vergangenheit ans Licht, die sich nicht mehr verschweigen ließen, sodass an die Stelle des Leugnens das Rechtfertigen trat.
Während die UdSSR öffentlich rehabilitiert wurde, erschien es, dass für den Aufbau einer Supermacht absolut alles erlaubt ist.
Es wurde vertretbar, dass mehrere Millionen Bauern dazu verdammt waren an Hunger zu sterben. Es wurde vertretbar, dass sich im ganzen Land Lager befanden und Massenhinrichtungen durchgeführt wurden. Es wurde vertretbar, dass ganze Völker vertrieben wurden. Es wurde vertretbar, dass man heimlich mit den Nazis über die Aufteilung Osteuropas verhandelt hat. Das Paradoxe ist, dass in dieser UdSSR eine solche prosowjetische Rhetorik erschreckend gewesen wäre.
Der sowjetische Mythos ermöglichte es dem Menschen die moralische Orientierung zu behalten – zum Preis des Nichtwissens.
Der postsowjetische Mythos lässt eine solche Möglichkeit nicht zu.
Den unwissenden Spießbürgern in der Ära der Stagnation gebührt Nachsicht, sind sie doch von der realen Geschichte abgeschnitten. Sie haben nie vom Holodomor gehört und nie die Ausmaße des stalinistischen Terrors gesehen.
Der moderne Nutzer von sozialen Medien redet eifrig von „gerechtfertigten Opfern“ und „notwendigen Repressionen“ und löst dabei nichts außer Ekel aus.
Heutzutage wird eine prosowjetische Haltung oft mit einer geistigen Rückkehr in die Vergangenheit assoziiert, zur Blütezeit der Sowjetunion. Doch genauso ist es nicht.
Man darf nicht in die Zeit, zu vorheriger wohltuender Unwissenheit und naivem Idealismus, zurückkehren. In den 1970er Jahren hatte die Mehrheit der Sowjetbürger keine Ahnung davon, dass die Welt, in der sie aufgewachsen sind, mit einer unglaublichen Brutalität und Verachtung für das menschliche Leben auf Leichen aufgebaut worden war. Sie konnten sich loyal zur sowjetischen Ordnung verhalten, aber trotzdem nicht die Schergen entschuldigen, ohne dabei ihre eigene Seele zerstören.
Und wer das sowjetische Regime im 21. Jahrhundert lobpreist, lädt automatisch die Last fremder Verbrechen auf sich. Derjenige weiß um den wahren Preis des kommunistischen Experiments und sollte sich selbst davon überzeugen, dass die Leichenberge eine normale und zulässige Praxis für den Staatsaufbau sind. Derjenige kann nicht ohne überzogenen Zynismus und Amoralismus auskommen. Und derjenige wird a priori noch viel schlimmer sein als der berüchtigte „Sowjetmensch“, den er angeblich nachmacht.
In den Nullerjahren sah Putins Russland nicht wie die Sowjetunion aus. Es verwandelte sich in ein vollkommen neues Land, in dem die Rechtfertigung des Bösen zum gesellschaftlichen Mainstream geworden ist. Dabei konnte die massenhafte ethische Deformation, die mit dem Blick auf die Vergangenheit verbunden ist, nicht die Wahrnehmung der Gegenwart beeinflussen.
Nach der Annexion der Krim und des Beginns eines hybriden Krieges waren viele von den Reaktionen der russischen Gesellschaft auf das Geschehen schockiert.
Ein bedeutender Teil der Ukrainer konnte kaum glauben, dass die Handlungen des Kremls auf glühende Unterstützung stießen, dass unter denjenigen, die Putin applaudierten unsere Bekannten, Verwandten, Kollegen, Kultur- und Kunstschaffende, sogar ehemalige moralische Autoritäten waren.
Warum konnte man den Level der Grausamkeit und des Zynismus der Nachbarn nicht abschätzen? Vielleicht, weil im vaterländischen Bewusstsein noch das Bild der Mitbürger aus Zeiten der Perestroika vorhanden war und nicht alle zeigten, welche Entwicklung der frühere russische „Sowok“ (Homo Sovieticus) seitdem durchgemacht hat.
Lange vor dem Krieg verlor die russische Gesellschaft den letzten Rest an Sentimentalität, den sie sich seit der spätsowjetischen Zeit bewahrt hatte.
Lange vor dem Krieg wurde die bedingungslose Verdammung des Bösen als naiv und lächerlich angesehen, die Rechtfertigung von Massenmorden jedoch als Zeichen von Vernunft.
Lange vor dem Krieg standen unsere Nachbarn vor der Wahl: Behalten sie die übliche Darstellung darüber, was zulässig und unzulässig ist, oder erschaffen sie sich einen neuen historischen Mythos.
Die überwiegende Mehrheit hat sich für das Zweite entschieden. Und ich möchte glauben, dass sich die Ukraine nie in dieser Lage wiederfinden wird wie unsere Nachbarn, in der uns attraktive Mythen gegen unsere Menschlichkeit angeboten werden.
25. November 2016 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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