Roman Schuchewytsch (zweiter von links in der unteren Reihe) im Führungskreis des Wehrmachtsbataillons "Nachtigall".
In Kiew wurde der bisherige Vatutin-Prospekt in Šuchevyč-Prospekt umbenannt, als weiterer Akt der Substitutions-„Dekommunisierung“ der ukrainischen Zeitgeschichtsschreibung und Öffentlichkeit. Wobei die in Kiew gegenwärtig dominierenden Historiko-Politiker nach der guten alten amerikanischen Vorgabe zu handeln scheinen, dass, wenn man die Wahl habe, der hauseigene „son of a bitch“ dem fremden stets vorzuziehen sei.
Vatutin war ein Sowjetgeneral, einer der Feldherren von Stalingrad und Kursk, der Anfang 1944, nach der Rückeroberung der westlichen Ukraine durch die Rote Armee, in der Region Rivne in einen Hinterhalt ukrainischer nationalistischer UPA-Partisanen geriet und den dabei erlittenen Verletzungen später erlag.
Wir wissen, dass, was in der sowjetischen Geschichtsauffassung als „Rückeroberung“ und Befreiung der Westukraine galt, von der betroffenen Bevölkerung in Form von Besatzung, NKWD-Strafexpedition und Massendeportation erlitten und empfunden wurde; die Geschichte der Kollaboration von Ukrainern mit der NS-Besatzungsmacht, die von westukrainischen Patrioten als das berühmte kleinere Übel wahrgenommen wurde, ist eng mit dieser Wahrnehmung verflochten.
Und so wurde aus dem Kriegshelden (SU) Vatutin der Kriegsheld (UA) Roman Šuchevyč – ein UPA-Führer mit der nicht untypischen westukrainischen Politbiographie der Generation 1910: Jugend als Teil einer krass benachteiligten ethnischen Minderheit im polnisch beherrschten Galizien (wo diese Minderheit allerdings die Mehrheit war), Frust über das Scheitern der ukrainischen Staatsbildung, die der Generation 1880 nicht gelungen war; eine militante Karriere vom Lemberger Diplomingenieur über den National-Terroristen zum Kollaborateur, der die Chance der Ukraine mit dem deutschen Überfall auf Polen gekommen sah; 1941 Organisator ukrainischer Wehrmachts-Einheiten; ab 1943 Entfremdung von dem Deutschen, Haft, Flucht und Einstieg in einen Partisanenkrieg auf eigene Rechnung.
Kurz gesagt, Šuchevyč war einer, der dachte, den Nazitiger reiten zu können, um in der unabhängigen Ukraine abzusteigen, und einer, der überzeugt davon war, dass beim Zurechthobeln der ukrainischen Nation gern auch mal Späne fallen dürften: die der unerwünschten Juden, die als Sozialantagonisten der Ukrainer angesehen wurden und deren Massenermordung zwar nicht fein, aber historisch notwendig sei, und die all jener Ukrainer, die aufgrund ihrer sowjetischen Biografie nicht in das Bild der „Nation über alles“ passten.
In den Diskussionen, die ich dazu verfolge, geht es nun um die Frage, ob solche Figuren als Helden der heutigen Ukraine taugen oder nicht; als Argument für die Umbenennung höre ich dabei immer wieder das große „What about“. Jede Armee der Weltgeschichte habe Kriegsverbrechen auf dem Kerbholz, aber ganz besonders jene, der Vatutin als Kommandeur diente; Šuchevyč habe für die „sauberere“ Wehrmacht gekämpft, aber nicht in der SS, und dergleichen Entschuldbarkeiten.
Diese Diskussion ist Ergebnis einer sonderbaren Konstellation. Die Interpretationshoheit der ukrainischen Kriegsgeschichte liegt in Kiew momentan bei einer Gruppe von patriotischen Historikern um das sogenannte „Institut der nationalen Erinnerung“ und seinen Vorsteher Vjatrovyč – eine Institution, welche in der seriösen ukrainischen und internationalen Fachkollegenschaft mehr als umstritten ist, die dieser aber durch Agilität und gute Regierungsbeziehungen den Schneid abkauft.
Im Ergebnis hat diese Krawalltruppe die Macht, über Straßenumbenennungen und Archivpolitik, unter anderem den Umgang mit den KGB-Archiven, zu entscheiden. Ihr Grundton ist mit Blick auf die UPA und ihre belegten Massenmorde an der polnischen Zivilbevölkerung in Wolhynien exkulpativ, mit Blick auf das Verhältnis der OUN und UPA zur Wehrmacht apologetisch.
In den Facebook-Diskussionen gab ich, auf Grundlage der deutschen neueren Forschung zu den Verbrechen der Wehrmacht, zu bedenken, dass es sich hier um eine Armee im Rassen- und Weltanschauungskrieg gehandelt habe, mit der die Šuchevyčs da angebandelt hätten, und von der sie sich ja auch willig im „Partisanenkrieg“ – d.h. in der Regel im totalen Vernichtungskrieg gegen die Zivilbevölkerung in Belarus – einsetzen ließen. Ich fragte, ob die moderne Ukraine denn eine solche Heldenfigur für eine gute Nachfolge Vatutins halte: schließlich stehe die Heroisierung Šuchevyčs auch für eine Affirmation der Werteskala Šuchevyčs, derzufolge Juden und Linke in der ukrainischen Nation nichts verloren hätten.
Viel ist in der Ukraine erklärbar durch die andauernde Kriegsführung Russlands an der östlichen Grenze und durch das Gefühl des Alleingelassenseins. In solchen Situationen gewinnen immer die Militanten, die einfachen Rezepte und die makellosen patriotischen Narrative. Und macht man es in Russland, Ungarn oder Polen nicht genauso – mehr oder weniger korrupte Eliten konsolidieren ihre Gesellschaften mit patriotischen Feinderklärungen? Warum sollen es ie Ukrainer dann nicht auch dürfen?
Richtig. Macht man, und darf man. Nur sollten die Ukrainer sich nicht vertun: sie sind in einer ungleich schwächeren Position als Russland, die Atom- und Gasmacht oder Polen und Ungarn, die warm am Ofen von EU und NATO sitzen. Die Ukrainer hingegen sind gerade dabei, ihre am Majdan erkämpfte Reputation zu verzocken – die ihr einziges Kapital ist, mit dem sie sich vom Rückfall in den autoritären russischen Sumpf freikaufen können.
Wir wissen, dass es auf dem Majdan auch den Rechtsmajdan gab – jenen, den Moskau im Verbund mit westlichen Linken für die treibende Kraft der Revolte von 2014 ausgab. Die ukrainischen Eliten geben mit ihrem turn to the right diesen Interpreten nachträglich recht. Sie haben offenbar den Schuss nicht gehört: In einer Situation, in der sie unverschuldet die USA als zuverlässigen Mentor verlieren, entledigen sie sich bewusst und schuldhaft ihrer treuesten Fürsprecher im westlichen Europa. Diese werden solche Wendungen nicht mitgehen. „Vatutin zu Šuchevyč“ ist nur ein Symptom. Die Krankheit sitzt viel tiefer, und sie wird in Kiew nicht bekämpft.
3. Juni 2017 // Anna Veronika Wendland
Quelle: Facebook
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