Den Ergebnissen der Präsidentschaftswahlen nach musste sich die Ukraine nicht nur vom amtierenden Staatsoberhaupt verabschieden.
Die vergangenen Wahlen haben faktisch die bisherige Zivilgesellschaft begraben, die sich 2004 formierte und ihre Sternstunde 2014 erlebte.
Im Verlaufe des Wahlkampfs verlief die Hauptspaltungslinie nicht zwischen den relativen Orangen und den Weißblauen, nicht zwischen dem relativen Maidan und Antimaidan, sondern zwischen ehemaligen Weggefährten.
Der eine unterstützte aggressiv Poroschenko [Petro Poroschenko], alle Nichteinverstandenen mit einem Bann belegend. Der andere nahm eine wohlwollende oder neutrale Position in Bezug auf Selenskij [Wolodymyr Selenskyj] ein, sich der Normalbürgermasse annähernd. Von der bisherigen Aufteilung der Kräfte blieben nur Erinnerungen.
In Wirklichkeit bleiben Chancen für die Wiederherstellung der einstigen Einheit dennoch geschehen.
Letztendlich gelang es Präsident Janukowitsch [Wiktor Janukowytsch] das gespaltene orange Lager zu einen. Und, ein dunkles Pferd seiend, könnte Herr Selenskij sich theoretisch in einen zweiten Janukowitsch verwandeln.
„Wenn der neue Präsident zu einem Präsidenten der Revanche wird, dann erleben wir die vorherige Konstellation“, dieser Gedanke, bereits in privaten Gesprächen ausgesprochen, ist vollauf berechtigt.
Eine Revanche konsolidiert tatsächlich und zwingt die gegenseitigen Kränkungen zu vergessen. Die Frage besteht darin, wie unsere Kriterien für eine Revanche aussehen.
Sagen wir, wird die hypothetische Rückkehr von Michail Saakaschwili zu einer Revanche? Für diejenigen, die Micho für einen Abenteurer und Populisten halten, dessen sich die Ukraine mit Schwierigkeiten entledigte, fraglos ja. Für diejenigen, die Micho für einen ungerechtfertigterweise betroffenen Reformator halten, fraglos nein. Dabei vertreten sowohl die einen als auch die anderen das ehemalige Euromaidan-Lager.
Und derartige Beispiele gibt es viele.
Kann ein hypothetischer Gewinn von Kolomojskij als Revanche angesehen werden? Dabei berücksichtigend, dass der Gouverneur von Dnepropetrowsk 2014 als Held, Patriot, persönlicher Feind Putins und beinahe als Retter der Heimat vor dem Moskauer Horden angesehen wurde?
Könnte eine hypothetische Revision der humanitären Politik als Revanche angesehen werden? Dabei berücksichtigend, dass die Ukraine 2014 die russischen Attacken unter der Losung „Jedyna krajina. Jedinaja strana“ [„Einiges Land“ auf Ukrainisch und Russisch, A.d.Ü.] zurückschlug und Präsident Poroschenko versprach, den Status quo in der Sprachfrage zu wahren?
Könnte der hypothetische Verzicht auf die staatliche Unterstützung der Orthodoxen Kirche der Ukraine und der Verdrängung der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats als Revanche angesehen werden? Dabei berücksichtigend, dass das Thema der Autokephalie komplett vor kurzem auf den Schild gehoben wurde und viele dieses skeptisch aufnahmen, die Ähnlichkeit mit den nachbarlichen „geistigen Klammern“ erblickend?
Offensichtlich gibt es keine alleinige Antwort auf diese Frage und kann es nicht geben.
Denn diejenigen, die sich 2014 auf der einen Seite der Barrikade befanden, haben keine einheitliche Vorstellung von der Revanche. In den fünf Jahren haben sich zu viele innere Differenzen, Lesarten und Abweichungen angesammelt.
Der revolutionäre Prozess, der sich über Jahre erstreckte, ähnelt einem Blätterteig. Jede neue Windung gebiert Beleidigte und Enttäuschte, eine neue, noch engere Schicht Triumphierender umreißend.
Anhänger der konstitutionellen Monarchie, Republikaner-Girondisten, Republikaner-Jakobiner. Menschewiki, Sozialrevolutionäre, Trotzkisten, Stalinisten. Jeder ist überzeugt, dass seine Revolution die richtige war und die fremde erwies sich als eine Wendung in die falsche Richtung.
Entsprechend wird jeder Rollback unterschiedlich interpretiert.
Aus der Sicht der ausländischen Stalinisten wurde die Entthronung des Vaters der Völker zur schleichenden Konterrevolution und einer Revanche reaktionärer Kräfte.
Aus der Sicht westlicher Trotzkisten war es eine wichtige, doch unzureichende Bedingung für die Rückkehr zu den revolutionären Idealen.
Doch aus der Sicht der weißen Emigranten, die der Konstituierenden Versammlung nachtrauerten, hatte sich prinzipiell nichts geändert.
Die revolutionäre und kämpfende Ukraine vermochte es bereits durch etwas derartiges zu gehen. 2014 eine maximale Konsolidierung erlebend, hat sich unsere Zivilgesellschaft Schritt für Schritt in den nächsten Jahren aufgespalten. Dabei setzte Pjotr Poroschenko zum Ende seiner Regierungszeit auf die kriegslustigsten und orthodoxesten. Er versuchte die relativen „Jakobiner“ zu mobilisieren. Leute, für die eine gemäßigtere Position wie ein Verrat an der ukrainischen Sache aussieht.
In ihren Augen wird jegliche Abweichung vom derzeitigen Kurs zu einer Revanche. Doch sie machen nur einen kleinen Teil derjenigen aus, die Janukowitsch und Putin 2014 entgegen traten.
Metaphorisch gesprochen ist das die Spitze des Blätterteigs. Und damit das einheitliche Lager des Maidans wiederhergestellt wird, muss Präsident Selenskij bis nach ganz unten gelangen.
Etwas Ultrarevanchistisches unternehmen. Offiziell die Krim als russisch anerkennen. Die Verhandlungen über den Beitritt der Ukraine zur Zollunion wiederaufnehmen. Postum „Giwi“ und „Motorola“ auszeichnen [gemeint sind zwei bei Attentaten getötete Separistenkämpfer, A.d.Ü.]. Nikolaj Janowitsch Asarow [Asarow war zwischen 2010 und 2014 Ministerpräsident der Ukraine und lebt im Moskauer Exil, A.d.Ü.] zum wirtschaftlichen Berater machen. Auf dem Kreschtschatik mit Georgsband und dem Porträt Stalins spazieren gehen.
Aus verständlichen Gründen ist ein solches Szenario wenig wahrscheinlich.
Genauso wenig wahrscheinlich ist auch das andere Szenario: nach der Amtseinführung weicht das Team von Se nicht um ein Jota vom Kurs seiner Vorgänger ab und sogar die orthodoxen Anhänger Pjotr Alexejewitschs [Poroschenko] werden Wladimir Alexandrowitsch [Selenskij] nichts vorwerfen können.
Nein, wahrscheinlich wird es ein Rollback geben, doch im Ergebnis werden wir irgendwo in der Mitte des Blätterteigs landen.
Die einen unter uns werden aufrichtig von der staatsfeindlichen Revanche entrüstet sein. Andere werden über die Korrektur der zugelassenen Fehler und die Rückkehr zu den anfänglichen Idealen des Maidans räsonieren. Dritten wird es gleich sein. Und vierte werden stark enttäuscht sein, da sie wesentlich mehr Rollback erwarten.
Jegliche Bewegung zurück wird zu einem Test nicht nur für die flammenden Revolutionäre, sondern auch für die leidenschaftlichen Konterrevolutionäre.
Stellen wir uns den französischen Royalisten 1794-1795 vor. Die verfluchten Jakobiner sind niedergerungen, das Direktorium geht rückwärts. Man kann erneut in Paris mit Kutschwagen fahren und sich herausfordernd elegant kleiden, dem hingerichteten König nachtrauern und mit dem Knüppel auf sich anbietende Sansculotten eindreschen.
Doch dann erweist es sich, dass die Wiederherstellung der Monarchie – sogar einer konstitutionellen – unmöglich ist. Der Royalistenaufstand am 13. Vendémiaire ist niedergeschlagen, die Landung der Emigranten auf der Halbinsel Quiberon gescheitert. Und der konterrevolutionäre Enthusiasmus wird erneut von Schwermut abgelöst …
Präsident Se wird es kaum gelingen die ukrainische Zivilgesellschaft in der Form wiederzubeleben, in der sie in den Jahren 2004 – 2014 existierte. Doch das neue Team kann sich durchaus zwei vielköpfige Gruppen von Feinden verschaffen. Die erste wird Selenskij dafür hassen, dass er zum Präsidenten der Revanche wurde. Doch die zweite dafür, dass er nicht zum Präsidenten der Revanche wurde. Die Intrige besteht darin, ob diese zwei Gruppen zur Mehrheit werden.
11. Mai 2019 // Michail Dubinjanskij
Quelle: Ukrainskaja Prawda
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