Gibt es Gerechtigkeit?


„Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat“, lehrt das Alte Testament.

„Alles nehmen und teilen!“, erklärt Polygraf Polygrafowitsch Bellow.

„Wenn der Nachbar meine Kühe stiehlt, ist das böse. Wenn ich die Kühe des Nachbarn raube, ist das gut“, bekräftigt der eingeborene Hottentotte, der sich mit dem europäischen Missionar unterhält.

Wir haben drei verschiedene Konzepte einer gerechten Einstellung zum Eigentum vor uns. Eben das Eigentum ist der Grundstein, der das Tempo und den Charakter der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt. Die Sorge um das Eigentum versteckt sich hinter lauten politischen Losungen und der Kampf um den Besitz ist der eigentliche Inhalt der neuesten ukrainischen Geschichte.

Natürlich gibt es interessantere Beschäftigungen, wie das Hissen roter Fahnen, die Beschädigung von Denkmälern, Auseinandersetzungen um die Sprache oder die neumodischen Rituale in Cholodnyj Jar. Einige glauben wirklich, dass diese spannenden Spiele die Zukunft unseres Landes bestimmen. Aber dadurch, dass man dem Orchester der Titanic das Spielen einer Melodie verbot und zur nächsten überging, wurde das Versinken des Kreuzfahrtschiffs in den Tiefen des Ozeans auch nicht verlangsamt.

Wenn es übrigens um wirtschaftliche Probleme geht, demonstrieren die Liebhaber bunter Fahnen, die Verehrer Banderas und Stalins, die Verteidiger von Kultur und Sprache rührende Einigkeit: Sie alle brennen auf Gerechtigkeit!

Aber wie sieht diese, sehnlich erwünschte, Gerechtigkeit aus? Wie kann man sie erreichen?

Die Gerechtigkeit des Oligarchen ist es, möglichst viele Aktiva dank seines Verstands, seiner Energie und Geschicklichkeit zusammenzuraffen.

Die Gerechtigkeit des sowjetischen Proletariats ist es, Materialien aus den heimischen Fabriken zu stehlen.

Die Gerechtigkeit des ukrainischen Beamten ist es, Schmiergeld für die von ihm ausgeübte Tätigkeit zu bekommen.

Die Gerechtigkeit des Kiewer Taschendiebes ist es, ein fremdes Portemonnaie oder Mobiltelefon zu stehlen.

Die Gerechtigkeit des Unterhaltsberechtigten ist es, auf Staatskosten zu leben.

Die Gerechtigkeit des Geschäftsmanns ist es, sich um die Zahlung von Steuern zu drücken.

Die Gerechtigkeit des Büroplanktons ist es, ein hohes Gehalt allein aufgrund seiner schieren Existenz zu bekommen.

Da sie eine subjektive Kategorie ist, kann die Gerechtigkeit nicht zum hoffnungsvollen gesellschaftlichen Fundament werden. Nicht zufällig verliefen die Revolutionen in England, Frankreich und Russland nach einem ganz ähnlichen Szenario: Nach dem Sturz des ungerechten Regimes wurde klar, dass sich die Vorstellungen von der Gerechtigkeit unter den Revolutionären kardinal unterschieden. Die Unabhängigen mussten mit den Presbyterianern und den Levellern kämpfen, die Jakobiner mit den Girondisten und Thermidorianern, die bourgeoisen Republikaner mit den Blanquisten und Kommunitariern, die Bolschewisten mit den Sozialrevolutionären und Anarchisten.

Wir erinnern uns noch gut, wohin die Versuche des Aufbaus einer gerechten Gesellschaft auf einem Sechstel der Erdoberfläche führten. Ja, in den achtziger Jahren prahlten die Funktionäre der KPdSU nicht mit Luxusuhren von Patek Philippe, fuhren keine Bentleys und lagerten keine Millionen von Dollar im Ausland. Aber wegen der bescheidenen Wolgas und des freien Zugangs zu trockener Wurst rügte man die sowjetische Nomenklatura nicht weniger als die heutigen Oligarchen.

Und welche Feindseligkeit riefen die sozialistischen Berufssöhne hervor, die von Schewtschuk besungen wurden! Aber im Lichte der heutigen, elitären Muttersöhnchen erscheinen sie wie wahre Asketen und Desinteressierte.

Wie wir sehen, hängt das beständige Empfinden von Ungerechtigkeit nicht von den realen Maßstäben der Vermögensverteilung ab. Dafür ist es direkt mit den ökonomischen Problemen verbunden. Wenn die Schaufenster leer werden, erinnert man sich unfreiwillig der „Berjoska“ und der geschlossenen Spezialgeschäfte. Und wenn deine Tasche leer ist, schaust du viel interessierter in jene von Rinat Achmetow.

Das Gefühl der Ungerechtigkeit ist unausrottbar. Es kann nur auf eine Weise gedämpft werden – durch wirtschaftliches Wachstum, das so oder so den Wohlstand aller Bürger erhöht, wenn auch in verschiedenen Proportionen. Ein stürmisches Wirtschaftwachstum verdeckt die Kontraste der Besitzverteilung: Es genügt, sich an den industriellen Aufstieg der Vereinigten Staaten oder der rasanten Entwicklung im modernen China zu erinnern.

Absolute Gerechtigkeit ist eine unerreichbare Fata Morgana. Und insofern sollte die prioritäre Aufgabe nicht die gerechte Verteilung der vorhandenen Ressourcen sein, sondern die Schaffung neuer Güter. Was ist also unabdingbar für eine erfolgreiche ökonomische Entwicklung?

In unserer Welt geschehen keine Wunder und die Utopie des Marktes ist in keinem Sinne besser als die marxistische. Die Kommunisten hatten die Illusion des idealen Arbeiters, der bereit ist, für das Glück der abstrakten Werktätigen zu schuften. An die Stelle dieser sagenhaften Figur trat ein anderes Phantom – der ideale Kapitalist, der darauf brennt, dem Land eine Wohltat zu erweisen. Aber die Subjekte der Wirtschaftsbeziehungen sind nicht von hohen Idealen bewegt, sondern von sehr viel bodenständigeren Anreizen.

Der Bauer, welcher in die Kolchose oder die „Volkskommune“ getrieben wird, wird nicht eifrig arbeiten, damit die Früchte seiner Arbeit von einem Parteikämpfer für die Gerechtigkeit verteilt werden. Ein Unternehmen ist nicht an der Herstellung konkurrenzfähiger Produkte interessiert, wenn der Staat bewusst zu Hilfe eilt und alle Verluste begleicht. Und der Geschäftsmann kümmert sich nicht um den Aufstieg der Nationalökonomie, sondern um die eigenen Gewinne.

Natürlich erlaubt das Wachstum eine vielfache Steigerung der Gewinne. Aber ein solches Schema funktioniert nur unter einer Voraussetzung – wenn du überzeugt bist, dass die zukünftigen Gewinne aus deinen heutigen Investitionen dir zukommen und nicht irgendeinem Fremden. Diese Überzeugung geben verlässliche Eigentumsgarantien, ohne die eine produktive Marktwirtschaft undenkbar ist.

Dort, wo es keinen realen Schutz der Eigentumsrechte gibt, herrschen andere Stimulanzien. Jeglicher Besitz wird als feindliche Stadt betrachtet, die sich vorübergehend in deinen Händen befindet. Man muss sie schnellstmöglich ausplündern, solange niemand anderes das Territorium für sich beansprucht und du mit langer Nase zurückbleibst. Unter diesen Umständen sind die Mittel, welche in Modernisierung und Entwicklung fließen, aus dem Fenster geworfenes Geld.

Eben ein solches ökonomisches Modell hat in der Ukraine triumphiert. Der heimische Kapitalist will vorübergehenden Besitz in reale Werte verwandeln.

Der übliche Businessplan ist einfach: Vermögen anreichern, das Maximum aus dem rausholen, was es gibt, und das Geld schnellstmöglich ins Ausland schaffen, wo das Eigentum durch verlässlichere Mechanismen geschützt ist, ungeachtet von Abgeordnetennadel oder günstigen Bekanntschaften auf der Bankowaja.

In unserem Land hat die Macht das Recht vollkommen ersetzt, ist zum Synonym für Eigentum geworden. Jener, der Macht besitzt, verteilt den Besitz neu, indem er seine Vorstellungen von Gerechtigkeit verwirklicht. Zum Machtinstrument kann ein glühendes Bügeleisen, ein Raubzug, ein Anruf aus einem hohen Kabinett oder die Entscheidung des Ministerkabinetts über die Reprivatisierung werden – das Wesen der Sache ändert sich nicht.

Die unabhängige Ukraine existiert beinahe zwanzig Jahre, aber die Eigentumsrechte bleiben bis heute irgendwie trügerisch. So war es in den wilden Neunzigern, so setzte es sich in den Jahren der orangenen Führung fort, und heute erinnern die Nachrichten aus der kommerziellen Welt an Frontberichte.

Am witzigsten ist, dass die Regierungsmannschaft, indem sie die nächste Umverteilung des Besitzes absegnet, ernsthaft auf den Zufluss ausländischer Investitionen zählt. Präsident Janukowitsch lockt persönlich das ausländische Kapital in die Ukraine und lobpreist die sich entblätternden Damen. Offenbar nimmt Viktor Fedorowitsch an, dass Sexappeal eine mächtigere Stimulanz für Investoren ist, als transparente Regeln und strenge Eigentumsgarantien.

Im Übrigen ist die Naivität der Regionalen, die auf einen goldenen Investitionsregen warten, leicht zu erklären. Denn vom Standpunkt Janukowitschs und Co. aus, findet in der Ukraine nicht anstößiges oder destruktives statt. Wirkliche Machthaber sind gekommen, und der Sieger nimmt den für ihn vorgesehen Anteil. Die Aktiva, die von schlüpfrigen Fremden angereichert wurden, gehen über an gute, korrekte Jungs. Alles ist, wie es sein soll!

Die neuere Geschichte der Ukraine – das sind zwanzig Jahre der Umverteilung, welche die Entwicklung zerstört haben. Jede weitere Umverteilung der Ressourcen untergräbt die Achtung vor dem Eigentum, erhöht die Zahl der Unzufriedenen und schafft die Voraussetzungen für neue Teilungen.

Das Land kann dem Teufelskreis nur dann entkommen, wenn Machtwechsel nicht mehr von Neuverteilungen des Eigentums begleitet werden. Dafür sollte eine neue ukrainische Führung den existierenden Status Quo anerkennen und den Eigentümern klare Spielregeln vorlegen. Leider sollte man auf etwas derartiges wohl nicht zählen.

Die professionellen Kämpfer für das Glück des Volkes sind überzeugt, dass man das Feuer mit Kerosin löschen muss, dass man Gesetzlosigkeiten mit neuen Gesetzlosigkeiten beseitigen muss, und dass man, anstelle der unrechtmäßigen Bereicherung, die von der vorher herrschenden Elite organisiert wurde, seine eigene einrichten muss – eine ehrliche und gerechte.

Was erwartet uns im Falle eines Sturzes des jetzigen Regimes? Am ehesten eine weitere Überprüfung der Eigentumsrechte. Wahrscheinlich wird sie unter der Losung der Herstellung von Gerechtigkeit durchgeführt werden und anfangs das Wohlwollen des Volkes finden. Aber das Resultat bleibt unverändert – Zerstörung der Wachstumsstimulanzien, Kapitalflucht, weitere Verschlechterung des Investitionsklimas und Wegbereitung für weitere Umverteilungen.

Indem sie die nicht vorhandenen Eigentumsrechte austauscht, verurteilt die Chimäre der Gerechtigkeit die Ukraine zu einer ununterbrochen Einteilung jener Ressourcen, welche dem unabhängigen Land 1991 zugefallen sind. Und es scheint niemanden zu beunruhigen, dass dieses Erbe unerbittlich zusammenschmilzt.

25. April 2011 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Stefan Mahnke  — Wörter: 1427

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