Die Orange Revolution 2004 und der Euromaidan 2013/2014 Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Zusammenfassung
Die Orange Revolution von 2004 wird in der Ukraine zurecht als ein bedeutendes historisches Ereignis angesehen. Der Euromaidan 2013/2014 wird von einigen Wissenschaftlern als ein gesellschaftliches Phänomen der gleichen Größenordnung betrachtet und analysiert. In diesem Beitrag wird versucht, die beiden Protestbewegungen miteinander zu vergleichen. Besondere Aufmerksamkeit wird dabei den Protestteilnehmern selbst gewidmet.
Einleitung
Während die Revolution in Orange nach 17 Tagen erfolgreich abgeschlossen war, brauchen die Euromaidan-Aktivisten einen längeren Atem. Die Proteste auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew dauern mittlerweile über drei Monate an. Gemeinsam sind beiden Protestbewegungen die enorme Aktivierung der ukrainischen Zivilgesellschaft, die massenhafte Mobilisierung der ukrainischen Bevölkerung und eine hohe internationale Medienresonanz. Doch in der soziodemographischen Struktur der Protestierenden und ihrer Motivation werden wesentliche Unterschiede sichtbar.
Demographische Situation der Protestbewegung
Ein durchschnittlicher Euromaidan-Aktivist ist 36 Jahre alt, männlich und spricht im Alltag ukrainisch. Dieses Bild lieferte die erste Umfrage vom 7.-8.12.2013. Der Anteil der Männer unter den Protestierenden ist seitdem von 57,2 Prozent auf 88,2 Prozent gestiegen. Die ständige Befürchtung, der Maidan könne von Sicherheitskräften angegriffen und geräumt werden, führte dazu, dass die Protestbewegung zunehmend von Männern dominiert wird. Die Rolle der Frauen darf jedoch nicht unterschätzt werden. In vielen Bereichen der Maidan-Selbstorganisation, wie etwa beim medizinischen Notdienst, ist der Frauenanteil wesentlich höher. Inzwischen wurde auch die erste Frauen-Hundertschaft der Selbstverteidigungskräfte des Maidan gebildet. Die Euromaidan-Bewegung ist auf keinen Fall reine Männersache.
War unter den Beteiligten an der Orangen Revolution 2004 noch jeder Zweite ein Jugendlicher oder junger Erwachsener, so ist 2014 nur jeder dritte Protestierende zwischen 15 und 29 Jahren. Dafür sind die Vertreter der mittleren Altersgruppe beim Euromaidan stärker repräsentiert. Der Anteil der 30- bis 54-Jährigen ist von 49 Prozent im Dezember 2013 auf 56 Prozent im Februar 2014 angestiegen. Bei der orangefarbenen Revolution waren nur 34,7 Prozent der Revolutionsteilnehmer zwischen 30 und 54 Jahre alt. Der Anteil der jungen (15-29 Jahre) und der reiferen (55 Jahre und älter) Euromaidan-Aktivisten ist seit Dezember zurückgegangen und betrug nach der letzten Befragung entsprechend 33,2 Prozent und 10,8 Prozent. Gehörte 2004 nur jeder 20. Protestierende (5,6 Prozent) der älteren Altersgruppe an, so war neun Jahre später jeder zehnte Protestteilnehmer 55 Jahre oder älter.
Verschiebung der Altersgruppen?
Zunächst ein kleiner Hinweis: Altersgruppen haben keine feste Mitgliedschaft, sondern diese verändert sich ständig – jedes Individuum wechselt gemäß der institutionalisierten Unterteilung der Lebensspannen von einer Altersgruppe zur nächsten. Personen, die vor fast zehn Jahren Studenten und junge Erwachsene waren, sind heute in der mittleren Altersgruppe zu finden. Gerade die Gruppe der 20- bis 24-Jährigen war im Jahr 2004 mit 32 Prozent sehr stark repräsentiert. Heute sind diese Personen 30 Jahre und älter und gehören dementsprechend der mittleren Altersgruppe an, die eindeutig überrepräsentiert ist. Auch das Durchschnittsalter der jetzigen Protestteilnehmer von 36-37 Jahren zeugt davon, dass die Vertreter dieser Altersgruppe klar überwiegen. Hat eine Altersverschiebung der Revolutionäre stattgefunden? Das muss noch genauer untersucht werden, aber es gibt Anzeichen dafür, dass sich in der Ukraine eine bestimmte revolutionäre Generation herausgebildet hat. Diese Generation erlebte innerhalb von weniger als zehn Jahren zwei große Protestbewegungen und beteiligte sich aktiv daran. Auch die Verdoppelung der Anteile der älteren Altersgruppe zeugt von einer Altersverschiebung der zivilgesellschaftlich aktiven Bürger. Aber wie macht sich diese Verschiebung beim sozialen Status bemerkbar?
Sozialer Status
Im Jahr 2004 waren etwa 30,2 Prozent der befragten Revolutionsteilnehmer Schüler, Studenten, Doktoranden und Auszubildende. Diese sozialen Gruppen waren eindeutig die treibende Kraft der Orangen Revolution. Der Euromaidan 2013 war jedoch nur bis zum 30.11.2013 von der studentischen Jugend geprägt. Nachdem die Studenten von der Polizei-Sondereinheit Berkut brutal zusammengeschlagen und vom Unabhängigkeitsplatz verjagt wurden, ist die Protestbewegung generationsübergreifend geworden. Der Anteil der Studenten beträgt im Februar nur noch 6,2 Prozent, Anfang Dezember lag dieser Wert noch bei 13,2 Prozent. In der sozialen Struktur überwiegen gut situierte Bürger: Leitende Manager auf unterschiedlichen Ebenen, Facharbeiter, Geschäftsleute und Beamte machen über 50 Prozent aus. Beachtlich ist, dass der Anteil der Unternehmer unter den Protestierenden kontinuierlich angestiegen ist, von 9,3 Prozent auf 17,4 Prozent. Im Jahr 2004 machten die Klein- und Individualunternehmer sowie Unternehmer der mittleren und größeren Kategorie nur 5,6 Prozent aus. Der Anteil der Unternehmer und Geschäftsleute hat sich also fast verdreifacht.
Engagement von Unternehmern und Angehörigen der Mittelschicht
Bei der Orangen Revolution waren unter den Protestierenden vor allem Berufsgruppen vertreten, die der Mittelschicht zugeordnet werden können. Kleinunternehmer, Inhaber von Kliniken, Geschäften und Cafés engagierten sich im Jahr 2004 überwiegend im Hintergrund. Im Jahr 2014 unterstützen Unternehmer und Geschäftsleute logistisch, mit Geld, Dienstleistungen und eigenen Waren (kleine und mittlere Unternehmen werden von Experten als Hauptsponsoren der Euromaidan-Bewegung angesehen), sie mischen sich aber auch zunehmend unter die Demonstranten: Sie wirken beim Bau von Barrikaden mit, reinigen die Straßen vom Schnee, kochen Tee etc. Nun gehören zur Mittelschicht nicht nur mit hohem ökonomischem Kapital ausgestattete Personen wie Selbständige, Unternehmer oder freiberuflich Tätige, sondern auch soziale Gruppen, die sich wie Akademiker, Ingenieure oder Facharbeiter durch hohes Humankapital auszeichnen. Berücksichtigt man die Bildung, so sind Personen mit Hochschulabschluss mit 43,1 Prozent überrepräsentiert. In der Anfangsphase der Euromaidan-Bewegung waren es sogar 62,7 Prozent, also fast zwei von drei Protestierenden. Der hohe Anteil der gebildeten Demonstranten lässt darauf schließen, dass das überdurchschnittlich hohe zivilgesellschaftliche Engagement der Studenten im Jahre 2004 in ein Engagement der Akademiker von 2013/2014 umschlug. Dies spricht auch für die Annahme, in der Ukraine habe sich eine Generation der Revolutionäre herausgebildet.
Beweggründe der Demonstranten
Ein klarer Auslöser für die Euromaidan-Bewegung war die Weigerung von Janukowytsch, das Assoziierungsabkommen mit der EU zu unterschreiben. Nach dem 30. November rücken andere Motive in den Vordergrund: Gewaltanwendung und Repressionen durch die Machthaber sind mit 61,3 Prozent inzwischen der Hauptgrund, warum ukrainische Bürger auf die Straße (den Maidan) gegangen sind, um zu protestieren. Die Bestrebung, das Leben in der Ukraine zu verändern, war für jeden zweiten Protestierenden die Motivation (51,1 Prozent), wobei dieser Wert im Dezember 2013 noch 36,2 Prozent betrug. Wichtige Beweggründe bleiben auch die Nicht-Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU (47,0; 20.12.2013 – 40 Prozent), und der Wunsch, zum Machtwechsel in der Ukraine beizutragen (45,6; 20.12.2013 – 38,9 Prozent). Unter den jetzigen Protestierenden ist die Befürchtung, die Ukraine könne der Zollunion beitreten, größer geworden. Der entsprechende Wert stieg von 14,4 Prozent auf 20 Prozent.
Bei der Orangen Revolution von 2004 wurden über 80 Prozent der Protestierenden durch Wahlfälschungen mobilisiert. Zwei von dreien gingen im Jahr 2004 für freie Wahlen auf die Straße. Viele hatten zwar auch genug von „Lug und Trug“ (57,2 Prozent), aber hauptsächlich ging es um eine demokratische, also freie und faire Präsidentschaftswahl.
Wie auch bei der Orangen Revolution reicht es nicht, eine politische Elite durch eine andere zu ersetzen. Auch heute müsste eine Verteilung der Macht auf mehrere Kräfte stattfinden, es wird daher auch die Rückkehr zur Verfassung von 2004 verlangt. Gemeinsam ist den beiden Protestbewegungen die Herausforderung, den autoritären Tendenzen der Macht entgegenzuwirken und die Etablierung einer Diktatur zu verhindern.
Institutionelle Einbindung der Protestierenden
Bei der Orangen Revolution hatten zivilgesellschaftliche Organisationen eine wichtige, wenn auch nicht entscheidende Rolle gespielt. Damals waren Internet und moderne Kommunikationsmittel noch nicht so verbreitet, nichtstaatliche Organisationen und Bewegungen wie Pora und ihre Aktivitäten waren unentbehrlich. Es stellt sich die Frage, welche Rolle die formalen zivilgesellschaftlichen Organisationen bei der Massenmobilisierung 2013/2014 spielen. Während Anfang Dezember neun von zehn Protestierenden auf eigene Faust nach Kiew gekommen waren, waren es Anfang Februar etwa 83,5 Prozent. In der Anfangsphase der Protestbewegung haben politische Parteien (1,8 Prozent) und zivilgesellschaftliche Organisationen (6,3 Prozent) nur geringfügig zur Massenmobilisierung beigetragen. Am 3. Februar 2014 gaben 3 Prozent der angereisten Demonstranten an, ihr Kommen sei von einer der politischen Parteien organisiert worden. Bei den zivilgesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen ist der Wert auf 13,3 Prozent gestiegen.
Leichte Tendenz zur Institutionalisierung des Engagements
Das zivilgesellschaftliche Engagement im nichtinstitutionalisierten Bereich zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es spontan und selten in einem organisierten Rahmen stattfindet. In der sozialwissenschaftlichen Literatur wird häufig eine weitere Bezeichnung für diese Art des Engagements verwendet: gebunden oder ungebunden. Unter gebundenem Engagement wird hier ein Engagement verstanden, das innerhalb mehr oder weniger fest gefügter Organisationskontexte nach den formalen Regeln der entsprechenden Organisation abläuft. Das ungebundene Engagement findet dagegen im Kontext informeller Netzwerke und nichtinstitutionalisierter Gruppen statt. Damit ist nicht nur die Teilnahme an freiwilligen öffentlichen Aktionen wie etwa Petitionen, Demonstrationen, Boykottmaßnahmen und Streiks gemeint, sondern auch das zeitlich begrenzte Engagement für Bürger- und Stadtteilinitiativen, Projekte und Organisationskomitees, das von einigen Wissenschaftlern als temporäre Organisiertheit bezeichnet wird. Nun stellt sich die Frage, ob das beispielhafte Engagement der ukrainischen Bürger ebenfalls nur als temporäre Organisiertheit angesehen werden kann. Für eine länger andauernde Organisiertheit müssten sich die Bürger an eine Organisation binden und sich als ordentliche Mitglieder innerhalb dieser freiwilligen Bürgervereinigung auch weiterhin engagieren. Wie viele Protestierende gehören aber einer zivilgesellschaftlichen Organisation oder Bewegung an? Während Anfang Dezember nur 3,5 Prozent der Protestierenden Mitglieder zivilgesellschaftlicher Organisationen waren, so beträgt der Wert unter den jetzigen Maidan-Aktivisten bereits 8,4 Prozent. Der Anteil der Engagierten, die sich einer gesellschaftlichen Bewegung angeschlossen haben, ist von 1,2 Prozent Anfang Dezember auf 14,2 Prozent Anfang Februar gestiegen. Dieser starke Zuwachs zeugt unter anderem von der institutionellen Einbindung der Protestierenden, die vor Ort, also unmittelbar auf dem Maidan stattfindet. Während am Anfang der Proteste 91,8 Prozent der Aktivisten auf keine Weise in die Arbeit von Organisationen und Bewegungen eingebunden waren, so beträgt der Anteil dieser Personen heute nur noch 69,9 Prozent. Drei von zehn Protestierenden sind Mitglied einer Partei, einer Organisation oder einer sozialen Bewegung.
Die Bürger, die auf eigene Faust nach Kiew fahren, kommen selten alleine. Es werden häufig Fahrgemeinschaften organisiert und die Protestierenden kommen in Gruppen: mit Verwandten, Bekannten, Kollegen und Freunden. In der Tat wurde unter den Beweggründen auch folgender angegeben: „Solidarität mit Freunden, Kollegen, Verwandten, die ebenfalls auf dem Maidan protestieren.“ Diese Verbundenheit mit unmittelbar bekannten Menschen wird in der sozialwissenschaftlichen Literatur als Nahraumsolidarität bezeichnet. Die Kontaktpflege in Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerken hat auf dem Maidan mit der Zeit abgenommen. Anfang Dezember waren es 6,2 Prozent, die sich solidarisch mit Freunden, Kollegen und Verwandten fühlten und deswegen mit auf die Straße gingen, heute sind es nur noch 3,7 Prozent. Diese Abnahme spricht für eine Lockerung der Verwandtschafts- und Freundschaftsnetzwerke auf dem Maidan. Gleichzeitig wird eine zunehmende Institutionalisierung des Engagements festgestellt. Die Nahraumsolidarität wird zur Fernraumsolidarität (Engagement für den sozialen Fernraum).
Radikalisierung des Euromaidan?
Lange Zeit galten die Ukrainer als friedliches Volk. In der Tat verliefen alle bisherigen Proteste und Revolutionen seit der großen politischen Wende 1989 friedlich und ohne Blutvergießen. Auch die Orange Revolution 2004 zeichnete sich durch Gewaltverzicht, Toleranz und gegenseitigen Respekt aus. Bei der Euromaidan-Bewegung 2013/2014 gibt es bereits Opfer. Die Gewaltanwendung durch die Staatsorgane löste den Massenprotest aus und die Weigerung der Staatsmacht, einen Dialog mit den Demonstranten zu führen, ließ die Radikalisierung auf dem Maidan ansteigen. Dafür spricht auch die abnehmende Verhandlungsbereitschaft. Während sich Anfang Dezember noch jeder zweite Maidan-Aktivist für Verhandlungen ausgesprochen hatte, waren es am 20. Dezember nur noch 45,3 Prozent und Anfang Februar nur noch 27,4 Prozent. Und 63,1 Prozent, also fast zwei von drei Protestierenden, waren klar gegen Verhandlungen mit den Machthabern. Die Grundstimmung der Demonstranten schlug im Januar um, im Dezember lehnten nämlich nur 41,5 bis 46,6 Prozent die Verhandlungen ab. Etwa jeder zehnte Befragte war unschlüssig und konnte diese Frage nicht beantworten. Die Frage, wie der Maidan auf das Amnestie-Gesetz reagieren sollte, beantworteten die meisten Maidan-Aktivisten negativ. 82,7 Prozent der Befragten wollten keine Bedingungen erfüllen und forderten die Freilassung der inhaftierten Protestteilnehmer ohne jegliche Bedingungen. Nur 3,9 Prozent waren für das Gesetz. Dies zeugt einerseits von zunehmender Radikalisierung. Andererseits wurde am 16. Februar das Kiewer Rathaus geräumt und die Durchfahrt durch die Hruschewskij-Straße ermöglicht. Das Amnestie-Gesetz trat am 17. Februar in Kraft.
Fazit und Ausblick
Der Euromaidan hat ein anderes soziodemographisches Gesicht als die Orange Revolution. Männer sind stärker vertreten als Frauen, Angehörige der mittleren Altersgruppen sind zahlreicher als junge und alte, Personen mit einem Hochschulabschluss, einer qualifizierten Schulbildung und einem hohen Einkommen sind – gemessen am Anteil dieser Gruppen an der Gesamtbevölkerung – überrepräsentiert.
Im Jahr 2014 geht es den Protestierenden nicht um einen formalen Machtwechsel. Durch den Massenprotest wird ein grundlegender Systemwechsel angestrebt. Obwohl der tatsächliche Organisationsgrad der Maidan-Aktivisten höher ausfallen dürfte als angegeben, steht die ukrainische Zivilgesellschaft vor der Herausforderung, Energie und Tatendrang der aktiven Bürger, die in keinerlei formalen Organisationen eingebunden sind, und die Aktivitäten der nichtinstitutionalisierten Gruppen aufzufangen und in einen organisierten, institutionalisierten Rahmen zu leiten.
25. Februar 2014 // Mychajlo Banach
Über den Autor:
Mychajlo Banach ist Dipl.-Lehrer für Deutsch sowie Dipl.-Caritaswissenschaftler und promovierte in Soziologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Er war Stipendiat der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit und ist seit September 2012 für die Europäische Austausch gGmbH Projektmanager der deutsch-ukrainischen »Kiewer Gespräche« mit Sitz an der International Renaissance Foundation Kiew.
Dieser Artikel wurde zunächst in den Ukraine-Analysen Nr. 128 am 25.02.2014 veröffentlicht