Die Kinder von Narnia


Was auch immer die Skeptiker sagen mögen, der Maidan als solcher hat in der Ukraine ein Gefühl von Märchen herbeigeführt. Unlängst also wurden an eines der Kyjiwer Ufer Krieger von Narnia angespült. So nannten sich bis an die Zähne bewaffnete Jugendliche, die sich entschieden hatten, die Einrichtungen vor Tituschky (bezahlte Schläger, A.d.R.) zu schützen. Ja der Maidan selber glich in seinen Spitzenzeiten dem Film-Set eines Fantasy-Blockbusters: Schilde, Helme, Katapulte und „Drachen-Fauchen“, ausgegossen aus Bierflaschen. Allerdings: sie starben dort wirklich.

Es ist nicht überraschend, dass der Maidan auf Millionen von Ukrainern einen solchen magnetischen Eindruck gemacht hat. Vor allem natürlich bei der Jugend. Erwähnenswert etwa die „Nacht des Zorns“ in Lwiw, als zum Zeitpunkt der Erstürmung der staatlichen Einrichtungen die Lwiwer die noch nicht volljährigen „Revolutionäre“ einfingen, die Janukowytsch nicht so sehr stürzen wollten, als eher etwas anzuzünden. Oder wie die jugendlichen Hitzköpfe in Truskawez die Bahngleise blockierten und in den Waggons begannen, nach „Berkut“ (Steinadler, ehemalige Sondereinheit der Miliz, A.d.R.) und „Tituschky“ zu suchen. Aber was soll man hier machen? Prinz Kaspian kämpfte für die Freiheit Narniens bereits mit 13 Jahren.

Den Schlüssel zu den Geheimnissen des Maidans muss man aber nicht bei Clive Lewis und erst gar nicht bei Dmytro Jarosch suchen, sondern bei Chuck Palahniuk. „All diese Jungs, all diese Mädels wollen ihr Leben für etwas hingeben. Die Werbung drängt ihnen auf Klamotten und Autos zu kaufen, die sie nicht brauchen. Generation um Generation arbeiten Menschen an verhassten Arbeitsplätzen nur dafür um etwas zu kaufen, was sie nicht brauchen“, sagte Tyler Durdan, der zentrale Held des Romans „Fight Club“. So war es in der Ukraine Anfang des Jahrtausends und ab 2010. Wer buchstäblich gestern einen Reisepass erhalten hatte, wusste, dass nichts von der Vergangenheit mehr interessant war. Die fünf langweiligen Universitätsjahre, uninteressante Arbeit, das gemietete „Heim“. Leben, geschrieben von der Kredithistorie.

Daher die krampfhaften Versuche, aus dem Trott des Alltags auszubrechen. Paintball-Kriege, Live-Rollenspiele (LARPs), Extremsportarten, Ecstasy-Parties in Nachtclubs. Junge Ukrainer waren bereit, alles auszuprobieren. „Zum Schicksal unserer Generation wurden nicht große Kriege oder große Wirtschaftsdepressionen… Unsere große Depression ist unsere Existenz“, stellte Tyler Durden fest, als wäre er irgendwo in [Kyjiw-]Trojeschtschyna aufgewachsen. Und dort ereignete sich der Maidan.

Die „Diskothek“ verwandelte sich schnell in eine „Cocktailparty“, und der „Party-Abend“ zu einem Krieg. Gerade im Zentrum der schwungvollen, einfältig-anmaßenden, vielgeschäftigen Hauptstadt zerriss gleichsam das Gewebe der Zeit. Männer malten auf Schilde Kreuze und Runen und zogen anschließend betend zum Angriff, Schulter an Schulter mit dem, der schließlich umkam. Politik, Gesetze, Ratings, Vereinbarungen – alles begann man plötzlich in Kategorien von Gut und Böse zu messen, und Werte wurden schicksalsentscheidend. Zumindest für Tausende und Abertausende von Ukrainern wurde genau dies die neue Wirklichkeit. Welcome to Narnia wurde Begrüßungswort.

Kurzum: Die Ukrainer haben schlussendlich ihren „großen Krieg“ bekommen. Und wenn er wirklich einem Märchen ähnelte, so schaute dieses Märchen schrecklich aus. Allein die Gefahr zwang die Menschen sich selber zu überwinden, jemand größeres zu werden, als man wirklich war. Zumindest ist dies die Ansicht des modernen Kriegstheoretikers Martin van Creveld. Schließlich ändert der Krieg selbst das Aussehen der Menschen, was zahlreiche Fotovergleiche von Journalisten bezeugen. Daher ist es manchmal noch härter aus dem Kriegszustand herauszukommen, als das Rauchen aufzugeben.

Wenn das Rauchen eine rein körperliche Abhängigkeit schafft, dann verursachen Krieg oder Revolution eine Desozialisierung einer Person. Das Leben als Büro-Plankton ist wenig angenehm, aber nach ein paar Monaten auf den Barrikaden wird es völlig unerträglich. Gestern noch kämpftest Du für die Wahrheit – und kämpftest nicht für das Leben, sondern um den Tod – und heute sollst Du wieder für eine am Ende mit mittelmäßig bewertete Prüfung kämpfen, um einen zum Hals raushängenden Arbeitsplatz oder auch für irgendeinen Unsinn. Im Zentrum der Hauptstadt konnte man den gesellschaftlichen Konventionen entkommen, aus der Matrix in eine schreckliche und schöne Welt losreißen, wo Dir von beiden Seiten Tod und Ruhm winken. Aber jetzt?

Der Maidan endete so plötzlich, wie er begonnen hatte. Der Zauberschrank, durch den man nach Narnia kam, wurde verschlossen. Die Barrikaden wurden nicht mehr benötigt. Aber die Tragödie besteht darin, dass all diese Hundertschaften, Stadtpartisanen, Draufgänger-Sturmleute nicht mehr nötig waren. In der Armee Prinz Kaspians wurde die Demobilisierung verkündet, Innenminister Awakow fordert die Waffenabgabe. Die „einfachen Männer aus den Reihen“ schimpfen laut, und die „Offiziere“ raunen „Verrat“. Rein menschlich gibt es nichts gegen sie einzuwenden. Die Waffen abzugeben drängen diejenigen, die tags und nachts auf der Bühne waren, aber nicht auf den Barrikaden.

Aber jede post-revolutionäre Regierung ist von ihrer Natur her konterrevolutionär. Schon allein deshalb, weil vor ihr die Aufgabe steht, den Staus quo zu erhalten und die zerstörte gesetzliche Ordnung wieder herzurichten. Daher steht die jetzige Regierung vor der Wahl: Entweder muss die Revolution ihre Kinder zu fressen [Zitat des Girondisten Pierre Vergniaud] oder für sie eine konstruktive Verwendung zu finden. Also die Atombombe in eine friedliche Atomanlage umwandeln. Der Schwierigkeitsgrad liegt irgendwo zwischen der Kernfusion und der Suche nach dem Stein der Weisen: Theoretisch ist alles verstanden, aber das Endergebnis ist nicht ersichtlich. Daher traf die Aufstellung einer Nationalgarde auf wenig Begeisterung bei den Maidan-Leuten, denn sie verspürten eine Bedrohung ihres revolutionären Freiheitswillens. Anders hätte es auch nicht sein können.

Die Liquidierung Sascha Bilyjs (Olexander Musytschko, Koordinator des Rechten Sektors in der Westukraine, A.d.R.) , die Verhaftung der Koordinatorens des Rechten Sektors in Poltawa und der Mitglieder der Patrioten der Ukraine in Charkiw, die Durchsuchung des Hauptquartiers der Nationalgarde – all das war nichts anderes, als eine sehr stürmische Pazifikaton. Es ist gar nicht notwendig, dass hinter dem der Kreml, der FSB, die Partei der Regionen oder sonst irgendwelche „Feinde“ stehen. Die neue Regierung verhält sich, das soll nicht außen vor gelassen werden, wie es sich für eine Regierung gehört, denn zum Wesen des Staates gehört das Gewaltmonopol. Von diesem Standpunkt aus sind der Donezker Separatist Pawlo Gubarew wie der Riwner Nnationalist Sascha Bilyj unerwünschte Elemente im staatlichen Vergleich. Und wie viele von diesen „Atamanen“ Arsen Awakow außerhalb des gesellschaftlichen Lebens lassen wird, das weiß allein Gott.

Wie auch immer, alle diese „Kinder von Narnia“ sind eine leistungsfähige Personalressource, die, wenn die Umstände es wollen, an der Bildung der neuen Regierung teilnehmen. Wenn sie richtig eingesetzt werden, werden sie eine historische Rolle in der Ukraine spielen. Andernfalls werden sie die Reihen der Tollköpfe, Schläger und Verbrecher vervollständigen, weniger wegen der Anziehungskraft von Kriminalität als vielmehr wegen der existenziellen Langeweile. Prinz Kaspian kann man sich leichter als Anführer eines Räuber-Angriffs vorstellen, als auf dem Sofa vor dem auf Kredit gekauften „Plasma“. Doch ob sie nun diese oder jene Ampulle wählen, die gegenwärtigen Kaspiane laufen Gefahr, in Konflikt mit den jeweiligen staatlichen Behörden zu geraten und sich tragischen Folgen für sich selbst auszusetzen. Allerdings sind Radikale deshalb Radikale, weil sie ständig Kräfte mit dem politischen System und untereinander testen, und sie vervollständigen so das Pantheon der antisystemischen Helden. Und hier kann man nichts machen: die Gesetze des sozialen Lebens und die revolutionäre Poesie sind praktisch unvereinbare Genres.

Unterdessen fiel die Bewältigung dieses Problems beiseite durch die Besetzung der Krim und die Drohung einer militärischen Intervention im Osten. Darum wird niemand und nirgendwo die Aufgewühlten zähmen. Darüber hinaus fördert eine Perspektive auf einen Krieg nur Radikale, die sich bereits als Partisanen sehen. Allerdings wird die Krim-Krise früher oder später vorbei sein, mit dem einen oder anderen Ergebnis. Und die Bändigung der von stürmischen Protesten angeheizten Gesellschaft wird der erste Test für diese (oder erst die nächste) politische Führung. Schließlich hat ihnen niemand versprochen, es würde leicht werden.

26. März 2014 // Maxym Wichrow

Quelle: ZAXID.NET

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