FacebookXVKontakteTelegramWhatsAppViber

Komfortzone

Komfortzone
„Wir haben Krieg“ – so zumindest lautet das ukrainische Kernargument der letzten Jahre. Es ist universell einsetzbar. Und immer aktuell – egal, worum es geht: um journalistische Richtlinien und Zensur, um Sprachenpolitik und die Visaregelungen mit der Russischen Föderation, um die Blockierung der Sozialen Netzwerke und TV-Quoten oder um Dekommunisierung und den Schuchewytsch-Prospekt.

Je kontroverser die Entscheidung, desto lauter wird mit der militärischen Notwendigkeit argumentiert. Nicht selten hört man, dass der Krieg die Ukrainer gezwungen habe, Ihre Komfortzone zu verlassen – unseren gewohnten Lebensraum, in dem wir uns sicher und geschützt fühlen. Für Psychologen ist klar, dass die Komfortzone den Menschen gefangen nimmt und die weitere Entwicklung ausbremst. Der Hybridkrieg mit Russland zwinge uns dazu, uns zu verändern, Bekanntes und Bequemes hinter uns zu lassen, uns Gewalt anzutun – und schließlich zu wachsen.

Aus dieser Perspektive sind alle durch Krieg hervorgebrachten Veränderungen ein Wohl für die ukrainische Gesellschaft. Und jede Kritik an dem, was gerade geschieht, ein Zeichen von Schwäche und der mangelnden Bereitschaft, persönlich für die Gemeinschaft ein Opfer zu bringen.

Es gibt nur ein winzig kleines Problem: Der Krieg kann ebenfalls zu einer psychologischen Komfortzone werden. Insbesondere dann, wenn wir es mit einem sich hinziehenden Hybridkrieg zu tun haben, in dem ein Großteil der Bevölkerung von Blut, Dreck, Hunger, Beschüssen und Bombardements verschont blieb.

Seit mehr als drei Jahren hat man sich in der Ukraine daran gewöhnt, jeden strittigen oder kontroversen Schritt irgendwie mit dem Krieg in Verbindung zu bringen. Zugleich haben wir aber dabei nicht gelernt, zwischen zwei sehr grundlegend verschiedenen Situationen zu differenzieren: Einerseits kann dich der Krieg dazu bringen, etwas zu tun, das du nicht möchtest und andererseits kann dir der Krieg erlauben, zu tun, was du schon immer machen wolltest, aber bisher nicht möglich war.

Nur ein einfaches Beispiel: Bekanntermaßen zwingt ein Krieg häufig zur Lebensmittelrationierung. Der unverantwortliche Mann der Straße ist deshalb wütend und beschwert sich. Der pflichtbewusste Patriot weiß hingegen, dass dies notwendig ist und nimmt diese notwendige Maßnahme stoisch hin.

Allerdings ist schwer vorstellbar, dass jemand die Lebensmittelmarken mit „Hurra! Endlich! Wird auch endlich Zeit!“ begrüßt. Noch schwerer ist es, sich folgende Reaktion vorzustellen: „Natürlich – Brot, Butter und Fett nur auf Lebensmittelmarken – gut so, aber sind Zucker und Salz noch nicht aus dem freien Verkauf verschwunden? Wir sind doch im Krieg oder nicht?!!“

Übrigens reagieren viele von uns auf irgendwelche angeblich durch den Krieg erforderlich gewordenen Maßnahmen genau so – jauchzend und frei nach Iwan Wassiljewitsch die Fortführung des Banketts fordernd. Denn tatsächlich geht es nicht um ein Opfer für den Sieg über Putin, nicht um freiwillige Selbstbeschränkung, sondern um Dinge, die Freude bringen.

Die harten Verbote und strengen Quoten, die drastischen Vorschriften und lauten Umbenennungen sind nicht an Unannehmlichkeiten für die, die diese am lautesten fordern, gekoppelt – ganz im Gegenteil. Das alles hat in Wirklichkeit nichts mit „der Krieg erfordert“ zu tun, vielmehr mit „der Krieg ermöglicht“.

Theoretisch soll die ukrainische Gesellschaft aus ihrer Komfortzone treten, um in einem Kampf mit einem äußeren Feind zu überleben. Aber in der Praxis können wir immer häufiger etwas anderes beobachten: Ein Teil der Gesellschaft soll seine Werte opfern, damit der andere Teil seine eigene Komfortzone finden kann.

In dieser Komfortzone ist das Gefühl der Sicherheit und des Selbstvertrauens an die legitimierte Gewalt über die anderen gekoppelt. Wenn man anderen seinen Willen diktieren kann, muss man sich nicht mit Toleranz belasten, kann man jede Kritik als Feindpropaganda abbürsten, dann kann man alles, was einem unangenehm ist, verbieten und unterbinden.

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Faktisch ist der Krieg für die Ukraine zu einem voll geöffneten Overton-Fenster geworden. Die Grenzen des Möglichen haben sich drastisch erweitert und erlauben, dass das vorher nur Gewünschte Wirklichkeit wird. Und während sie Veränderungen fordern, sind viele radikale Patrioten nicht bereit, sich selbst zu ändern – sie versuchen, die sie umgebende Welt an ihr schon seit Langem vorherrschendes Weltbild anzupassen.

Und seien wir doch ehrlich: Es gibt ihn nicht … den bescheidenen Historiker Wladimir Wjatrowytsch, der von einer reinen Wissenschaft träumt, aber gezwungen ist, seine Lieblingssache dem Krieg zu opfern, und der, sich selbst überwindend, die für die Heimat erforderliche Dekommunisierung übernimmt.

Nein, es ist genau anders herum: Dank dem Krieg kann der Direktor des Ukrainischen Instituts für die Nationalen Gedenken genau das tun, was er schon immer machen wollte, das, wovon er schon immer träumte, aber in der Vorkriegszeit nicht umsetzen konnte.

Daraus folgt allerdings nicht, dass die Dekommunisierung nicht notwendig wäre. Daraus folgt lediglich eines: Die russische Aggression hat unseren Dekommunisierern eine neue Realität geschenkt, in der sie sich wahrhaft behaglich fühlen. Damit dieser psychologische Komfort erhalten bleibt, darf allerdings die Bedeutung der Geschichte als Instrument des Hybridkriegs nicht nachlassen.

„Des einen Tod ist dem andern Brot“ – in Wirklichkeit berührt diese Binsenweisheit nicht nur findige Leute, sondern auch absolut uneigennützige. Der Hybridkrieg mit Russland hat den einen erlaubt, ihre Ideen populär zu machen, anderen, die eigene Bedeutung zu spüren, Dritten alte Komplexe zu nähren, vierten die angeborenen Aggressionen auszuleben.

All dies vermag das Leiden, die Tränen und Schmerz der anderen nach und nach in den Hintergrund zu drängen. Und so wird der Krieg zur Gewohnheit – neben anderen Freuden des Lebens. Und die Suche nach inneren Feinden und sowie die Forderung nach einem Anziehen der Schrauben wird genauso zu einem wohlgefälligen Ritual wie der morgendliche Kaffee oder Aperitif zum Abendessen.

Das Paradoxe ist, dass die vom Hybridkrieg erzeugte Komfortzone keinen Sieger hervorbringt.

Der hypothetische Zusammenbruch des Putinschen Regimes, die Rückgabe der Krim, die Deokkupation des Donbass – tatsächlich wäre dies für viele aktive Ukrainer ein ernsthaftes Problem.

Sobald die russische Gefahr neutralisiert ist, wird der gewohnte und bequeme Lebensraum zusammenbrechen.

Die eigenen Wünsche zu begründen, indem man auf den Krieg verweist, würde nicht mehr erlaubt sein! Irgendwelche Gewaltakte mit dem Krieg zu rechtfertigen, würde nicht mehr gelingen! Jeden Gegner als verkleideten Kreml-Agenten zu deklarieren, würde nicht mehr funktionieren! Der ganze propagandistische Müll, der mit so viel Vergnügen zusammengestrickt und zitiert wird, wäre nicht mehr aktuell! …

Den täglichen oder wöchentlichen Newsletter abonnieren und auf dem Laufenden bleiben!

Das Verlassen der Hurra-patriotischen Komfortzone wird nicht weniger schmerzhaft sein, als der erzwungene Abschied der prorussischen Bevölkerung von der „russischen Welt“. Und ganz sicher wird sich bald jeder von uns fragen müssen: Möchtest du wirklich den Sieg und bist du auch wirklich zu diesem bereit? Oder möchtest du in der Tiefe deiner Seele, dass der Hybridkrieg mit Moskau nie enden mag?

24. Juni 2017 // Michail Dubinjanskij

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzerin:    — Wörter: 1053

Jahrgang 1978. Yvonne Ott hat Slavistik und Wirtschaftswissenschaften an der Carl von Ossietzky Universität in Oldenburg studiert. Seit 2010 arbeitet sie als freie .

Hat Ihnen der Beitrag gefallen? Vielleicht sollten Sie eine Spende in Betracht ziehen.
Diskussionen zu diesem Artikel und anderen Themen finden Sie auch im Forum.

Benachrichtigungen über neue Beiträge gibt es per Facebook, Google News, Mastodon, Telegram, X (ehemals Twitter), VK, RSS und täglich oder wöchentlich per E-Mail.

Artikel bewerten:

Rating: 6.7/7 (bei 6 abgegebenen Bewertungen)

Kommentare

Neueste Beiträge

Kiewer/Kyjiwer Sonntagsstammtisch - Regelmäßiges Treffen von Deutschsprachigen in Kiew/Kyjiw

Karikaturen

Andrij Makarenko: Russische Hilfe für Italien

Wetterbericht

Für Details mit dem Mauszeiger über das zugehörige Icon gehen
Kyjiw (Kiew)20 °C  Ushhorod15 °C  
Lwiw (Lemberg)14 °C  Iwano-Frankiwsk14 °C  
Rachiw10 °C  Jassinja11 °C  
Ternopil14 °C  Tscherniwzi (Czernowitz)17 °C  
Luzk15 °C  Riwne15 °C  
Chmelnyzkyj15 °C  Winnyzja17 °C  
Schytomyr17 °C  Tschernihiw (Tschernigow)18 °C  
Tscherkassy20 °C  Kropywnyzkyj (Kirowograd)20 °C  
Poltawa18 °C  Sumy16 °C  
Odessa21 °C  Mykolajiw (Nikolajew)20 °C  
Cherson20 °C  Charkiw (Charkow)19 °C  
Krywyj Rih (Kriwoj Rog)21 °C  Saporischschja (Saporoschje)21 °C  
Dnipro (Dnepropetrowsk)19 °C  Donezk21 °C  
Luhansk (Lugansk)16 °C  Simferopol18 °C  
Sewastopol22 °C  Jalta22 °C  
Daten von OpenWeatherMap.org

Mehr Ukrainewetter findet sich im Forum

Forumsdiskussionen

„Lieber @Bernd D-UA , ich will nicht leugnen, dass es sich bei diesem Post um Werbung handelt. Nach Rücksprache mit den Admins, ist dieser Teil des Forum ja genau dafür geeignet. Meine Idee war ja auch,...“

„Ich habe gerade eine Doku zum Thema Nordvietnam und Südvietnam und die darin verwickelten Parteien gesehen. Im Norden der Kommunismus, unterstützt unter anderem von Russland, im Süden die Demokraten...“

„Die Frage nach dem Willen ist sehr berechtigt! Ich wünsche mir Respekt und Haltung gegenüber den Interessen der Ukraine.“

„So ernst das Thema ist und so sehr mich der Maidan und die Menschen damals bewegt haben, sie hab3n meinen tiefsten Respekt und meine Unterstützung, aber lieber robosebi, Dein Beitrag wirkt wie eine Werbeveranstaltung...“

„Die Willensbekundungen zur Aufnahme der Ukraine in die NATO und der EU dienen doch einzig und alleine dem Zweck, die Moral der Bevölkerung und der Armee etwas aufzubessern. Wenn es denn mal akut werden...“

„Wer den Krieg in der Ukraine verstehen will, muss den Maidan verstehen! Kyjiw , November 2013. Eine überraschende Entscheidung der ukrainischen Regierung löst eine Welle von Protesten aus, die das Land...“

„Vielen Dank für die Information“

„Hallo ! Ich überlege ob ich nach Odessa in die Ukraine Fahre um ein paar Bekannte zu Besuchen. Kann mir jemand genau sagen, wie zur Zeit das Leben in Odessa ist ? Wie ist die Verfügbarkeit vom Strom...“

„In der Region Lwiw, wo ich unterwegs bin, sind 10 Hrywen unterschied je Liter keine Seltenheit. Ausgangs Lwiw z.B., kostete ein Liter Diesel 58,5 UAH und in Jaworiw habe ich für 49 UAH getankt. Tanke...“

„Hallo, Ich wollte einmal fragen ob ihr Tipps zum günstigen Tanken in der Ukraine habt? Gibt es Apps zum Preise vergleichen? Bei meiner Suche habe ich soetwas nicht gefunden. Oder gibt es spezielle Marken...“

„@naru gut zu wissen, dass die EU Privilegien weiter gelten, ich war mir nur nicht sicher, allerdings geht es eben nur wenn man mit EU Pass reißt und kein ukrainische Staatsbürger mit im Auto sitzt. Mir...“

„Das ist mit klar. Es gibt keinen Friedensvertrag mit Putin. Darum sollte es auch gar nicht mehr gehen. Der einzige Zweck eines Angebotes eines Vertrages durch die Ukr. soll die moralische Überlegenheit...“

„Interessant, dass es das nicht mehr geben soll, bzw. keinen Vorteil bringen soll. Ich bin im März über Krakowez nach UA eingereist. An der ersten Schranke auf der Autobahn waren alle gleich. Auf dem...“

„@naru also damit ich Deine Frage aber genau beantworte, ich gehe aber davon aus, dass Du mit ukrainischen Staatsbürgern im Auto diesen Service, sprich EU Spur wirst NICHT wahrnehmen dürfen. Habe mich...“

„Aus eigener Erfahrung muss ich jetzt aber noch einen Einwand machen, zum Grenzübergang Dorohusk–Jahodyn (Ягодин) In beide Richtungen gab es 2021 noch eine EU Spur, die waren beide erheblich schneller,...“

„So schlecht ist der Vorschlag sicherlich nicht! Die Abrüstung der Waffen/Militärgeräte könnte die Ukraine und Helfer... Nato in der Art umgehen, dass das ganze Material z.B. in Polen eingelagert wird,...“

„Von der Ukraine kommend und nach Polen ( EU) einreisend, gibt es keine direkte EU Spur. Alle stehen, außer CD, in einer Schlange und wie von Handrij geschrieben, wird man in einer Abfertigsspur zugewiesen....“

„Seit den visumfreie Reisen in den Schengenraum für Ukrainer sind mir da gar keine speziellen EU-Spuren mehr aufgefallen. Gibts das überhaupt noch?“

„Kurze Frage. Muss man bei der Einreise in die EU, an der polnischen Grenze, mit deutschen Fahrer und deutschen Kennzeichen, aber weiteren Ukrainern im Auto, auf die Spur für alle, oder darf man auf die...“

„Zur Diskussion - könnte so ein realistisches Angebot der Ukraine an Russland aussehen? Wie würde Russland reagieren - auf einige Forderungen/(fiktiven) Ängste Russlands wird hier ansatzweise Rücksicht...“

„Was will Faschisten-Russland schon eskalieren? Haben die nicht sogar Truppen von den NATO-Grenzen abgezogen weil es eng wird?“

„Den direkten Konflikt mit Russland gibt es doch schon lange. Natürlich ist das kein heißer Konflikt. Aber, gesprengte Pipelines, diverse Hackerangriffe, Morde an in Europa lebenden russischen Migranten...“

„Die Einwanderung ist inzwischen leichter geworden. Siehe: unbefristete-aufenthaltsgenehmigung-ein ... 48448.html Ansonsten halt der übliche Kram: Ehe, KInd, ukrainische Ahnen, Ostfronteinsatz. Aber dann...“

„Die temporäre Aufenthaltsgenehmigung hat vor allem den Nachteil, dass du für die jeweilige Erneuerung jedes Mal eine Grundlage brauchst, deren Bedingungen sich ändern können. Mit einer befristeten...“

„In der Praxis habe ich auch noch von keinem Einwanderer hier gehört, dass er seinen ausländischen Führerschein umgetauscht hat. Allenfalls, dass sich Leute einen zweiten ukrainischen zugelegt haben....“

„Liebe Alle ich habe an anderer Stelle einiges zum Thema gelesen, jedoch nicht die wirklich passende Antwort gefunden. Vielleicht hier? Muss man wirklich, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis für die Ukraine...“

„Hat jemand eine Idee wie ich mein Bike von köln beispielsweise nach krementschuk schicken kann? Gibt es jemanden der Transporte in die Ukraine macht? Dankeeee“

„Hatte gestern so eine Situation. Nach einer Mautstelle, stand polnische Policia und verfolgte mich anschließend mit Blaulicht. Bitte folgen, das war in Kattowitz. Sie meinten, ich hatte kein Licht an,...“

„Hallo Forengemeinde, bin heute früh 6 Uhr über Korczowa in die Ukraine eingereist. 1,5 h ohne Probleme. Straßen, sind teilweise sehr marode“