Petro Poroschenko, Foto: Facebook Swjatoslaw Zeholko
„Wenn der Staat etwas von dir braucht, dann nennt er sich Vaterland“. Im postsowjetischen Raum hat sich der Aphorismus des Schweizers Friedrich Dürrenmatt eben in dieser, leicht umformulierten Form, eingelebt. („Vaterland nennt sich der Staat immer dann, wenn er sich anschickt, auf Menschenmord auszugehen“,
hieß es ursprünglich bei Dürrenmatt. A.d.Ü.)
Es versteht sich, dass es für jede Staatsmaschinerie leicht ist, im Namen des Vaterlandes zu handeln. Doch sich Vaterland zu nennen ist zu wenig, notwendig ist, dass dieser Status von der Gesellschaft anerkannt wird. Und wenn es im benachbarten Russland niemals Probleme mit der Ineinssetzung von Staat und Vaterland gab, so gelangte die unabhängige Ukraine erst vor drei Jahren dahin.
Im Verlaufe vieler Jahre blieben die aktiven Ukrainer spontane Libertäre. Die Staaten Kutschmas oder Janukowitschs wurden eindeutig als feindliche Strukturen begriffen, einheimische Staatsangestellte und Angehörige der Sicherheitsorgane als unsere Hauptgegner und die Ignorierung der staatlichen Verbote, Steuerhinterziehung und das Drücken vor dem Wehrdienst waren die Pflicht eines jeden vernünftigen Menschen.
Doch dann begann das schicksalsträchtige Jahr 2014. Mit dem Beginn der russischen Aggression fanden sich die nichtgleichgültigen Bürger unerwartet auf einer Seite der Front zusammen mit den Bewohnern der Petschersker Höhen (Regierungsviertel in Kiew, A.d.Ü.). Die Staatsgewalt erwies sich als lebensnotwendig, die vorher verdächtigten Angehörigen der Sicherheitsorgane wurden zu Helden, Staatsangestellte in strengen Anzügen zu Verteidigern der Ukraine in der internationalen Arena. Es fand ein Wunder statt: der energiereichste Teil der Gesellschaft, jahrelang mit dem Staat kämpfend, erkannte ihn als Vaterland an und stärkte ihm den Rücken.
Im Frühjahr 2014 eröffneten sich dem Staatsapparat wahrhaftig unbeschränkte Möglichkeiten. Der Staat erhielt grünes Licht in alle Richtungen. Man war bereit ihm alle vorher undenkbaren Vollmachten zu gewähren. Bei ihm tauchte eine Vielzahl freiwilliger Leistungen auf. Tausende von uns strebten danach dem schwerfälligen ukrainischen Leviathan zu helfen, dabei ihn größer, kräftiger und bissiger wünschend. Wenn sie oben versucht hätten den Moment auszunutzen, um etwas wirklich hartes und totalitäres zu errichten, so wäre das leider Gottes vollkommen realistisch gewesen. Jedoch hat die Geschichte anders verfügt.
Anfänglich folgten leidenschaftliche Flitterwochen zwischen der Gesellschaft und der Staatsmaschine. Die gestrigen Aufständischen traten in die offiziellen Sicherheitsstrukturen ein, in den obersten Kabinetten landete ein Freiwilligentrupp, in den sozialen Netzwerken kreisten berührende Selfies mit den neuen Polizisten. Danach ging die Euphorie zurück. Die Enthusiasten entdeckten, dass sie für den Heimatstaat Fremde blieben, gegen staatliche Funktionen vorgehen und das staatliche Ansehen untergraben. Viele schockierte die bekannte Präsidentenrede, als das Staatsoberhaupt es für notwendig erachtete zu unterstreichen, dass der Sieg auch „ohne Freiwillige“ hätte erreicht werden können.
Und so sind wir schlussendlich zu einer Situation gelangt, in welcher der pikierte Leviathan sich leicht an den gesellschaftlichen Aktivisten rächt, indem er sie dazu zwingt, e-Deklarationen abzugeben. Man kann lange über die zugelassenen Fehler sinnieren, doch allem Anschein nach war die stürmische Romanze der Gesellschaft mit dem Staat von Anfang an zum Misserfolg verdammt. Denn die Transformation des ukrainischen Staates in das Vaterland wurde auf dem Maidan und den Petschersker Höhen unterschiedlich aufgefasst.
Den Staat mit dem Vaterland gleichsetzend, haben die Patrioten ihm eine Carte blanche für radikale Handlungen und radikale Änderungen gegeben. Doch zeigte sich, dass es für die staatliche Maschine wesentlich komfortabler ist, die wunderbare Verwandlung in das Vaterland anders zu nutzen – als Carte blanche für fehlende Änderungen. Als Möglichkeit die gewohnten Spielregeln beizubehalten und sich gleichzeitig vor dem gewohnten Hass zu verteidigen, dabei auf den Konflikt mit dem äußeren Aggressor verweisend.
Sogar der korrupt, inkompetent und komplett verfault bleibende ukrainische Staat wird trotzdem der eigene sein – ist das denn wirklich nicht genug, um ihn zu unterstützten, wenn ihn der feindliche Staat Putins bedroht? Das Vaterland kann man nicht wählen und es ist in Gefahr!
Zum Teil hat sich diese Logik bewährt. Ja, die aktiven Ukrainer sind enttäuscht, uns blieben fast keine Hoffnungen auf einen schnellen Reset des Staates und niemand idealisiert ihn. Dennoch begann man den ukrainischen Staat in gewisser Weise als einen kollektiven Somoza anzusehen: „Ein verdammter Hundesohn, doch es ist unser Hundesohn“. Der Staatsmaschine, die dem Kreml gerade so stand hält, wird trotzdem vieles verziehen, was wir dem fremden Staat der Zeiten Kutschmas und Janukowitschs nicht verziehen hätten.
Die Mehrzahl der patriotischen Bürger stimmt damit überein, dass eine innere Destabilisierung der Ukraine zu einem unschätzbaren Geschenk für die Russische Föderation werden würde. Welche Abneigung der existierende staatliche Mechanismus auch hervorruft, seine Zerstörung wird als freiwilliges oder unfreiwilliges Zuspiel an den Gegner aufgefasst. Und der bewusste Teil der Gesellschaft hält sich mit jeglichen Attacken auf den Staat zurück, dabei jedoch keinen Versuch auslassend unseren nichtsnützigen Leviathan zu bändigen.
Das Elend besteht darin, dass der Anzug des Vaterlandsverteidigers zu bequem für den Staat wurde: ihn anprobierend, hat man auf den Petschersker Höhen offensichtlich das Gefühl für das richtige Maß verloren. Jedes Scheitern der Staatsmaschine, jeder Korruptionsskandal, jedes Spucken in das Gesicht der Bürger wird von patriotischen Mantras begleitet, Erinnerungen an die Gefahr aus dem Kreml und aufdringlichen Aufrufen das Boot nicht zum Kentern zu bringen. Derweil erhöht eine derartige Taktik nur das Destabilisierungsrisiko.
„Das Vaterland ist in Gefahr, wir müssen uns unbedingt um die Staatsmacht scharen“, das ist der stärkste Trumpf, den man präsentieren kann. Er ist unersetzbar in außergewöhnlichen Situationen wie den Präsidentschaftswahlen 2014, als das ganze Land sich darauf stürzte den legitimen Pjotr Alexejewitsch (Poroschenko) im ersten Wahlgang zu wählen. Doch den Patriotismus in eine schmierige Karte verwandelnd und die Sache auch noch aus dem Ärmel ziehend, entwertet der Staat ihn. Und je mehr er ihn missbraucht, um so höher die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Trumpf im entscheidenden Moment nicht funktioniert.
Schlussendlich ist das patriotische Dilemma zwischen der Nichtakzeptanz des eigenen Staates und der Furcht dem Feind zuzuspielen, nicht ganz so unlösbar. Es reicht zu sich zu überzeugen, dass der staatliche Hundesohn nicht der unsere ist, dass sich oben verschwörerische Kremlagenten eingegraben haben und die Zerstörung der staatlichen Institute nicht nur nicht dem kämpfenden Vaterland schadet, sondern auch dabei hilft, den Krieg zu gewinnen.
Bislang wird diese gefährliche These nur von dem infantilsten und exaltiertesten Teil der Bürger unterstützt. Doch der ukrainische Staat macht zu viel für ihre Popularisierung – jedes Mal, wenn er versucht seine Geschwüre und Makel mit dem stolzen Namen des Vaterlandes zu überdecken.
14. April 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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