Nationbuilding gegen die Midlife-Crisis


Das Jahr 2018 begann für die ukrainischen sozialen Netzwerke unter dem Zeichen Wyssozkis und Zois ( Wladimir Wyssozki, sowjetischer Barde 1938-1980; Wiktor Zoi, sowjetischer Rocksänger 1962-1990, A.d.R.). Die von Wladimir Wjatrowitsch (ukr. Wolodymyr Wjatrowytsch, staatlich bestimmter Chefhistoriker der Ukraine, A.d.R.) initiierte Diskussion über die „Fangarme der russischen Welt“ teilte den aktiven Teil der Gesellschaft erneut in zwei Lager. Und regte gleichzeitig zum Nachdenken an, wovon es wohl mehr in unserer staatsbürgerlichen Position und kulturellen Leidenschaft gibt: gesellschaftliches oder privates? Ideologisches oder psychologisches? Bewusstes oder unterbewusstes?

Üblicherweise suchen wir nach verborgenen psychologischen Motiven bei unseren Gegnern. Wenn ein Reaktionär im hohen Alter auf die modernen Zeiten schimpft und die sowjetische Epoche lobt, stellen wir direkt die Diagnose: tatsächlich sehnt er sich nicht nach der UdSSR zurück. Er trauert der eigenen Jugend nach, der verblassten Lebensfreude, der kräftigen Gesundheit und den eingebüßten Erektionen. Ein stärkeres Argument, das unzufriedene prosowjetische Publikum zu entwaffnen, kann man sich nicht ausdenken.

Allerdings kann man auch in den Wünschen von uns, den Progressivsten, Fortschrittlichsten und für die Erneuerung des Landes Kämpfenden verborgene innere Motivationen erkennen. Einigermaßen ehrlich kann man von außen auf sich schauen.

Wer gehört zum Kern der ukrainischen Bloggerszene und bürgerlichen Gesellschaft; wer dominiert unter den Dekommunisatoren und Propagandisten einer neuen ukrainischen Identität? Die, die über dreißig und über vierzig sind, geboren in der UdSSR in den 70er und 80er Jahren und erwachsen geworden im Zusammenbruch der Epoche. Zu Ehren des vierzigjährigen Direktors des Ukrainischen Instituts des nationalen Gedenkens, der regelmäßig mit sehr beachteten Erklärungen auftritt, könnte man diese Altersgruppe die „Generation Wjatrowitsch“ nennen.

Das sind Menschen in der Blüte ihrer Jahre und gleichzeitig an der Grenze, an der das eigene Alter keine abstrakte Vorstellung mehr ist, sondern eine reale Perspektive. Wenn es Zeit wird, eine Zwischenbilanz der Lebenserfolge zu ziehen; und das Ergebnis unterscheidet sich normalerweise von den rosigen Träumen der Kindheit und Jugend. Wenn erste Vorzeichen der physischen Alterung eintreten, die man überhaupt nicht bemerken will. Wenn es immer schwerer wird, mit dem modernen Slang und den rasenden technologischen Innovationen mitzuhalten. Wenn die Jugend noch nicht völlig verflogen ist, aber langsam aus deinem Leben verschwindet.

In etwa so sieht die berüchtigte Midlife-Crisis aus. Unter normalen Bedingungen findet sich jeder mit diesem Problem auf seine Weise ab. Aber es kommt vor, dass die Geschichte eine kollektive Psychotherapie-Sitzung für zehntausende und hunderttausende Menschen anbietet. Genau das geschah in der Ukraine und mit den Ukrainern in 2014.

Der Euromajdan, der hybride Krieg mit Russland, die Abkehr von alten Werten, das radikale Überdenken der Gegenwart und Vergangenheit. Die Bildung einer Nation, die Dekolonisation, der Aufbau des Landes vom Nullpunkt aus. Die Möglichkeit ein neues Leben zu beginnen, was besonders wertvoll für Menschen ist, die zur „Generation Wjatrowitsch“ gehören.

Es zeigt sich, dass der Äquator des Lebens noch weit ist und man muss keinerlei Lebenserfolge vorweisen, im Gegenteil, das Interessanteste und Wichtigste beginnt gerade erst. Es zeigt sich, dass das Alter nicht aus den ersten Falten, den ersten grauen Haaren, nicht aus Cellulitis oder einem Bauchansatz besteht. Nein, das Alter, das ist der feindliche „Sowjetbürger“. Das Alter, das ist das Imperium und seine Symbole. Das Alter, das ist die vergangene Welt, von der man sich lossagen kann, ihren Staub von unseren Beinen klopfen; Und so die eigene Jugend verlängern.

Alte und Junge, veraltetes Sein und Menschen der Zukunft – die Grenze zwischen ihnen scheint schon keine biologische, selbst keine soziale mehr zu sein, sondern eine ideologische. Jeder entscheidet selbst, in welche Generation er sich einreiht. Die „Alten“ halten an gewohnten Werten fest, stören sich an der Umbenennung von Straßen und Städten, feiern den 9. Mai und den 8. März, schätzen die imperiale Kultur, bereiten Salat Olivier zu und schauen „Ironija Sudby“.

Aber die „Jugend“ befreit sich vom imperialen Erbe, konstruiert eine politische Nation, arbeitet an einer neuen geschichtlichen Legendenbildung, dekommunisiert und ukrainisiert den sie umgebenden Raum. Je mehr Symbole des alten Regimes du auf den Müll schmeißt, desto jünger fühlst du dich.

Die Bildung einer Nation weckt Energie, schenkt eine neue Identität, füllt das Leben mit frischen Gedanken. Der Effekt verstärkt sich noch, wenn es um Neophyten geht, die in einer russischsprachigen Welt aufgewachsen sind, mit der imperialen Kultur erzogen und sich von Kindheit an das sowjetische historische Weltbild angeeignet haben. Sie werden jetzt buchstäblich neu geboren. Und das ist genau das, was viele Menschen mittleren Alters brauchen.

Und die Bildung der Nation verstehen wir als Mittel zur psychologischen Verjüngung, das beinhaltet auch eine Angst: Die unterbewusste Angst zu spät zu kommen, aus dem Trend zu fallen und zum Relikt der Vergangenheit zu werden. Wladimir Wyssozki oder Wiktor Zoi sind schließlich nicht einfach mit der russischen Kultur verbunden, sie sind Marker einer Generation, die uns an unser reales Alter erinnern.

Und wenn der Befehl ertönt, sie über Bord zu werfen, wird das für Einige keine patriotische, sondern eine psychologisch motivierte Entscheidung. Plötzlich sind alle nicht mehr der Meinung, Wyssozki zu schätzen – eine absurde sowjetische Gewohnheit – aber du kommst zu spät und gerätst zwischen die verbliebenen „Sowjetbürger“! Zwischen jene, die du gewöhnlich verachtest und verspottest.

Die Kehrseite der ukrainischen Nationenbildung wurde eine ziemlich aggressive Abwertung der Alten. Verächtliche Ausfälle in Richtung der älteren Bevölkerung gehen Hand in Hand mit der Entsowjetisierung und Entkolonisierung. Mitbürgerschaft im alten Regime wird als Ballast empfunden, wie eine Bremse bei der Entwicklung des Landes, und gleichzeitig tritt man vor einem Hintergrund auf, vor dem man sich sehr bequem behaupten kann.

Solange die ukrainischen „Sowjets“ das Alter verkörpern, fühlen wir uns nicht alternd. Solange es sie um uns herum gibt, bleiben wir fortschrittlich und modern. Solange der Kampf gegen die „Sowjets“ anhält, verschmelzen wir mit der Generation der 1990er und 2000er, bereit uns selbst zurückzudrängen. Im Unterschied zu den unverbesserlichen Aktivisten und Bloggern hat sich die neue Generation Ukrainer nicht an die digitale Welt und die unabhängige Ukraine angepasst: Sie ist dort geboren.

Diese Generation muss nicht der entgleitenden Jugend nachrennen: sie ist auch so ziemlich jung. Und obwohl sie sich mit unseren eigenen Werten identifizieren, können sie sich praktisch völlig von unseren unterscheiden.

Wir wollen glauben, dass die kompromisslose Nationenbildung der Zukunft dient. Es könnte aber sein, dass diese stürmische Aktivität nicht der Sorge um die neue Generation gilt, sondern doch mehr um uns selbst. Um die „Generation Wjatrowitsch“ die aus den Vierzig- und Fünfzigjährigen besteht. Um jene, die mit der Jugend Schritt halten wollen, aber immer stärker hinterherhinken.

2. Februar 2018 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:   Anja Blume  — Wörter: 1069

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