Im Krieg verändern sich die Spielregeln
Heute verläuft nicht nur zwischen denen, die für Kiew bzw. den Kreml sind, ein gesellschaftlicher Graben. Eine zentrale Kluft hat sich auch zwischen denjenigen, die verstanden haben, dass Krieg herrscht, und denjenigen, die dies nicht begreifen wollen, aufgetan.
Das gesagte Wort hat zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliches Gewicht. Während es in der einen bedeutungsleer bleibt, kann es in anderen Taten gleichgesetzt werden. Und für das Gesagte muss ebenso Verantwortung übernommen werden wie für Taten.
Eben eine solche Metamorphose hat vor einem Jahr in der Ukraine stattgefunden.
23 Jahre lang hat die Ukraine in einer Grauzone gelebt.
In jenem Postmodernismus, der von Stileklektizismus, der Abwertung von Überzeugungen, allgegenwärtigem Spott und Kitsch als eigenständiger Wertmaßstab geprägt war.
Rocker war jeder, der einem Popsong ein paar Drums hinzufügen konnte.
Politikwissenschaftler jeder, der entsprechend oft im Fernsehen zu sehen war.
Jeder konnte auf so vielen Stühlen sitzen, auf die der Hintern passte. Eine Zeit, in der es üblich war, über das Wort „Anständigkeit“ zu lachen. Prinzipien und Überzeugungen wurden als anachronistisch aufgefasst, Leumund als Relikt. Jeder, der versuchte integer zu sein, wurde als altmodisch verschrien.
Eine Zeit der verwischten Identitäten und Überzeugungen. Vollkommene Mimikry.
Als Hungerstreik wäre nicht der Protest von Nadeschka Sawtschenko (nach Russland entführte Militärpilotin, A.d.Ü.), die 28 Kilo verloren hatte, bezeichnet, sondern die 72-stündige Farce von Wjatscheslaw Kirilenko (gerade Vizeministerpräsident und Kulturminister, A.d.Ü.).
All dies änderte sich vor anderthalb Jahren.
In dem Moment, als der Krieg begann. Denn Krieg ist immer aktuell.
Und Krieg erzählt auch immer davon, wie Worte gleich Taten werden. Wenn man sich nicht mehr im Hohlraum der Verantwortungslosigkeit verstecken kann, wenn Entscheidungen getroffen werden müssen, wenn man entscheiden muss, auf welcher Seite der Barrikaden man stehen will. Und Tatenlosigkeit ist ebenso eine Wahl. Eine Wahl, für die man später Rede und Antwort stehen muss.
Der zentrale Graben verläuft heute zwischen denjenigen, die das verstanden haben, und denjenigen, die wie gehabt leben wollen.
Jedes Mal, wenn jemand von Verschwörungstheorien redet … darüber, dass der jetzige Krieg von irgendwelchen dunklen Mächten, die die Ukraine und Russland aufeinanderhetzen, ausgelöst wurde, ist mir klar, dass dieser Mensch in der Vergangenheit hängengeblieben ist.
In genau jener bequemen Vergangenheit, in der es üblich war, irgendjemand Abstrakten zu beschuldigen, um sich bloß nicht mit irgendjemand Konkretem anzulegen.
In genau diese Schublade gehört auch das ganze abstrakte Gerede darüber, dass „wir alle Frieden brauchen“.
Zu Kriegszeiten ist Frieden selbst weniger wichtig als die Bedingungen für Frieden. Frieden kann es auch nach einer Kapitulation geben. Und diejenigen, die versuchen, sich den Nimbus des „Kater Leopold“ überzustülpen, versuchen einfach nur, den einfachsten Fragen auszuweichen.
Wir leben in einer Zeit, die durch die Zerstörung des Leumunds geprägt ist. Und hierzu ist nicht viel erforderlich.
Beispielsweise die Erklärung, dass der Krieg zu einer Abnahme von Tourneen geführt habe, wie dies (die Sängerin) Irina Bilyk tat.
Oder die Einreichung einer Klage gegen die Ukraine beim Internationalen Schiedsgericht in London, wie dies Igor Kolomojskiij tat.
Ein wenig schwanger gibt es nicht.
Mit einem Krieg ändern sich die Spielregeln. 2013 konnte das Sankt-Georgs-Band noch ein Teil der ukrainischen Politlandschaft sein. Seit der Krim aber ist es zu einem Symbol der Solidarität mit der Annexion geworden.
2013 waren prorussische Losungen Teil der ukrainischen Politlandschaft. Jetzt sind sie ein Anlass für eine genaue Beobachtung durch die Geheimdienste. Diejenigen, die in diesem Kontext von „Gewalt“ seitens Kiews gegen prorussische Aktivisten sprechen, sollen bitte mal eine einfache Frage beantworten: Befindet sich die ukrainische Armee auf russischem Territorium oder die russische auf ukrainischem?
Die Zeit, in der Losungen auf Kundgebungen genauso viel wert waren, wie die bezahlten Massen, ist vorbei. Heute ist das Wort ein Aufruf zum Handeln.
Wenn ein radikaler Politiker die ukrainische Führungsspitze als Agenten Putins bezeichnet, sollte sich dieser im Klaren darüber sein, welches Echo seine Worte hervorrufen können. In seinem Publikum sitzen nicht mehr gelangweilte Städter, die ihre Eintrittskarte von der lokalen Gewerkschaft zugeteilt bekommen haben. In seinem Publikum sitzen auch Menschen, die an der Front waren. Diese können sich durch eine solche Anschuldigung veranlasst fühlen, auf die Bühne zu gehen und auf den Antihelden zu schießen. Denn für diese ist das kein inszeniertes Schauspiel mit zuvor verteilten Rollen und auswendig gelerntem Text. Für ihn ist es Realität.
Worte haben aufgehört, eine einfache Aneinanderreihung von Lauten zu sein. Sie sind magisch geworden, sind gefüllt mit Bedeutung und haben sich in Beschwörungsformeln verwandelt. Mit Worten kann man töten, kann man retten, kann man die Masse zum Angriff erheben oder zur Kapitulation bringen.
Mitunter sterben Menschen für sie.
Und heute ist das Land geteilt: Auf der einen Seite diejenigen, die das verstanden haben. Und auf der anderen diejenigen, die nicht begreifen wollen, dass sich die Realität des Jahres 2015 von der des Jahres 2013 unterscheidet.
4. September 2015 // Pawel Kasarin
Quelle: Ukrainskaja Prawda