Die neue Strafprozessordnung: komplizierter als es scheint, humaner als man sagt
Das Inkrafttreten der neuen Strafprozessordnung (StPO) im Jahr 2012 wurde zum bemerkenswerten Ereignis im ukrainischen Rechtssystem. Man muss unterstreichen, dass das Dokument gute Noten durch internationale Experten erhielt. Der Generalsekretär des Europarates Thorbjørn Jagland bemerkte beim Auftritt vor der Parlamentsversammlung des Europarats am 2. Oktober 2013 „die erfolgreiche Implementierung der Strafprozessordnung, die nach der Empfehlung des Europarates angenommen wurde, schreitet voran. Die Ukraine folgte fast 100 Prozent unserer Empfehlungen.“ Der Direktor des Direktorats für Menschenrechte der Generaldirektion für Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit im Europarat Christos Giakoumopoulos erklärte am 30.Oktober 2013, dass die Strafprozessordnung der Ukraine eine der besten in Europa ist.
Von der Seite des Maßstabs der Veränderung betrachtet ist die Zeit seit Inkrafttreten der neuen StPO für abschließende Schlussfolgerungen unverkennbar zu kurz. Die Wirksamkeit eines beliebigen Aktes nimmt nicht nur durch die Vollendung der Norm Gestalt an, sondern auch durch die Praxis ihrer Annahme, für die Veränderung dieser ist unbedingt deutlich mehr Zeit notwendig als ein Jahr. Kritiker der neuen StPO vertreten die These, dass der Kodex unwirksam ist, weil es keine nennenswerte Vergrößerung der Zahl der Freisprüche gibt. Diese Behauptung stützt sich auf einen nicht ganz korrekten Vergleich statistischer Daten, die unabhängig vom Komplex der sich im Strafprozessrecht vollziehenden Veränderungen betrachtet werden.
Anders gesagt, verwendet man einen einfachen mechanischen Vergleich statistischer Zeiger von Schuldsprüchen und Freisprüchen, die keinen Blick darauf erlauben, wie das neue System des Strafprozessrechts im Ganzen funktioniert. Schlüsse über die Wirksamkeit der neuen StPO der Ukraine zu ziehen, indem man nur die Häufigkeit der Freisprüche betrachtet, das ist dasselbe wie die Kunstfertigkeit eines Autoren nach der Anzahl der von ihm beschriebenen Seiten zu bemessen.
Die reine Quantität von Freisprüchen steht nicht im Zusammenhang mit irgendwelchen Zielen des Strafrechts. Diese Quote ist nur einer der Indikatoren für die Bewertung der Humanität des Strafrechts und des Niveaus des objektiven Handels staatlicher Organe.
Es existiert eine ganze Reihe anderer Indikatoren, die die Konstruktion einer Schlussfolgerung über die Humanität, Wirksamkeit und Gerechtigkeit des Strafrechts erlauben, und die Einhaltung der Balance der Interessen des einzelnen Bürgers und der Gesellschaft als Ganzem gewährleisten. Dazu kann man im Detail zählen, die Anzahl der Personen, die sich in Untersuchungshaft befinden, die aktive Verwendung von Unterbringungsanordnungen die nicht Gefängnishaft ist, die Zahl der Eingriffe in das Privatleben der Bürger (Verhaftung, Ermittlungen, Vorladungen von Bürgern zu den gesetzeshütenden Organen, verdeckte Ermittlungen, usw.); die Dauer von Ermittlungen und Gerichtsverhandlung, die Zahl derer deren Rechte infolge der Strafverhandlung wiedereingesetzt wurden, etc.
Die Analyse entsprechender statistischer Kennziffern demonstriert verlässliche Resultate der Existenz des neuen Kodex, zum Beispiel:
- Die Zahl der Personen, die sich in Untersuchungshaft befinden im Zusammenhang mit vorübergehendem Freiheitsentzug in Form von Gefängnishaft, hat sich fast halbiert.
- Der Hausarrest findet häufige Anwendung (12 Prozent aller für die Untersuchungshaft bestimmten). In der Geltungszeit des alten Kodex hätte sich die absolute Mehrheit der heute unter Hausarrest stehenden in Untersuchungshaft befunden.
- Deutlich verringert hat sich die Zahl der Eingriffe in das Privatleben der Bürger in Form von Durchsuchungen, Beschlagnahmung von Dokumenten, „Abhören“ und anderer verdeckter Ermittlungsverfahren.
- Nahezu 15 Prozent aller Fälle werden im gegenseitigen Einvernehmen entschieden, das heißt in dem Fall, in dem alle Seiten das als wichtig für ihre Interessen erachten.
Um unmittelbar zu den Freisprüchen zurückzukehren, lohnt es sich vertrauenswürdigen Statistiken ihrer Zunahme Beachtung zu schenken. So hat sich der Anteil der Freisprüche im ersten Halbjahr 2013 im Vergleich zu ersten Halbjahr 2012 mehr als vervierfacht
.
Außerdem kann man bei der Analyse der Dynamik des Zuwachses an Freisprüchen nach Inkrafttreten des neuen Kodex noch einen interessanten Fakt sehen: In den letzten drei Monaten fanden 60 Prozent aller Freisprüche in der Geltungszeit des neuen Kodex statt. Anders gesagt, die Wachstumstendenz der Anzahl der Freisprüche verstärkt sich deutlich, was Grund zur Hoffnung auf eine weitere deutliche Erhöhung ihrer Zahl gibt.
Ich bin überzeugt, dass die Auslegung der Dynamik der Veränderung der Anzahl der Freisprüche nach der neuen StPO ausschließlich in Beachtung ihres einfachen Verhältnisses zur Zahl der Freisprüche während der Gültigkeit des alten Kodex grundlegend falsch ist.
Die Gesamtheit der Faktoren, die die Anzahl der Freisprüche und ihren Anteil an allen Urteilen nach der Annahme der neuen StPO beeinflussen, bedürfen einer genaueren und komplexen Analyse.
Ich führe nur einige dieser Faktoren an.
1. Verzicht auf die Prozedur der Wiederaufnahme einer Strafsache für weitere Ermittlungen.
Die Möglichkeit eine Strafsache für zusätzliche Ermittlungen zurückzusenden, welche die StPO von 1960 bot, erlaubte dem Gericht, die Strafsache unbegrenzt oft dem Staatsanwalt zurückzugeben zwecks Organisation weiterer Ermittlungen, was im Falle unzureichender Beweise gegen den Angeklagten oft als Alternative zum Freispruch verwendet wurde. Ein Ermittler, der einen Fall zur abschließenden Verhandlung an das Gericht übergab, riskierte faktisch nichts, da er den Fall bei einer „negativen“ Entwicklung für die Seite der Anklage einfach wieder zurück bekam für einen weiteren Versuch, Schuldbeweise zusammenzutragen.
Die Abschaffung dieser für die Gesetzeshüter so bequemen und dazu noch mit europäischem Standard nicht zu vereinbarenden Prozedur hat die Anforderungen an die vorgerichtliche Ermittlungsarbeit deutlich erhöht. Jetzt kann der Fall nach Einreichung der Anklageschrift ans Gericht nicht zur Durchführung weiterer Ermittlungen zurückgegeben werden und sollte mit der abschließenden Gerichtsentscheidung zum Abschluss kommen.
Die Möglichkeiten für Ermittler und Staatsanwalt, auf fragwürdige Weise Beweise zu sammeln und den Fall auf schwachen Füßen vor Gericht zu bringen wurden mit dem neuen Kodex deutlich eingeschränkt und die Möglichkeiten der Verteidigungsseite gestärkt. Die Normen des Kodex, die die Bedingungen der Verhaftung Verdächtiger eingrenzen, erweitern die Rechte der Anwälte, führen für die Seite der Verteidigung die Möglichkeit der selbstständigen Erbringung von Expertisen und die Initiierung von Ermittlungen und anderer prozessualer Tätigkeiten unmittelbar vor Gericht ein, erweitern die gerichtliche Kontrolle – in ihrer Gesamtheit erlauben sie, die Verteidigung wirksamer zu machen und erhöhen entsprechend die Anforderungen an die staatsschützenden Organe während der Ermittlungen auf eine professionelle Ebene.
Infolge dieser Neuerungen begannen die Gesetzeshüter bei der Entscheidung über die Übersendung eines Falls zur Gerichtsverhandlung abwägender vorzugehen und die Praxis der Übersendung von Strafsachen mit schwacher Beweisführung hörte auf zu existieren, da sie aufgrund des unausweichlichen Abschlusses dieser Sache mit Freispruch der Person ihren Sinn verlor.
Die aufgezeigten Veränderungen werden gestützt durch eine Analyse der Zahl der durch das Gericht beurteilten Personen: im ersten Halbjahr 2012 wurde verhandelt über 90 743 Personen, im ersten Halbjahr 2013 über 70 078 Personen, das heißt 20 665 Menschen oder 23 Prozent weniger.
Diese wichtige und ganz wesentliche Kennziffer beweist, dass die Strafverfolgung bei der Menge dieser Personen, die sich zukünftig vor Gericht verantworten hätten müssen, bereits im Stadium der vorgerichtlichen Ermittlungen eingestellt wurde.
Anders gesagt, potenziell „Freigesprochene“ erfüllen die Kategorie der Personen, die erst gar nicht eines Verbrechens angeklagt wurden. Natürlich kann man nicht eindeutig davon ausgehen, dass alle der angeführten mehr als 20.000 Personen freigesprochen worden wären, aber selbst ein kleiner Anteil dieser Personenzahl könnte für Hunderte oder sogar Tausende Freisprüche stehen.
Ich bin überzeugt, dass für die Bürger dieses Ergebnis, die Einstellung des Verfahrens im vorgerichtlichen Stadium annehmbarer ist als ein Freispruch vor Gericht, wo dies doch das Leben weniger beeinflusst und weniger Aufwand an Zeit, Geld und Nerven bedeutet.
2. Abschaffung der Prozedur der „Privatklage“
Im Kontext der Analyse dieses Faktors ist zu bemerken, dass viele Freisprüche, die im Einklang mit der Strafprozessordnung der Ukraine von 1960 entschieden wurden, auf diese Variante der Rechtsprechung fielen. So erreichte ihr Anteil im Jahr 2012 40 Prozent (!) aller getroffenen Freisprüche.
Es ist unbedingt dran zu erinnern, dass die „Privatklage“ vorsah, dass sich die Opfer der Klage nicht an die ermittelnden Organe, sondern unmittelbar an das Gericht wenden, das die Strafverhandlung ohne vorhergehende Ermittlungen führte. In der Regel waren Gegenstand dieser Rechtsprechung willkürliche Anklagen wegen leichter Körperverletzung und ähnlicher Fälle, die oft an der Grenze zwischen Straftat und anderen Formen der Rechtsbeugung balancierten, die nichts mit Verbrechen gemein hatten (z.B. häuslicher Streit, Unstimmigkeiten zwischen Nachbarn usw.).
Nach Inkrafttreten der StPO in 2012 bedürfen diese Fälle unbedingt vorgerichtlicher Ermittlungsarbeit und schließen in der Regel mit einer außergerichtlichen Einigung ab oder erreichen einfach das Gerichtsstadium nicht, weil die Rechtsprechung sie schon im Stadium der Ermittlung abschließt, als private Vorfälle in Ermangelung einer Straftat oder auch wegen objektiver Schwierigkeiten, ausreichend Beweise für eine Anklageschrift beizubringen im Zuge gegenseitiger Beschuldigungen.
In dieser Hinsicht sollte sich im Zusammenhang mit der Abschaffung der Institution „Privatklage“ die Gesamtzahl der Freisprechungen verringern, aufgrund des Ausschlusses von Freisprüchen dieser Kategorie. Trotzdem ist, wie schon weiter oben erwähnt, die Gesamtzahl der Freisprüche gestiegen und die Wachstumstendenz hält an. Dies bezeugt, dass Freisprüche in Fällen der „Privatklage“ mit der Statistik der Freisprüche in ernsteren strafrechtlichen Gesetzesbrüchen vermischt waren.
Folglich, anstelle von Freisprüchen in Strafrechtsfällen ziemlich unbedeutender Verbrechen, zusammengestellt 40 Prozent aller Freisprüche, erhielten wir nach der Annahme der neuen StPO der Ukraine diese Urteile relativ schwererer Verbrechen. Das zeugt vom stufenweisen Umbau der rechtlichen Praxis, in der ein Freispruch als „unvorhergesehene Erscheinung“ in der Arbeit der Organe des Rechtssystems und der Gerichte angesehen wird.
3. Einführung der Möglichkeit einer Einigung zwischen Verdächtigem und Opfer oder Staatsanwalt in der Strafrechtsprechung
Dieser Faktor spielt auch eine wichtige Rolle, zumal er einen unmittelbaren Einfluss auf den Vergleich der Zahlen von Freisprüchen und Verurteilungen hat. Die Kritiker haben fälschlicherweise nicht die Geschwindigkeit der Annahme verschiedener Typen von Gerichtsentscheidungen eingerechnet. So enden dank der Einführung der Einigung im Strafprozess fast 15 Prozent der Verhandlungen in einer Einigung. Ähnliche Fälle werden in kurzer Zeit ermittelt und verhandelt: manchmal vergehen zwischen Tatzeitpunkt und dem Urteil über die Anerkennung der Einigung zehn Tage, zudem erhalten alle ein verlässliches Ergebnis: das Opfer die schnelle Wiedererlangung seiner Rechte (Schadenersatz, moralische Satisfaktion), der Beschuldigte eine schnelle Verhandlung und die von ihm vorher zugestimmte Strafe, der Staat Einsparnisse bei Arbeitskräften und finanziellen Ressourcen.
Hinzu kommt, solche Einigungen werden durch Schuldurteile unterstützt, was entsprechend die Statistik der verhandelten Fälle füllt. Verfahren aber, die mit einem Freispruch enden, dauern hingegen Monate, wobei viel Zeit für die Ermittlung von Beweisen, die Streitverhandlung mit Befragung aller Zeugen und die Untersuchung aller Beweismittel vor Gericht, den Berufungsprozess usw. gebraucht wird.
Folglich wächst die Zahl der Verurteilungen deutlich schneller als die der Freisprüche, was sich bei der Betrachtung des kleinen Zeitraums, in dem die neue StPO der Ukraine gilt, direkt auf das Verhältnis zwischen diesen Urteilsarten auswirkt, dabei, versteht sich, nicht zugunsten der Freisprüche.
In dieser Hinsicht wird die Unmöglichkeit des buchstäblichen Vergleichs der Zahlen oder Prozente mit dem Ziel der genauen Bestimmung einer Tendenz des Wachstums der Zahl der Freisprüche seit der Annahme der neuen Strafprozessordnung der Ukraine offensichtlich.
Die Formel, die man braucht, um die Tendenz der Strafgerichtsbarkeit in der Frage der Freisprüche (oder genauer – Nichtverurteilungen) unschuldiger Personen nach alter und neuer Prozedur zu ermitteln, ist viel komplizierter als der einfache mechanische Vergleich der aufgestellten Ziffern. Diese Formel muss den Vergleich untersuchen einerseits der Zahl der Freisprüche nach der StPO von 1960 und andererseits die Gesamtheit der Anzeiger für die Zahl der Freisprüche nach dem neuen Kodex, die Zahl der nicht verhandelten Fälle, die Unterschiede in der Dauer, die für Aushandlung des Freispruchs oder der Verurteilung notwendig ist.
Bilanzierend rechne ich damit, dass die weitere Implementierung der Norm der StPO der Ukraine nicht nur die Häufung der freigesprochenen Personen, sondern auch die Erhöhung des Niveaus von Gerechtigkeit und Humanität im Strafrecht begünstigen wird. Die erreichten Ergebnisse der Annahme seiner Verordnungen zeugen eindeutig von einer Bewegung in die richtige Richtung.
8. November 2013 // Andrej Pojda
Quelle: Serkalo Nedeli