Unser Herrgott gab uns die Ukraine. Wir haben sie nicht erobert, haben kein Blut für sie vergossen. Kein Mensch hat sie uns gegeben. Es war der Wille Gottes, die Freundlichkeit des Herrn. Die näheren Umstände sollten Historiker beschreiben. Aber die Ukraine ist anerkannt, sie existiert. Ich bin davon überzeugt, dass es nicht anders sein konnte.
Doch gefällt uns allen die derzeitige Ukraine? Wem steht es an, zu tadeln, dass sie nicht so ist, wie wir sie gerne sehen würden? Wie kam es dazu, dass die Ukraine nicht Bleibe für eine ausreichend große Anzahl von freien Menschen wurde, was allein ein untrügliches Anzeichen eines wirklichen freien Staats ist?
Viele haben immer noch Angst vor der Freiheit. Der eine hat sie sich bereits vor Langem abgewöhnt, der andere hat sich im Gegenteil bis heute nicht an sie gewöhnt. Die Mehrheit der Leute denkt nicht an die Freiheit. Da sie in einer anderen Gesinnung erzogen wurden.
Viele Male habe ich von unterschiedlichen Leuten gehört, dass wir Ukrainer begnadete Individualisten sind. Einzelgehöft, Familie, Boden, ein Garten – was ist eigentlich noch nötig, um nicht an das zu denken, was hinter dem Zaun ist, und nicht an diejenigen, die hinter dem Zaun sind. Der Boden ist so fruchtbar, dass es einem guten Bauern gelingt, als Einzelner so etwas wie eine eigene, selbstgenügsame kleine Welt aufzubauen. Dies schuf die zerbrechliche Illusion einer Freiheit für jeden und zwang die Menschen nicht dazu, für die Freiheit aller zu kämpfen. Die Freiheitsträume störten niemanden dabei, Sklave des eigenen Stückchen Landes zu werden.
Die Historiker sagen: Die Nationswerdung der Ukrainer, die vor allem Bodenbesitzer waren, ist Grundlage für den Mangel einer natürlichen Gewöhnung an Kollektivismus. Die Welt hat ihre Umstände und ihren Charakter geändert, aber die weitergegebenen Traditionen sind dennoch zu spüren.
Nach dem Zweiten Weltkrieg lebte ich in einem Flüchtlingslager auf österreichischem Territorium. Sehr lehrreich war es, zu beobachten, wie sich hier die Ukrainer und im Vergleich die Litauer verhielten. Die Litauer konnten ihre Probleme gemeinsam entscheiden, den Ukrainern fiel dies schwerer. Natürlich, die Litauer hatten, im Gegensatz zu uns, mindestens 20 Jahre Unabhängigkeit auf den Schultern getragen. Aber war dies der einzige Grund?
Manchmal arbeiten wir gut zusammen. Aus der Geschichte ist bekannt, dass die ukrainischen Militäreinheiten zu unterschiedlichen Zeiten recht geübt waren. Doch wenn es sich um Probleme im zivilen Leben handelte, ist es überraschend schwer, uns von der Notwendigkeit der Zusammenarbeit zu überzeugen. Das Leben hat die Bewohner unseres Landes gelehrt, sich zu verteidigen, aber nicht gemeinsam die uns umgebende Welt zu gestalten, wenn keine Gefahr droht. Es ist schwer, sich als Gemeinschaft zu fühlen, wenn der gemeinsame Feind fehlt. Ist also unbedingt ein Feind nötig, damit wir uns als wirkliche Familie fühlen, die nicht durch Abzäunungen persönlicher Wünsche, kleiner Ängste und absurder Vorurteile getrennt ist?
Für eine gewisse Zeit kann eine edelmütige Idee, ein herrliches Ziel und ein großartiger Kampf die Ukrainer vereinen. Hierfür sind viele bereit, das Letzte herzugeben, ins Gefängnis zu gehen, die Gesundheit zu riskieren, das Leben zu opfern. Gleichzeitig sind Dinge, die nicht weniger wichtig, aber scheinbar banaler und langweiliger sind, nicht in der Lage, dieselbe Leidenschaft, denselben Andrang, dieselbe Ergebenheit und Opferbereitschaft hervorzurufen. Wir sind bereit, für ein klar umrissenes, heroisches Ziel zu kämpfen, aber es ist uns nicht eigen, uns auf eine mühsame, tägliche gemeinsame Arbeit einzustimmen.
Ich führe ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung an: es ist sehr leicht, eine Kirche zu bauen, insbesondere wenn der Tempel Gottes errichtet wird. Dies wird eine Angelegenheit der ganzen Gemeinde, jeder einzelne Mensch gibt sich aufrichtig Mühe, sich an der Verwirklichung des Ziels zu beteiligen. Doch wenn der Kirchenbau vollendet ist, verblasst dieser Stimulus. Zu welchem Zweck sollte man sich zusätzlich Sorgen machen, wenn das Ziel erreicht wurde? Doch wenn der Tempel Gottes errichtet ist, hört das Leben der Pfarrei nicht auf. Im eigentlichen Sinne beginnt es erst.
Welche Verbindung sehe ich zwischen gemeinsamer Arbeit und der Freiheit? Eine direkte. Die Freiheit ist nicht ein Wert an und für sich. Freiheit ist der Umstand, der einem erlaubt, Mensch zu sein. Freiheit: das ist das Recht, Gutes zu schaffen. Freiheit besteht nicht darin, das zu tun, was einem gerade einfällt. Freiheit bedeutet die Möglichkeit, den Menschen zu dienen. Je mehr Menschen eine solche Freiheit als ein wirkliches Bedürfnis erkennen, desto mehr Gutes können sie gemeinsam füreinander, und folglich auch für das Land als Ganzes schaffen. Die Freiheit ist eine Bedingung und kein Ziel. Ein Staat kann sich nur dann als freier Staat begreifen, wenn er sich auf Menschen stützt, die sich als tatsächlich frei erkennen. Gleichzeitig kann sich das Volk nur in einem freien Staat als frei empfinden. Wir müssen gemeinsam einen Staat aufbauen, in dem an erster Stelle der freie Mensch steht. Die vollständige Freiheit der gesamten Ukraine setzt sich aus den Teilchen der Freiheit eines jeden zusammen.
Wenn man mich fragen würde, was es bedeutet, frei zu sein, könnte ich nicht sofort antworten, obwohl ich mich für einen freien Menschen halte. Aber ich fühlte mich nicht geschützt. Da ich in einem Land lebe, wo man mich morgen verhaften kann. Oder einen Unfall herbeiführen, der wie zufällig aussieht. Plötzlich denkt sich jemand auf den hohen Stufen der Macht, dass der Unterzeichner dieses Artikels die Macht stört, dass er Unsinn redet, dass er die Leute verdirbt? Plötzlich entscheidet jemand, dass es ansteht, sich von einem solchen Menschen zu befreien? Frei und deswegen gefährdet sein ist ein Nachweis dafür, dass man in einem unfreien Land wohnt.
Wahrhaftigen Geistesriesen gelingt es, auch in einem unfreien Staat frei zu sein. Wassyl Stus, Dissident und Mitglied der ukrainischen Helsinkigruppe, blieb selbst im Gefängnis ein freier Mensch, gerade deswegen verwandelte sich sein Tod in der Gefangenschaft in eine unsterbliche Behauptung der wahren Freiheit. Im eigentlichen Sinne erlaubt die Existenz solcher Menschen, unser Volk für freiheitsliebend zu halten. Aber der Mangel an solchen Menschen entzog dem Volk als Ganzem die Möglichkeit, frei zu werden. Wir sind zu Recht auf die Zeiten des Kosakenstaates stolz, aber wir idealisieren diese Periode zu sehr, die nicht so vorbehaltlos strahlend hell war. Unfreie Bauern, Leibeigene wurden zu freien Kosaken, die in die Freiheit flüchteten. Aber sie haben sie nicht behauptet.
Wir erhielten immer wieder einmal die Möglichkeit, unsere Unabhängigkeit zu festigen, aber immer haben wir diese Möglichkeit ungenutzt verstreichen lassen. Offensichtlich ist es nicht angebracht, dieses Verpassen nur mit äußeren Faktoren und ungünstigen Umständen zu rechtfertigen. Wenn das gesamte Volk wahrhaft freiheitsliebend gewesen wäre, warum hielt es nicht den Mut des freien Iwan Masepa aufrecht? Fand man denn etwa in der Ukraine nicht auf jeden Masepa seinen Kotschubej, den Freund, der Masepa verriet? Man muss die unangenehmen Fragen nicht fürchten, man sollte sich nicht vor der Suche nach Antworten fürchten. Eine derartige Eigenschaft erweist sich als Merkmal eines freien Menschen.
Unser Weg in die Freiheit erwies sich als länger, als einige träumten, aber dies ist der Wille des Herrn. Schlussendlich ist jede Station auf diesem Weg ein Fingerzeig des Herrn, gelingt es nur mit diesen Hinweisen das Geleitet-Werden zu erlernen. Der Herr prüft immer denjenigen, den er liebt.
Erneut weise ich auf eine weitverbreitete, gängige Meinung hin — den Ukrainern sei kein wirklicher Drang zur Demokratie eigen. Als ob wir bereit sind, uns demjenigen zu unterwerfen, der uns das Gute bescheren kann, der geeignet ist, für uns unsere gemeinsame Arbeit zu tun. Ist dies wirklich so?
Eine professionelle Antwort auf diese Frage müssen offensichtlich Experten wie Soziologen, Historiker und Philosophen geben. Aber in der Ukraine besteht offenkundig ein Hang zur harten Hand, zum weisen Diktator. Seit Urgedenken zieht es uns zum guten Fürsten, Hetman oder Präsidenten hin, der die Last der allumfassenden Vormundschaft auf sich nehmen würde, der für uns an unserer Stelle das Gute schaffen würde. Uns ist leichter, wenn sich ein geschickter Anführer mit dem Talent, zu organisieren, Entscheidungen zu treffen, zu fügen und zu lehren, einfindet. Das ist die eine Seite. Auf der anderen Seite träumen wir von einem idealen Anführer, weswegen bei Weitem nicht jeder, der vorgibt, auf einer derartigen Mission zu sein, uns vollständig zufriedenstellt. Hier zeigt sich die Widersprüchlichkeit der menschlichen Natur: Wir nutzen nicht das Recht, eigenhändig unsere Probleme zu entscheiden, sondern verzichten gewöhnlich auf dieses Recht zugunsten eines anderen, solange dessen Führertum sich nicht als echtes erweist. Was ist dies, wenn nicht ein anschaulicher Ausdruck innerer Unfreiheit?
Die Sympathie eines gewissen Teils der Gesellschaft zur Opposition ist rechenschaftspflichtig: derjenige, der an der Macht ist, scheiterte an der Aufgabe, er ist daher unwürdig, vielleicht aber meistert sie sein Nachfolger? Gottes Schöpfung ist nicht schwarz-weiß. Nicht alle, die an der Macht sind, sind Teufel, und nicht alle, die in der Opposition sind, sind Engel. Ich persönlich sehe heute keinen wirklichen Unterschied zwischen ihnen. Die Opposition ist derzeit zu schwach, um ihr Vertrauen zu schenken. Unter den Oppositionellen gibt es würdige Leute, doch sind sie leider Einzelfälle. Häufig hören wir Vorwürfe, dass die Machthaber Diebe seien. Sei es so, dass dies stimmt. Aber jeder muss sich die Frage stellen, was er selbst denn getan habe, damit die Macht eine andere wäre, und das Land ein freies Land. In allen Bedeutungen des Wortes: frei von Dieben, von Armut, von Vorurteilen, von Ängsten und von Kleinherzigkeit.
Vor uns steht ein ernstes Problem. Wir müssen innehalten und gründlich überlegen, was wir tun sollen, außer ungehalten zu sein. Dadurch, dass man sich von der derzeitig herrschenden Macht befreit, wird die Ukraine nicht freier.
Selbst dem Weisesten der Blindenführer ist es schwer, verführerischer Allmacht zu widerstehen. Der Hirte kann sich in einen Pharisäer verwandeln, wenn die Herde stumm ist. Der Machtliebende wird keine freiheitsliebenden Menschen erziehen. Er ist weise und erfahren, wünscht für das Wohl aller zu denken. Er ist der Anfang und das Ende von allem. Er kann eine aufrichtige Befriedigung in dem, was er tut, erfahren. Er kann von den Menschen Anerkennung und Lob verlangen, und er kann seine Sache uneigennützig durchführen. Doch auf jeden Fall verführt er die Menschen bewusst oder unbewusst, bringt sie um den Glauben an ihre eigenen Kräfte. Enttäuschte Leute jedoch sind nicht in der Lage, einen freien Staat aufzubauen. Folglich sollten wir uns vereinigen, um gemeinsam zu überlegen, wie wir das Land erschaffen, nach dem wir streben. Und wir sollten nicht auf jemanden hoffen, der es an unserer statt erbaut. Er wird es nicht bauen.
Die Machthaber haben vor Freiheit in den Herzen mehr Angst als vor einem Hungeraufstand. Da man einen Hungrigen kaufen kann, aber einen Freien nur töten.
Brauchen wir die Knute? Warum ist für eine Vereinigung entweder ein gemeinsamer Feind oder die Knute des Machthabers notwendig? Uns steht noch bevor, Zusammenarbeit ohne Zwang zu erlernen. Mitunter wird die Freiheit als Abfuhr des Zwangs geboren, aber die Freiheit darf nicht unter Zwang errichtet werden.
Eine ernsthafte Dissidentenbewegung war der tapfere Kampf „dagegen“. Die Leute liebten die Ukraine, litten für sie, rangen um sie. Und was geschah, als nach dem Zerfall der Sowjetunion die Menschen an die Macht kamen, die unter dem Sowjetsystem gelitten hatten? Es spielte sich eine wahre menschliche Tragödie ab. Viele dieser Menschen, die wirklich für ihren Kampf Anerkennung verdienen, bestanden die Prüfung nicht. Einige bestanden die Probe der Arbeit nicht und gebaren mit ihren Handlungen ein großes Chaos. Andere bestanden die Prüfung der Macht nicht und stürzten sich darin, ihre Vorgänger nachzuahmen, nahmen sich vor, sich Paläste zu errichten und genossen unterschiedliche Vorteile. Die Menschen, die durch die Schule des sowjetischen Lebens beschädigt worden waren, sind in der Mehrzahl seelisch verwundet. Das ist eine bittere Wahrheit.
Wir haben keine etablierte Tradition der Freiheitsliebe, deswegen müssen wir diese gemeinsam gerade jetzt begründen. Wir müssen verstehen: Uns steht es noch bevor, die wirkliche, freie Ukraine zu errichten, für welche die innere Freiheit eines jeden Einzelnen und die Achtung der Freiheit eines jeden als Fundament dienen wird. Freiheit ist unabdingbar dafür, dass wir endlich wir selbst werden. Nicht so, wie wir jetzt sind, sondern so, wie wir berufen sind, zu sein.
Dies ist eine kolossale Herausforderung. Mit der Hilfe Gottes sind wir dazu berufen, damit zurechtzukommen. In der Ukraine finden sich genügend Menschen, die nicht nur sich selbst als frei empfinden, sondern auch die Notwendigkeit, ein freies Land zu errichten, erkannt haben. Man muss nur die eigene Faulheit, Angst und Engherzigkeit überwinden. Man muss zu den Menschen gehen, zuvorderst zu den Jungen, und sie für Freiheit interessieren, die Vorteile erläutern und sie davon überzeugen, die Freiheit nicht zu fürchten. Darum müssen sich zweifelslos die Kirche, die Schule und die Universitäten kümmern. Ich denke, dass wir alle, denen die Zukunft der Ukraine nicht gleichgültig ist, dazu bestimmt sind, eine ernsthafte Kampagne zu beginnen, die von solchen Menschen durchgeführt werden sollte, die über eine ausreichende Autorität in der Gesellschaft verfügen. Sie müssen lebendige Beispiele sein, die anhand ihres eigenen Lebens zeigen können, was es heißt, frei zu sein.
Lassen wir es so viele Menschen sein, wie es eben sind. Lassen wir es Hunderte sein, vielleicht sogar auch weniger. Dies muss heute begonnen werden. Morgen werden es mehr Menschen sein. Es ist es nicht wert, einen glücklichen Zufall abzuwarten oder angenehme Bedingungen. Wenn wir einen Grund für eine Verlangsamung suchen, dann wird eine bessere Zeit niemals anbrechen.
Man sollte nun nicht umfangreiche Pläne für eine baldige Veränderung der ganzen Ukraine schmieden. Man sollte die Menschen ändern, im Alltäglichen und beharrlich. Mit eigenem Beispiel und mit überzeugenden Worten. Man muss keine Angst davor haben, dass es lange dauern wird. Es sind Politiker, die versprechen, allen und augenblicklich Wohltaten zu bringen. Der Hirte Gottes hingegen pflegt jede zu rettende Seele. Wir kämpfen nicht um Millionen, wir kämpfen um jede Seele. Jeder, der noch gestern nicht darüber nachgedacht hatte, wozu ihm die Freiheit not sei, aber heute darüber nachgedacht hat — stellt einen Schritt zum großartigen Sieg dar.
Ich stimme nicht damit überein, dass die heutige Jugend bereits unwiederbringlich durch Gleichgültigkeit, Trägheit und Individualismus, die von früheren Generationen vererbt wurden, verdorben ist. Die Jugend ist in der Tat verwundet, aber sie ist lebendig. Sie hat genug vom Künstlichen, Vorgetäuschten und Unechten, für sie reicht das Aufrichtige und Wahrhaftige nicht aus. Falls sich genügend Menschen finden, deren Glauben an die Freiheit sich als wahr und kräftig erweist — dieser Glaube wird sicherlich einen Widerhall in den Herzen von vielen derer, finden die davor stehen, die zukünftige Ukraine zu errichten.
15. Februar 2013 // Kardinal Ljubomyr Husar, ehemaliges Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche
Quelle: Serkalo Nedeli
Aber nun sag mir doch mal einer, was nützt es dann, wenn dies hier eintritt:"Falls sich genügend Menschen finden, deren Glauben an die Freiheit sich als wahr und kräftig erweist — dieser Glaube wird sicherlich einen Widerhall in den Herzen von vielen derer, finden die davor stehen, die zukünftige Ukraine zu errichten."
Ohne die tägliche harte und alltägliche...
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