(Nicht-)Lesegesellschaft: Warum Ukrainer wenig lesen und was man dagegen tun sollte


Vor kurzem wurde das ukrainischsprachige Facebook erneut von einem Skandal erschüttert. Zumindest derjenige Teil davon, der manchmal Bücher liest und Trends, Neuheiten sowie Autoren folgt. Der ukrainische Buchmarkt und der Skandal waren im letzten Jahr untrennbar. Mal verkauft der Verlag „Staroho Lewa“ (dt. Alter Löwe Verlag) die Rechte für seine Bücher in Russland, mal fängt der größte Online-Buchshop des Landes, „Yakaboo“ an, mit der Zweigstelle eines der größten Akteure auf dem russischen Buchmarkt aktiv zusammenzuarbeiten. Falls gewünscht, kann diese Liste erweitert werden.

Diesmal hat sich die Buchhandlungskette „Je“ „ausgezeichnet“. Sie wurde beschuldigt, russischen Büchern bei Suchalgorithmen im Online-Shop Vorrang vor ukrainischen Analogen gegeben zu haben. Ein weiteres „Highlight“ wurde eine bedeutende Anzahl an Produkten des Verlags „Alpina-Ukraine“ (eine Zweigstelle des russischen Verlags „Alpina“) im Sortiment von „Je“, für die Zusammenarbeit mit welchem derselbe „Je“ vor einem Jahr den Hauptkonkurrenten „Yakaboo“ verärgert kritisierte.

In einer Antwort auf die Kritikwelle erklärten die Vertreter von „Je“, dass ohne den Verkauf russischsprachiger Bücher ein erfolgreiches Geschäft im Bereich des Buchhandels in der ukrainischen Realität unmöglich zu führen sei. Man kann deswegen sehr verärgert sein, jedoch wird diese Tatsache dadurch nicht weniger wahr sein. Und logisch wäre es, nicht die größte Plattform für den Verkauf ukrainischer Bücher zu hassen (wobei es wegen der Inkonsequenzen sogar erlaubt wäre), sondern zu überlegen: Warum lohnt es sich in der Ukraine mehr, ein russisches Buch und nicht ein ukrainisches zu verkaufen?

Erstens ist das russische Produkt billiger. Aufgrund des deutlich größeren Umfangs des russischen Buchmarktes sind die Stückkosten dort niedriger, als bei einem ukrainischen Verlag. Zweitens ist der Großteil der ukrainischen Bevölkerung russischsprachig, der in entsprechender Sprache lesen will. Drittens besteht in der Ukraine die berüchtigte Kategorie unter dem Motto „was macht das für einen Unterschied“. [Anspielung auf die Neujahrsansprache von Präsident Wolodymyr Selenskyj. A.d.R.]

Dies sind ukrainischsprachige Menschen, die sich zum Beispiel keine Mühe geben, nach einem ukrainischen Analog zu suchen, wenn Google oder Youtube ein Video, ein Buch oder sonstiges in russischer Sprache anzeigen. Und statt den Kindern einen Cartoon in ukrainischer Synchronisation zu zeigen, wählen sie eine Datei in der „großen und mächtigen“ Sprache. Weil es ja ganz egal ist, das Wichtigste ist, dass das Kind ruhig sitzt.

Solche Menschen schauen bei der Bücherwahl nicht auf die Sprache, sondern auf den Preis. Deswegen ist ihre Wahl zwischen einem qualitätsvollen ukrainischen Buch für 150-200 Hrywnja (ca. 5-6,50 Euro, was für ukrainische Verhältnisse relativ teuer ist, A.d.Ü.) und einem billigen russischen Analog (auch wenn nicht qualitätsvollen) leicht zu prognostizieren.

Jedoch besteht dieses Problem nur für diejenigen, die überhaupt Bücher kaufen und lesen. Laut der letzten Statistik machen das (zumindest ab und zu) nur 43 Prozent der Ukrainer. Fast ein Drittel davon macht das seltener, als einmal pro Monat. Daraus ergibt sich das Ergebnis: Für ein Land mit über 40 Millionen Menschen ist eine Auflage von 10.000 Exemplaren nur für Topautoren sinnvoll. Für den Rest ist das bereits ein großer Erfolg, eine Auflage von 1.500-3.000 Büchern zu verkaufen. Wer ist schuld daran: Buchhandlungen, Staat oder Russland? Vielleicht doch die Ukrainer selbst, die keine Bücher kaufen?

Den meisten von uns sind die Diskussionen über die Bücher, über ihre Sprache und darüber, wer sie publiziert hat, ehrlich gesagt gleichgültig. Wir unterscheiden uns kaum von den Gesellschaften, in denen der Grad an Unwissen und völliger Ignoranz proportional zur Erleichterung des uneingeschränkten Zugangs zu Informationen zunimmt. Dies sind die Paradoxien des 21. Jahrhunderts.

Die entwickelte Welt erinnert immer mehr an „Fahrenheit 451“. Die Bücher werden noch nicht verbrannt, wobei es nur eine Frage der Zeit zu sein scheint, wenn man über die nächsten Erfolge im Kampf für „Gleichheit und Gerechtigkeit“ liest. Digitale Kommunikation und soziale Netzwerke hingegen erfassen mit Sicherheit unsere Zeit und Aufmerksamkeit. Die Dynamik der heutigen Welt hat dazu geführt, dass Texte im „Tweet“-Format (bis 280 Zeichen) als Longreads betrachtet werden.

Dies bedeutet in der Realität der ukrainischen Verlage, dass wir es mit einer Gesellschaft, wo wenig gelesen wir, und somit mit einem im Vergleich zu Russland kleinen Markt zu tun haben. Gleichzeitig orientiert sich der Großteil dieses Marktes an einem russischsprachigen oder eben einem billigen (das heißt auch einem russischen) Produkt. Unter solchen Bedingungen ist es schwierig, auf positive Tendenzen und eine deutliche Zunahme des ukrainischsprachigen Buchsortiments zu hoffen.

Alles sieht bereits jetzt schlecht aus. Die Auflagen der ukrainischen Verlage nehmen ab, der Umfang der russischen Bücher in der Ukraine nimmt zu, die Verlagszweigstellen des Aggressors haben freien Zugang zu unserem Markt. Und dabei „spinnt“ die größte Buchhandlungskette und setzt sich der unbedachten Reaktion derjenigen aus, denen das Schicksal des ukrainischen Buches nicht gleichgültig ist.

Und jetzt ergibt sich eine rhetorische Frage: Was tun? Man kann über die Zweckmäßigkeit und die Wirksamkeit des Embargos für den Import von Büchern aus Russland diskutieren. Man sollte die Möglichkeiten der Unterstützung seitens staatlicher Institutionen für ukrainische Verlage besprechen, die gut durchdacht und strategisch sein soll. Und in der modernen Ukraine, wo die Zeit nicht linear, sondern zyklisch fließt – von Wahlen zu Wahlen – ist dies kaum möglich. Unter solchen Bedingungen ist sogar das bestehende öffentliche Beschaffungsprogramm für Bibliotheken ein bedeutender Fortschritt. Aber all dies macht keinen Sinn, wenn eine globale Frage nicht gelöst wird: Wie kann man das Lesen eines durchschnittlichen Ukrainers fördern?

Mit „Swaty“ (dt. „Schwager“ – eine russischsprachige Komödienserie der Produktionsfirma von Präsident Wolodymyr Selenskyj, beliebt unter einem großen Teil der ukrainischen Bevölkerung, A.d.Ü.) kann das Buch nicht konkurrieren. Wenn eine Person keine Gewohnheit entwickelt hat und in jungen Jahren nicht das Bedürfnis hatte zu lesen, ist es unwahrscheinlich, dass dies im Erwachsenenalter der Fall sein wird. Der Schlüssel zum Erfolg ist die Jugend. Man kann eine lange Liste machen, was mit ihr los ist und wie sie mit Gadgets „sitzt“. Aber man kann auch andere Fragen stellen: Gibt es genug Faktoren, die junge Menschen zum Lesen motivieren, insbesondere im digitalen Zeitalter? Tun die Eltern, von denen die meisten selbst selten lesen, genug dafür? Und, wenn man in das Sakrale eingreift: Trägt der Lehrplan der ukrainischen Literatur wesentlich zur Liebe zum Lesen bei?

Offensichtlich enthält er die Werke, die nicht vermieden werden können. Aber warum sollen 99 Prozent davon Texte über das Leiden der Ukrainer im Laufe der Geschichte oder über das schwere Schicksal der ukrainischen Bauern in der Leibeigenschaft sein? Keine Diskussionen über Patriotismus (wobei er ehrlich gesagt damit nichts zu tun hat) werden den meisten Kindern Spaß machen, sie zu lesen. Zumal die moderne ukrainische Literatur etwas zu bieten hat. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin angreift, wenn (zum Beispiel) das Buch „Brüllen die Ochsen, wenn die Krippe voll ist“ (ein umfangreiches Werk, geschrieben 1875 von den Brüdern Panas Myrnyj und Iwan Bilyk, das über das ukrainische Dorf und die schwere Lage seiner Bauern erzählt, gehört zur Pflichtlektüre in der vorletzten Schulstufe, A.d.Ü.) gegen die Werke von Serhij Schadan [international Zhadan], Max Kidruk, Oxana Sabuschko oder vielen anderen coolen und interessanten ukrainischen Schriftstellern der Postmoderne getauscht wird. Schließlich haben wir in unserer eigenen Literatur eigene Science-Fiction-, eigene Fantasy-Autoren und Autoren vieler anderer Genres. Und nicht nur das ewige und unveränderliche „Weinen Jaroslawnas“ (ein Fragment aus dem anonymen, mittelalterlichen Epos der Rus „Lied von der Heerfahrt Ihors/Igorlied“, in welchem Jaroslawna, die Frau von Ihor, dem Fürsten von Nowhorod-Siwerskyj, ihren Mann beweint, als er den Krieg gegen die Polowzer verliert und in ihre Gefangenschaft geriet. Das Lied gehört zur Pflichtlektüre in der neunten Schulstufe, A.d.Ü.).

Wenn man in der Ukraine mit dem Staat rechnet, ist das in der Regel ein Weg ins Nichts. Sogar dort, wo es anders sein sollte. Deswegen sollte man sich nicht ganz auf die staatliche Unterstützung verlassen, wenn man die Versuche nicht aufgibt, sie zu erhalten. Stattdessen können wir jeden Tag etwas tun, was in unseren Händen liegt. Die Herausgeber sollten ukrainische Übersetzung vor dem Erscheinen einer russischen veröffentlichen und das Sortiment so weit wie möglich erweitern. Und, da schon „Folio“ (ein ostukrainischer Verlag, bekannt durch geringere Qualität der herausgegebenen Bücher, A.d.Ü.) erwähnt wurde, keine Bücher auf „Klopapier“ für 200 Hrywnja (ca 6,5 Euro, A.d.Ü.) und ohne literarische und wissenschaftliche Bearbeitung verkaufen.

Ein gewöhnlicher Leser kann neben Kauf und Lesen von Büchern Informationen verbreiten, Rezensionen schreiben und sie in sozialen Netzwerken posten. Das Beispiel der Facebook-Gruppe ВРАЖЕННЯ UA (книги,фільми…) (dt. EINDRUECKE UA (Bücher, Filme…)) zeugt davon, dass es einfach, populär und effektiv ist. Erstellt vor über drei Jahren, verfügt sie bereits über 40.000 Abonnenten und entwickelt sich rasch.

Es ist sehr wichtig, den Vorrang einem qualitätsvollen ukrainischen Content vor dem russischen im Internet, vor allem auf Youtube zu geben. Es gibt viele ukrainischsprachige Blogger, die Buchrezensionen machen, über Annoncen und Neuerscheinungen von ukrainischen Verlagen berichten, diskutieren, kritisieren und eigene Meinungen bezüglich der Situation mit Buchherausgaben anbieten. Wenn wir ihren Content popularisieren, ermöglichen wir es ihnen, ihre Mühen zu monetisieren und sich zu verbessern, um noch bessere Materialien zu schaffen. Man sollte nicht faul sein, einen coolen Content in seiner Muttersprache zu finden und zu teilen, denn es gibt ihn.

Die Ukrainer hatten historisch gesehen das Pech, Russlands Nachbarn zu sein. Aber nicht alle Probleme können nur ihm oder jemand anderem zugeschrieben werden. Wenn selbst solche kleinen Gesellschaften wie die slowenische, die kroatische, die litauische oder ähnliche einen besser entwickelten Buchmarkt und höhere Auflagen als die Ukraine haben, dann liegt das Problem bei uns.

Es ist immer schön, eine Person lesen zu sehen. Mit solchen Menschen ist es interessant zu kommunizieren und argumentiert zu diskutieren, auch wenn man unterschiedliche Ansichten hat. Und es kann mehr solche Leute geben. Jeder sollte es versuchen. Und was definitiv nicht benötigt wird, ist der Trash unter denjenigen, von denen das Schicksal der ukrainischen Bücher in erster Linie abhängt – Buchhandlungen, Verlagen und aktiven Lesern.

1. Oktober 2020 // Roman Lechnjuk

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Roksoliana Stasenko  — Wörter: 1631

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