„Wir haben Krieg“ – so zumindest lautet das ukrainische Kernargument der letzten Jahre. Es ist universell einsetzbar. Und immer aktuell – egal, worum es geht: um journalistische Richtlinien und Zensur, um Sprachenpolitik und die Visaregelungen mit der Russischen Föderation, um die Blockierung der Sozialen Netzwerke und TV-Quoten oder um Dekommunisierung und den Schuchewytsch-Prospekt.
Je kontroverser die Entscheidung, desto lauter wird mit der militärischen Notwendigkeit argumentiert. Nicht selten hört man, dass der Krieg die Ukrainer gezwungen habe, Ihre Komfortzone zu verlassen – unseren gewohnten Lebensraum, in dem wir uns sicher und geschützt fühlen. Für Psychologen ist klar, dass die Komfortzone den Menschen gefangen nimmt und die weitere Entwicklung ausbremst. Der Hybridkrieg mit Russland zwinge uns dazu, uns zu verändern, Bekanntes und Bequemes hinter uns zu lassen, uns Gewalt anzutun – und schließlich zu wachsen.
Aus dieser Perspektive sind alle durch Krieg hervorgebrachten Veränderungen ein Wohl für die ukrainische Gesellschaft. Und jede Kritik an dem, was gerade geschieht, ein Zeichen von Schwäche und der mangelnden Bereitschaft, persönlich für die Gemeinschaft ein Opfer zu bringen.
Es gibt nur ein winzig kleines Problem: Der Krieg kann ebenfalls zu einer psychologischen Komfortzone werden. Insbesondere dann, wenn wir es mit einem sich hinziehenden Hybridkrieg zu tun haben, in dem ein Großteil der Bevölkerung von Blut, Dreck, Hunger, Beschüssen und Bombardements verschont blieb.
Seit mehr als drei Jahren hat man sich in der Ukraine daran gewöhnt, jeden strittigen oder kontroversen Schritt irgendwie mit dem Krieg in Verbindung zu bringen. Zugleich haben wir aber dabei nicht gelernt, zwischen zwei sehr grundlegend verschiedenen Situationen zu differenzieren: Einerseits kann dich der Krieg dazu bringen, etwas zu tun, das du nicht möchtest und andererseits kann dir der Krieg erlauben, zu tun, was du schon immer machen wolltest, aber bisher nicht möglich war.
Nur ein einfaches Beispiel: Bekanntermaßen zwingt ein Krieg häufig zur Lebensmittelrationierung. Der unverantwortliche Mann der Straße ist deshalb wütend und beschwert sich. Der pflichtbewusste Patriot weiß hingegen, dass dies notwendig ist und nimmt diese notwendige Maßnahme stoisch hin.
Allerdings ist schwer vorstellbar, dass jemand die Lebensmittelmarken mit „Hurra! Endlich! Wird auch endlich Zeit!“ begrüßt. Noch schwerer ist es, sich folgende Reaktion vorzustellen: „Natürlich – Brot, Butter und Fett nur auf Lebensmittelmarken – gut so, aber sind Zucker und Salz noch nicht aus dem freien Verkauf verschwunden? Wir sind doch im Krieg oder nicht?!!“
Übrigens reagieren viele von uns auf irgendwelche angeblich durch den Krieg erforderlich gewordenen Maßnahmen genau so – jauchzend und frei nach Iwan Wassiljewitsch die Fortführung des Banketts fordernd. Denn tatsächlich geht es nicht um ein Opfer für den Sieg über Putin, nicht um freiwillige Selbstbeschränkung, sondern um Dinge, die Freude bringen.
Die harten Verbote und strengen Quoten, die drastischen Vorschriften und lauten Umbenennungen sind nicht an Unannehmlichkeiten für die, die diese am lautesten fordern, gekoppelt – ganz im Gegenteil. Das alles hat in Wirklichkeit nichts mit „der Krieg erfordert“ zu tun, vielmehr mit „der Krieg ermöglicht“.
Theoretisch soll die ukrainische Gesellschaft aus ihrer Komfortzone treten, um in einem Kampf mit einem äußeren Feind zu überleben. Aber in der Praxis können wir immer häufiger etwas anderes beobachten: Ein Teil der Gesellschaft soll seine Werte opfern, damit der andere Teil seine eigene Komfortzone finden kann.
In dieser Komfortzone ist das Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens an die legitimierte Gewalt über die anderen gekoppelt. Wenn man anderen seinen Willen diktieren kann, muss man sich nicht mit Toleranz belasten, kann man jede Kritik als Feindpropaganda abbürsten, dann kann man alles, was einem unangenehm ist, verbieten und unterbinden.
Faktisch ist der Krieg für die Ukraine zu einem voll geöffneten Overton-Fenster geworden. Die Grenzen des Möglichen haben sich drastisch erweitert und erlauben, dass das vorher nur Gewünschte Wirklichkeit wird. Und während sie Veränderungen fordern, sind viele radikale Patrioten nicht bereit, sich selbst zu ändern – sie versuchen, die sie umgebende Welt an ihr schon seit Langem vorherrschendes Weltbild anzupassen.
Und seien wir doch ehrlich: Es gibt ihn nicht … den bescheidenen Historiker Wladimir Wjatrowytsch, der von einer reinen Wissenschaft träumt, aber gezwungen ist, seine Lieblingssache dem Krieg zu opfern, und der, sich selbst überwindend, die für die Heimat erforderliche Dekommunisierung übernimmt.
Nein, es ist genau anders herum: Dank dem Krieg kann der Direktor des Ukrainischen Instituts für die Nationalen Gedenken genau das tun, was er schon immer machen wollte, das, wovon er schon immer träumte, aber in der Vorkriegszeit nicht umsetzen konnte.
Daraus folgt allerdings nicht, dass die Dekommunisierung nicht notwendig wäre. Daraus folgt lediglich eines: Die russische Aggression hat unseren Dekommunisierern eine neue Realität geschenkt, in der sie sich wahrhaft behaglich fühlen. Damit dieser psychologische Komfort erhalten bleibt, darf allerdings die Bedeutung der Geschichte als Instrument des Hybridkriegs nicht nachlassen.
„Des einen Tod ist dem andern Brot“ – in Wirklichkeit berührt diese Binsenweisheit nicht nur findige Leute, sondern auch absolut uneigennützige. Der Hybridkrieg mit Russland hat den einen erlaubt, ihre Ideen populär zu machen, anderen, die eigene Bedeutung zu spüren, Dritten alte Komplexe zu nähren, vierten die angeborenen Aggressionen auszuleben.
All dies vermag das Leiden, die Tränen und Schmerz der anderen nach und nach in den Hintergrund zu drängen. Und so wird der Krieg zur Gewohnheit – neben anderen Freuden des Lebens. Und die Suche nach inneren Feinden und sowie die Forderung nach einem Anziehen der Schrauben wird genauso zu einem wohlgefälligen Ritual wie der morgendliche Kaffee oder Aperitif zum Abendessen.
Das Paradoxe ist, dass die vom Hybridkrieg erzeugte Komfortzone keinen Sieger hervorbringt.
Der hypothetische Zusammenbruch des Putinschen Regimes, die Rückgabe der Krim, die Deokkupation des Donbass – tatsächlich wäre dies für viele aktive Ukrainer ein ernsthaftes Problem.
Sobald die russische Gefahr neutralisiert ist, wird der gewohnte und bequeme Lebensraum zusammenbrechen.
Die eigenen Wünsche zu begründen, indem man auf den Krieg verweist, würde nicht mehr erlaubt sein! Irgendwelche Gewaltakte mit dem Krieg zu rechtfertigen, würde nicht mehr gelingen! Jeden Gegner als verkleideten Kreml-Agenten zu deklarieren, würde nicht mehr funktionieren! Der ganze propagandistische Müll, der mit so viel Vergnügen zusammengestrickt und zitiert wird, wäre nicht mehr aktuell! …
Das Verlassen der Hurra-patriotischen Komfortzone wird nicht weniger schmerzhaft sein, als der erzwungene Abschied der prorussischen Bevölkerung von der „russischen Welt“. Und ganz sicher wird sich bald jeder von uns fragen müssen: Möchtest du wirklich den Sieg und bist du auch wirklich zu diesem bereit? Oder möchtest du in der Tiefe deiner Seele, dass der Hybridkrieg mit Moskau nie enden mag?
24. Juni 2017 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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