Die Demontage des sowjetischen Erbes brachte der Ukraine sowohl ärgerliche Fehlschläge als auch unbestreitbare Erfolge. Unter den Letzteren befindet sich der Abschied vom ehemaligen „Tag des Vaterlandsverteidigers“. Wir verzichteten auf den 23. Februar zugunsten des 14. Oktobers, und das ist einer der seltenen Fälle, in denen die Entsowjetisierung nicht nur einen Etikettenwechsel, sondern auch einen kardinalen Sinneswandel mit sich brachte.
Der dreiundzwanzigste Februar verband nicht nur die unabhängige Ukraine mit der UdSSR und Russland. Der „Tag des Vaterlandsverteidigers“ an sich war eine seltsame Zusammenstellung aus patriarchalen Traditionen, Geschlechtsstereotypen und etatistischen Idealen. Er wirkte wie der Widerhall einer ganzen Lebensphilosophie.
Nach dieser Philosophie wird das Schicksal eines Menschen im Moment seiner Geburt festgelegt. Wirst du als Junge geboren, probier die Militäruniform an und bereite dich darauf vor Soldat zu sein. Wirst du als Mädchen geboren, trag ein Gänseblümchenkleidchen und schenke dem zukünftigen Krieger Glückwunschkarten.
Der Staat beherrscht seine Beschützer von jungen Jahren an, als ob sie leibeigene Bauern wären. Und auf ein Signal von Oben hin müssen alle, die in der Heimat registriert sind, die festgelegte Norm an Kampfesmut und Einsatz an der Front zeigen und sich den feindlichen Maschinengewehren entgegenstellen.
In der Mitte des letzten Jahrhunderts schien dieses Modell der Verteidigung des Vaterlandes optimal. Doch mit der Zeit verlor es den Bezug zur Realität und entwickelte sich zur reinen Formsache.
Zum Maß des Kampfesmuts wurde die Fähigkeit sich nach dem Weckruf in 45 Sekunden anzuziehen und die Stiefel des „Alten“ auf Hochglanz zu polieren. Man zeigte sich stolz über die überstandenen harten Prüfungen und blickte auf die anderen Männer herab.
Übrigens blieben am 23. Februar auch diejenigen nicht unberücksichtigt, die der Dienstzeit glücklich entkommen waren. In der postsowjetischen Epoche wandelte sich dieser Tag in einen rituellen Männer-Festtag. Socken mit Eau de Cologne schenkte man allein für die Zugehörigkeit zu dem Geschlecht, das sich mit der hypothetischen Funktion des Beschützers identifiziert.
Bei allem bezweifelten die Bürger der unabhängigen Ukraine nicht, dass ihnen die Verteidigung ihres Heimatlandes niemals zufallen würde.
Für den Zeitraum vieler Jahre repetierten wir das alte Stück mit vorgeschriebenen Rollen, die niemand einzunehmen beabsichtigte. Nominal beliefen sich die Beschützer des Landes auf Millionen, aber faktisch war das Land absolut nicht für einen Angriff von außen und einen bewaffneten Konflikt bereit.
Die Ukrainer lebten in einer großen komfortablen Illusion. Und ihr symbolischer Gründungstag war der 23. Februar, der kleinbürgerliche Feiertag der Muskelkraft und der Tag des ungeschützten Vaterlandes.
Und dann erreichte ein unerwarteter Krieg die Ukraine. Die Illusion brach zusammen und begrub gewohnte Formalismen und Schablonen.
Es zeigte sich, dass die Zahl der Wehrpflichtigen nicht im Geringsten die Kraft widerspiegelt, die man dem Feind tatsächlich entgegenstellen kann.
Es zeigte sich, dass ein Jüngling ohne Erfahrung des Armeedienstes als Freiwilliger an die Front gehen kann, und der stolze Besitzer eines Dienstabschlussalbums taucht in der Musterungsbehörde nicht auf.
Es zeigte sich, dass ein schmales Mädchen zur Beschützerin der Ukraine werden kann, während der kräftige Macho in den Bars der Hauptstadt Whiskey trinkt und demonstriert, dass ihn das Geschehen im Donbass nichts angeht. Das Jahr 2014 diskreditierte alle sozialen Legenden und nahm uns das Erbe der alten Zeiten.
Vor vier Jahren kam heraus, dass der Schutz des Vaterlands keine Geschlechtsrolle ist, sondern eine bewusste menschliche Entscheidung. Zum echten Beschützer des Landes wird man nicht geboren, man wird es aus freiem Willen.
Der wahrhafte Beschützer der Heimat leistet nicht einen Dienst ab, sondern erfüllt eine moralische Pflicht vor sich selbst. Er kämpft nicht, weil es „so üblich“ ist, sondern weil er nicht anders kann.
Ja, in der Theorie hat ein Krieg führendes Land das Recht, alle gesunden Männer zwischen 18 und 60 als Soldaten zu verpflichten, aber in der Praxis verteidigen diejenigen die Ukraine, deren eigenes Gewissen es ihnen nicht erlaubte vor dem Krieg davonzulaufen.
Theoretisch war 2014 ein Test des Staatsapparates, die Bürger in Tarnanzüge zu stecken und in die Schützengräben zu schicken. Aber praktisch wurde 2014 zum Test für die Bürger selbst, und in die Schützengräben gingen jene, die mit dieser Perspektive einverstanden waren.
Die soziale Mobilität des 21. Jahrhunderts macht eine verpflichtende Mobilmachung eher zu einer Einladung als zu einer Verpflichtung zum Krieg. Der hybride Konflikt des 21. Jahrhunderts braucht kein gezwungenes Kanonenfutter, sondern motivierte Krieger.
Es ist schwierig einen modernen Menschen zu einem Soldaten wider Willen zu machen, und unmöglich aus ihm einen guten Soldaten zu machen. Von alldem musste man die kämpfende Ukraine überzeugen.
Wenn der 23. Februar der Feiertag formalisierter Rollen war, so wurde der 14. Oktober zum Feiertag der getroffenen Wahl und des menschlichen Geists. Der Tag echter und nicht theoretischer Beschützer, unabhängig von Geschlecht, Alter und sozialer Herkunft.
Die Ukraine hat nicht nur ein fremdes Datum in ein eigenes verwandelt: an die Stelle einer Illusion trat die reale Wirklichkeit.
Die Zeit der Nachahmung endete vor vier Jahren. Doch umso unsinniger erscheinen wir, wenn wir versuchen dieselbe Illusion zu nutzen, die 2014 zusammenbrach. Wenn wir aus Trägheit weiter in den Kategorien denken, die uns von der Realität trennen.
Mancher sieht den Kriegsdienst noch immer als Form staatlicher Bestrafung und träumt davon korrupte Beamte und unverschämte Kinder der Priviligierten in die Schützengräben zu schicken. Wobei sich im fünften Jahr des Krieges die offensichtliche Frage stellt: Wofür brauchen wir sie dort und welchen Nutzen können sie an der Front bringen?
Andere regen sich über die Verweigerung der unvernünftigen Jugend gegenüber dem Armeedienst auf und möchte mit den Drückebergern kämpfen. Obwohl es sich lohnt, über etwas anderes nachzudenken: Ist es möglich, aus zwangsweise Einberufenen eine adäquate Reserve für den Schutz der Ukraine zu formen? Ich glaube, dass das Land jetzt keine Menschen mit Einberufungsbefehlen braucht, sondern Menschen, die tatsächlich bereit sind, das Land im Ernstfall zu verteidigen.
Und einige fantasieren immer noch von der totalen Mobilmachung der gesamten ukrainischen Gesellschaft. Doch wenn es noch nicht einmal im kritischen Jahr 2014 gelungen ist, sich dem israelischen Modell anzunähern, wie soll das dann jetzt umgesetzt werden?
Mit Worten ist es einfach, die Ukraine in ein Land von Kämpfern zu verwandeln, in dem die ausnahmslose Bekanntschaft mit Maschinengewehr und Granatwerfer im Kindergarten beginnt. Nur, das Einzige, was man mit einer allgemeinen Einberufung erreichen kann, ist die Begründung einer neuen Illusion. Der Degradierung des 14. Oktobers zum nächsten „Tag der Jungen und Männer“, der dann genauso falsch und inhaltsleer ist wie der beerdigte 23. Februar.
24. Februar 2018 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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