Grund zur Hoffnung


Weder Vorwürfe noch Ermunterungen können den erlöschenden Glauben neu entfachen. Diese Worte einer berühmten französischen Romanautorin können voll und ganz auf die Situation in der modernen Ukraine übertragen werden. Konkrete soziologische Untersuchungen zeigen: unser Glaube erlischt mit der Notwendigkeit und Wirksamkeit von Straßenprotesten.

Das Zauberwort Majdan füllt sich immer mehr mit der grauen Farbe der Enttäuschung. Und mit Schmerz bei jenen, die Angehörige und Freunde verloren haben. Und je mehr die Politiker und ihre Technokraten versuchen, das Problem der niedrigen Umfragewerte mit der Ausnutzung „ihres“ vergangenen Sieges zu lösen, desto weniger bedeutungsvoll wird für den Großteil der Ukrainer das neue Wort „Visafreiheit“. So ist die Welt konstruiert: die Worte werden müde und nutzen sich ab, wie die Menschen müde und abgenutzt werden.

Heute müssen wir unbedingt verstehen, wo die Grenze der Verwüstung verläuft. Sonst wird die Verwüstung unserer Seelen unumkehrbar. Dort, wo um soziale Gerechtigkeit gekämpft wird, ist kein Platz für Philosophie. Gerade erleben wir genau so eine Zeit, die angefüllt ist mit abgenutzten Worten und unerfüllten Versprechen der Politiker. Der schlaue Polittechnologe (oder Sozialpsychologe?) Machiavelli bemerkte: Die Menschen sind so einfältig und gehorchen so den Bedürfnissen des Augenblicks, dass jemand, der gut betrügen kann, immer solche Leichtgläubigen findet, die sich betrügen lassen. Unsere Politiker betrügen uns in der Hauptsache schlecht, primitiv und ohne Beweise und vergessend, dass ihre gestrigen verlogenen Argumente genau das Gegenteil meinten.

So war es schon immer; die Führung log, die Kirche log. Zum Beispiel befahl die Kirche im mittelalterlichen Europa, woran man glauben sollte, hat es aber wenigstens ermöglicht, ein und denselben Glauben von der Geburt bis zum Tod zu behalten. Das 20. Jahrhundert erwies sich als wesentlich „bewegter“. Die totalitäre UdSSR, die die Gedanken und Worte ihrer Bürger kontrollierte, hielt sie nicht an einem Einzigen fest. Damals wurden indiskutable ideologische Dogmen aufgestellt, die sich aber ständig im Verhältnis zu den „Klasseninteressen“ änderten. So wurden verdiente Helden und Revolutionäre, die als Vorbild für Millionen dienten plötzlich zu „Volksfeinden“ und beendeten ihr Leben in den Erschießungszellen der Gefängnisse. Rehabilitationsanzeigen erhielten ihre Kinder und Enkel.

Historiker bestätigen: Die Bücher wurden vervielfältigt, aber der Glaube der lebenslustigen Gargantua und Pantagruel daran, dass Bücher den Krieg besiegen, hat sich nicht bewahrheitet. Dennoch denken wir das, heimlich unter den Bedingungen totalitärer oder anderer Diktaturen, unerschrocken und sogar öffentlich, wenn wir in demokratischen Staaten leben. Die Welt hat sich entwickelt, wenn es früher das Recht der Spaßmacher und Dummköpfe ausschließlich in der kurzen Zeit des Karnevals war, die Wahrheit zu sagen, können wir uns heute ständig dieses Rechts bedienen. Und nicht nur während Parlaments- oder Präsidentschaftswahlen. Wollen wir das? Das ist die Frage.

Der menschliche Geist, der sich ewige Seelenqualen in der Unterwelt für Sünder ausdachte, hat sich auch die zerstörte Hölle in Form der Buße ausgedacht. Um die Buße wissend lässt es sich leichter sündigen. Heute, in der posttotalitären Ukraine, hat sich das Phänomen der Buße materialisiert. „Osterchristen“ (Definition Sergej Awerinzews) sind kategorisch nichtgläubige Menschen, die sich von ihren Sünden und Fehlern durch das ständige Anhäufen privaten Kapitals und den Wechsel der Parteizugehörigkeit rein waschen. Umso mehr als es in der Ukraine ehrlich gesagt keine Parteien gibt. Wenn man sich einem ehemals verfeindeten politischen Clan anschließt, ist es nicht notwendig, die Ideologie zu wechseln. Es reicht, wenn man dem neuen Anführer „Treue bis zum Grab“ verspricht. Weil eine Ideologie in diesem besonders lukrativen Geschäft gar nicht existiert.

Vor sehr langer Zeit sagte Platon: „Der Weise braucht kein Gesetz, er hat die Vernunft.“ Eine strittige und sogar gefährliche Behauptung, insofern es immer außerordentlich wenig Nachfolger der Weisheit gibt, die sich unausweichlich auf moralische Postulate stützt. Der Großteil von uns erscheint wahrlich nicht weise. Das faktische Nichtvorhandensein eines Rechtsstaats in der Ukraine erlaubt es vielen, Willkür zu schaffen und in ihr zu leben. In einer Situation, in der der Garant der Einhaltung der Verfassung der Erste ist, der gegen die Verfassungsnormen verstößt, ist es schwer, Optimist zu sein.

Recht oft schalte ich abends oder nachts den Fernseher ein und schalte ihn stumm. Das ist ein Erwachsenen-Spiel, die Gesichter der ukrainischen Politiker zu beobachten und ihre Stimmen weg zu lassen. Mich beruhigt das.

Und trotz allem glaube ich an die Möglichkeit einer besseren Zukunft für mein Land, an die Menschen, die mich umgeben, die mit mir zusammenleben. Erst vor kurzem hat der Allerhöchste des seligen Gusar (gemeint ist der ehemalige Vorsteher der Griechisch-Katholischen Kirche Ljubomyr Husar, A.d.R.) zu sich genommen. Ich war unter den tausend Kiewern, die es als ihre menschliche Pflicht ansahen, sich von dem Weisen zu verabschieden. Fast drei Stunden habe ich auf diese paar Sekunden Abschiednehmen gewartet. In die Gesichter der Menschen schauend, die ruhig warten, bis sie mit dem Eintritt in die Kirche an der Reihe sind, Bruchstücke ihrer leisen Gespräche untereinander hörend erkannte ich: das Volk, zu dem auch ich mich zähle, ist in der Lage, seine überheblichen und bestechlichen Politiker zurechtzuweisen.

In Kiew, wo es vergleichsweise wenig Angehörige der Griechisch-Katholischen Kirche gibt, strömten Hunderttausende Einwohner zu einem für sie notwendigen Abschied von einem Menschen, den sie nicht persönlich kannten. Nicht von einem Hohepriester, von einem Menschen.

3. Juli 2017 // Semjon Glusman

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 853

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