Psychologin Switlana Tschunichina: „Selenskyj ist es gelungen, für einen kurzen Moment selbst zum Oleh Wynnyk der Politik zu werden“
Die Traumata des 20. Jahrhunderts, multipliziert mit dem Stress von 2014 und die Bedingungen der neuen Realität in den Fängen der sozialen Netzwerke sind an dem Land nicht spurlos vorbeigegangen. Wie man sich über Fehlannahmen und eine ständige Suche danach „wer wir sind?“ zu nationalem Erfolg durchschlägt. Wozu stellt Wolodymyr Selenskyj Fragen, die er selbst nicht beantworten kann? Welche unsichtbare Kraft hält die Ukrainer als Nation, und bewahrt sie vor Chaos und ständigem Unheil? Darüber und anderes erzählt die politische Psychologin, Switlana Tschunichina, PhD., im Interview mit LB.ua.
Die Traumatisierten und Unbeweinten
Die psychische Gesundheit einer Gesellschaft zu bemessen ist schwieriger als die Gesundheit einer konkreten Person. Denn was ist individuelle psychologische Gesundheit? Das ist die Fähigkeit mit objektiven Schwierigkeiten zurechtzukommen, sie überwinden zu können ohne auszurutschen, ein produktives Leben zu führen und Beziehungen zu anderen Menschen aufzubauen sowie eine emotionale Verbindung zu ihnen zu haben. Will man nun diese Faktoren auf die ukrainische Gesellschaft übertragen, dann kann man sehen, dass die ukrainische Gesellschaft gewisse Probleme mit der Produktivität hat. In den USA sagt man andauernd work hard – dream big (arbeite hart – träume groß). Doch bei uns träumt die Mehrheit der Gesellschaft einfach davon irgendeine Rente zu bekommen, ohne Anstrengungen zu unternehmen. Und das ist ein unmittelbares Kennzeichen für Abweichung von der Norm. Denn ein gesunder Erwachsener strebt danach, seine eigene Spur im Leben zu hinterlassen, etwas Bedeutendes zu tun, was das Leben mit Sinn und Bedeutung erfüllt, überhaupt sein Leben selbstständig zu führen. Doch wir sind keine Erwachsenen. Zu alledem ist hinzuzufügen, dass wir, obwohl wir wie alle Menschen ein riesiges Bedürfnis nach Nähe haben, dieses oft nicht realisieren können. Oder wir realisieren es so, dass wir daraus ganz banal keine Zufriedenheit schöpfen. Wir haben verlernt in einem anderen Menschen eine Persönlichkeit zu sehen.
Wir sind alle traumatisiert durch das Jahr 2014 und den Krieg. Doch einige Leute durchleben dieses Trauma über eine aktive Teilnahme an Ereignissen, das sind Helfer, Freiwillige. Und manch einer, der sogar von der Front zurückkommt, lebt weiter in der sogenannten „Soldatenmatrix“, das heißt, in einer Welt, wo entweder du gewinnst und den Feind tötest oder der Feind gewinnt und dich tötet. Sie haben alle Grund zu glauben, dass wir, wahrhaftig, echten Krieg haben, auf den Straßen Autos explodieren, Aktivisten getötet werden usw. Und dennoch ist das eine ziemlich pathologische Sache, weil es sehr schwer ist, aus ihr herauszukommen in die Entwicklungsmatrix. Ein gewisser Teil der Gesellschaft lehnt es sogar ganz ab, die Seite des Kriegs anzuschauen. Präsident Selenskyj, ob er es will oder nicht, ist die Stimme derjenigen, die den Krieg ablehnen oder meinen, dass man den Krieg mit Hilfe eines brennenden Wunsches beenden kann. Und das ist auch ein Anzeichen für ein traumatisiertes Bewusstsein.
Was den Krieg im Donbass betrifft, so müssen wir durch die Phase der Trauer um alle seine Opfer hindurchgehen. Ein Krieg ist in erster Linie eine Katastrophe verlorener Menschenleben in einem brutalen Konflikt. Diejenigen allerdings zu betrauern, die jetzt der Feind sind, das fällt niemandem leicht. Umso mehr, als wir nun nicht über Russen reden [Auf der anderen Seite kämpfen ebenso mehrheitlich Ukrainer, wie auf der Regierungsseite. A.d.R.], sondern genau über Ukrainer, die im Krieg gefallen sind. Aber anders können wir dieses Trauma nicht überleben. Bis dahin bleibt noch Platz für die Entmenschlichung derer, die nicht „unsere“ sind, für Verachtung gegenüber anderen verlorenen Leben, in Gedanken kämpfen wir weiter. Obwohl das natürlich nichts an den Anstrengungen ändert, dem Land des Aggressors Entschädigung für die ruinösen Folgen des Konflikts abzuringen, historische Gerechtigkeit herzustellen und territoriale Integrität der Ukraine zu erneuern.
Jeder neue Präsident bei uns kommt mit einer Erneuerungsidee auf einer anderen Stufe der Radikalität. Und im Verlauf kommt heraus, dass nicht die Erneuerung nicht ausgereicht hat, sondern im Gegenteil, die Stabilität. Jeder „neue Kurs“, der gerade an der Reihe ist, mündet zwangsläufig in der Stärkung konservativer Tendenzen. Die Frage ist, inwieweit die ukrainischen Bürger aufrichtig sind mit der Nachfrage nach Erneuerung. Vielleicht suchen die Leute keine neuen Gesichter an der Macht, sondern ein Gesicht mit ganz bestimmten Zügen? Mit welchen genau, das können wir nicht formulieren oder wir wollen es uns selbst nicht eingestehen. Es ist vollkommen im Bereich des Möglichen, dass die Ukrainer unterbewusst, zumindest ein Teil, nach einer Diktatur streben, in ihrer grausamsten Form, zum Beispiel einer militärischen. Eine, die Verantwortung für alles und jeden übernimmt.
Bis heute hat die ukrainische Gesellschaft den Wunsch, in den Mutterschoß zurückzukehren. In ein erträumtes „goldenes Zeitalter“, das tatsächlich nie existierte. Das ist eine Art Kokon, der keine aktive Position im Leben vorsieht. Die Leute wollen Fürsorge für den Bürger wie für ein kleines Kind. Für einen Teil der Gesellschaft ist das „goldene Zeitalter“ die Rückkehr in die fiktiven 70er bis 80er Jahre. Für einen anderen Teil ist es aktuell die Rückkehr in irgendein national-naives Lubok-Bild (gedruckter Volksbilderbogen, von Hand koloriert, A.d.Ü.), das es so alleine nie gab. Das ist Paternalismus in dem Sinne, dass es keinen Wunsch nach Verantwortung für sich selbst und das eigene Schicksal gibt. Es entsteht der Eindruck, dass Selenskyj als etwas von der Kriegsrealität Unbeschadetes und Unbestimmtes gewählt wurde.
Diktatur unerfüllter Hoffnungen
Der derzeitige Präsident hat die fantastische Gabe zu gefallen. Diese wiederum erlaubte es ihm eine Situation zu erreichen, in der er, wenn auch nicht in erster Linie, als Politiker geliebt wurde, man stimmte für ihn persönlich, und nicht für einen Ideenkomplex wie im Falle von Juschtschenko oder Janukowytsch. Ihm gelang es für einen kurzen Moment selbst zum Oleh Wynnyk (beliebter ukrainischer Schlagersänger, A.d.Ü.) der Politik zu werden. Noch ein Plus ist, dass er dank des Fernsehers das Image eines bekannten jungen Mannes hatte, so einen kann man immer leichter mögen. Für viele Leute ist bekannt gleich gut. Überhaupt entwickelte Selenskyj seine Popularität nach künstlerischen Maßstäben, die gänzlich andere Anforderungen stellen als die politischen – Schönheit, Sexualität, Gabe. Natürlich brachte die Übertragung dieses Bildes auf die Politik zu einem gewissen Zeitpunkt einen kurzandauernden, aber explosionsartigen Effekt. Kehren wir nun wieder zurück dahin, wo wir angefangen haben – alle wollten etwas vermeintlich Neues, aber suchten aus irgendeinem Grund in einem komplett anderen Bereich mit anderen Kompetenzen. Doch diese Fähigkeit hält ihn gefesselt und zwingt ihn, sich an die Konzeption des „guten Jungen“ zu halten. Andererseits sagt er: „Ich stelle das menschliche Schicksal selbst ins Zentrum des politischen Prozesses, das ist der einzige Sinn staatlicher Politik.“ Und dieses Herangehen reichte uns überhaupt nicht aus. Falls er wenigstens einen kleinen Teil davon zu realisieren schafft, dann bitte, warum nicht.
Im schlimmeren Fall könnte nach Selenskyj verbrannte Erde unerfüllter Hoffnungen zurückbleiben. Und dann können die Menschen eine wirklich eiserne Hand wollen, im Stile von Franco oder Pinochet. Trotzdem muss man verstehen, dass die absolute Mehrheit derjenigen Diktatoren, die das Volk „in die Box“ stellen, keineswegs Erretter sind, sondern meistens narzisstische Persönlichkeiten, dazu auch noch tief traumatisierte. Sie sind nicht fähig einer Gesellschaft positive Erzählungen anzubieten. Sie machen viel mehr Stück für Stück, aber unaufhaltsam, die Gesellschaft zur Geisel ihres persönlichen Mythos von Allmächtigkeit. Ein traumatisierter Anführer kann eine Gesellschaft nicht heilen, er kann sie nur noch mehr traumatisieren. Das ist ein Trauma der Entfremdung des Menschen von sich selbst, das infolge totaler Verdrängung der Privatsphäre durch die staatseigene Erzählung auftritt. Das ukrainische Volk hat noch sehr frische Erinnerungen an solche Selbstentfremdung. Und anstatt Schritt für Schritt die eigene Autonomie zu erneuern, sind wir scheinbar wieder bereit eine Macht zu ernennen, die sagt, was wir zu wollen haben und wohin wir gehen müssen. Das bedeutet, dass wieder Menschen von ihrer Fähigkeit entmündigt werden, sich der Gewalt gegen sie selbst entgegenzustellen, weil sie sich nicht als Subjekt ihres eigenen Lebens sehen. Auch wenn es komisch ist, aber die Tatsache, dass die ukrainische Gesellschaft flickenartig zusammengesetzt ist, ruft Optimismus hervor. Das chronische Unvermögen sich abzusprechen und geradeaus zu gehen – das kann den Zugang zur Macht für einen möglichen Franco ernsthaft erschweren.
Politiker haben sich nicht wie Parasiten an die schlechtesten Eigenschaften der Gesellschaft zu heften, sondern sollten im Gegenteil Trends anstoßen, unter deren Umständen die Gesellschaft wachsen kann. Wenn du einfach nur soziologische Umfragen anguckst, was die Leute wollen, und ihnen dumpf genau das und nur das gibst, ist das ein Weg ins Nirgendwo. Doch genau damit ist die derzeitige Regierung ernsthaft beschäftigt, deshalb kann sie die Gesellschaft bisher nicht real spüren, ihr keine Szenarien „zum Aufwachsen“ anbieten.
Das Alkoholiker-Unterhemd und die „Olivier“-Identität
Die ukrainische Jugend ist weitestgehend in den globalen Kontext integriert, deshalb ist sie ihren Altersgenossen aus anderen Ländern näher als ihren älteren Mitbürgern. Sofern sie natürlich auf einem gewissen Niveau Englisch kann. Der Rest erinnert an ihre älteren Eltern. Doch wegen der Abwesenheit einer positiven Gesellschaftserzählung, einer Politik „zum Aufwachsen“, riskieren selbst die talentiertesten jungen Leute, alte Szenarien und Praktiken zu reproduzieren. Das ist wie diese ewigen Männer, die in den Hinterhöfen sitzen, in ihren charakteristischen „Alkoholiker-Unterhemden“ – schon vor 50 Jahren, 30, 10. Die Generationen sind verschiedene, die Praktiken sind gleich. Es wäre sehr wichtig, dass die jungen Leute alternative Szenarien für den Eintritt ins Erwachsenenleben hätten und dass man für diese Szenarien nicht emigrieren müsste.
Unser Staat ist im Moment so aufgebaut, als ob sich die Bevölkerung ausschließlich aus abstrakten gesunden jungen Menschen zusammensetzte, die in der Lage sind, sich selbst durchzufüttern und von Seiten des Staats keine zusätzlichen Ausgaben oder Anstrengungen benötigen. Tatsächlich müssen aber für die staatliche Politik Menschen mit Problemen in Gesundheit, Mobilität, Arbeitsfähigkeit usw. der Ausgangspunkt sein. Wenn der Staat für die Versorgung von schwachen Bürgern zuständig ist, ist er für die Versorgung aller zuständig. Jetzt werden hingegen immer mehr Menschen aus dem politisch-gesellschaftlichen Diskurs herausgeworfen. Sie haben nicht viele Varianten, als sich in das metaphysische Unterhemd des Paternalismus zu hüllen und nostalgisch dem hinterherzuhängen, was es niemals gab.
Wir haben sehr schwache Identitäten. Sowohl regionale als auch ethnische, nationale und sogar professionelle Identitäten. Wir durchleben bis heute die Folgen der sowjetischen Zerstückelung von Identität, als Menschen dazu gezwungen wurden sich von ihrem eigenen Wesen loszusagen und ein „sowjetischer Mensch“ zu sein. Leider ist in diesen 30 Jahren Ukraine auch kein stärkeres Konstrukt mehr entstanden. Das ist nicht besonders gut, denn gerade Identität gibt uns das Fundament, auf dem man proaktiv die Zukunft aufbauen kann. Selenskyj hatte also Recht, als er die Frage stellte: „Wer bin ich?“. Nur eine Antwort bot er nicht an – obwohl er eine Bemerkung machte über eine gewisse quasi-sowjetische Identität oder die „Salat Olivier“-Identität. Soll heißen, es hat keine Bedeutung, woran wir glauben, denn wir alle pflegen eine Neigung zu bestimmten Traditionen, was durch den „Olivier-Salat“ und Sprotten auf dem Neujahrstisch zum Ausdruck kommt. Zu einer umfassenden Antwort auf die Frage „wer wir sind“ ist der Präsident noch nicht gekommen. Niemand ist eigentlich bis jetzt darauf gekommen.
Währenddessen hat die ukrainische Gesellschaft die einzigartige Fähigkeit, alle denkbaren Erschütterungen zu überleben und ihre Einzigartigkeit wiederherzustellen. Mit was für Losungen kamen nicht schon Präsidenten an die Macht, jeder von ihnen letztlich gezwungen, sich schrittweise in einen ziemlich starren Kanon der Präsidentschaft einzuarbeiten, der zweifellos schon in der Ukraine geformt wurde. Der Präsident der Ukraine kann nur Präsident der Ukraine sein. Oder er wird gezwungen zu gehen.
Es ist unumgänglich, dass wir sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft entmystifizieren. Wir müssen als Gesellschaft lernen, uns unbequeme Fragen zu stellen und die historische Wahrheit zu erfahren. Es müssen dunkle Flecken aus dem historischen Narrativ aufgedeckt werden, das einen bedeutenden Teil der Antwort auf die Frage „wer wir sind“ enthält. Es bleibt uns nur, den Fakt zu akzeptieren, dass die Vergangenheit kompliziert war und nicht linear. Und verstärkt über die Zukunft zu sprechen, einen Plan zu haben und ein Verständnis für den eigenen Platz in der Welt. Jetzt können wir nicht miteinander reden, weil zu viel Angst und Hass da ist. Aber sprechen müssen wir trotzdem, denn von selbst kommen keine Entscheidungen oder Visionen zustande. Es gibt nur den dornigen Weg durch Enttäuschung und unbequeme Kompromisse. Alles läuft darauf hinaus, inwieweit wir wirklich bereit sind, uns für den Raum einzusetzen, den wir Ukraine nennen.
Ein sehr wichtiger Faktor für gesellschaftlichen Wohlstand ist die Vorstellung idealer Werte oder von einer besseren Version des eigenen Selbst. In der Persönlichkeitspsychologie heißt das „Ich-Ideal“. Meine Hypothese besteht darin, dass das ukrainische gesellschaftliche „Ich-Ideal“ eigentlich andauernd aus der Ukraine ausgelagert wird. In einem gewissen Maß ist das eine Folge unseres post-kolonialen Status. Genau deswegen war noch vor kurzem Putin bei uns beliebter als irgendein nationaler Politiker. Nun sind Lukaschenko und Merkel beliebt. Als ob die Ukrainer nicht an ihre Fähigkeit glauben, etwas zweifellos Hervorragendes zu schaffen oder echte Würdenträger heranzuziehen. Es gibt unterdessen einen großen Riss in den Vorstellungen darüber, wer wir sind und wer wir gern sein würden. Schlimmer noch, es gibt nicht genug psychologische Ressourcen, um diesen Riss zu verwinden. Deshalb ist es einfacher, jedweden Keim dessen zu zertreten, was auch nur die kleinste Andeutung einer Möglichkeit zur Verwirklichung des Ideals enthält, als ein Drama zu überstehen, das das eigene Unvermögen es zu erreichen aufzeigt. Deswegen ist es so schwer die Autorität derer anzuerkennen, die sie verdienen. Schließlich muss man anerkennen, dass die Umstände sich so ergeben haben und es ist nicht gesagt, dass ein anderes Volk sie besser durchstehen würde. Das ist keine Rechtfertigung, sondern eine Chance auf Empathie. Wir sollten lernen, uns als Gesellschaft unangenehme Fragen zu stellen. Und zugleich sind wir es wert, uns nicht mehr für Dreck per definitionem zu halten.
Soziale Netzwerke und neue Realität
Die sozialen Netzwerke schenkten uns ein Gefühl von totaler Ebenbürtigkeit. Die Stimme eines jeden Menschen ist nun hörbar, jeder hat die Möglichkeit sich auszudrücken. Die sozialen Netzwerke formen ihre eigenen Eliten, erschaffen neue Kriterien hinsichtlich der Elitisierung und Überdurchschnittlichkeit. Auf Instagram zum Beispiel bekommt man das Recht darauf, hörbar zu werden, über die Erschaffung bunter Visualisierungen. Zeige dich zuerst, dann sprich. Ehrlich, das gibt den Leadern im Netz einen narzisstischen Zug, während die Instablogger aber über ein riesiges Publikum verfügen. Millionen Follower fangen an, ihr Leben mit ihnen zu vergleichen. Bei Facebook wird Leadership mit scharfen Äußerungen erkämpft. Wenn du keinen Hate generierst, kannst du keinen Anspruch auf einen elitären Status erheben.
Selenskyjs Beliebtheit hat angefangen nachzulassen, denn jetzt ist er im Wesentlichen vom Hater im Netz zum Hate-Objekt geworden. Doch im Unterschied zu den alten politischen Führern, die eine dicke Haut haben und den Anblick von Angesicht zu Angesicht gewöhnt sind, fürchten diese neuen Leader aus der digitalen Welt das Auslachen und die Kritik in der Realität sehr. Denn sie verstehen nicht, wie sie darauf reagieren sollen, haben keine Erfahrung damit umzugehen.
Soziale Netzwerke leben von Emotionen, nicht von Ideen. Das ist die neue Realität der nach außen gekehrten Innenwelt. Im Miteinander von Angesicht zu Angesicht zwingt die Furcht vor Unangemessenheit dazu, sich entsprechend zu verhalten: sorgfältig Worte auszuwählen, die gegenseitige Verbindung nachzuverfolgen. Die sozialen Netzwerke haben diese Barriere beseitigt. Nun tragen wir im Gegenteil sowohl das eigene Leben nach draußen als auch das fremde. Das bedeutet nicht, dass du durch Kommentare in den sozialen Netzwerken nicht verletzt werden kannst. Die virtuelle Verkehrung des Innenlebens nach außen kann hingegen einen ziemlich unangenehmen Eindruck auf die Umgebung machen, was moralische und intellektuelle Qualitäten betrifft. Selbst wenn es meist nicht so ist. Einfach die Tatsache, dass das, was früher nur in Gedanken passierte, nun zutage tritt. Ohne Scham und Angst. Dies ist die Realität und es ist unsere Aufgabe, uns an die Gepflogenheiten der digitalen Sozialisierung anzupassen, neue Regeln und Normen für Kommunikation und Miteinander zu schaffen.
Ganz allgemein könnte unsere Zukunft als Menschheit stärker von Technologien abhängen als von Politik. Nehmen wir die Hypothese der technologischen Singularität, die radikale Veränderungen der Zivilisation und überhaupt der menschlichen Natur durch unkontrollierte technologische Entwicklung prophezeit. Wir wissen nicht, ob diese Transformation der Menschheit in irgendeiner Post-Form stattfindet und wenn ja, wann – ob in 100 Jahren oder in 10. Künstliche Intelligenz hat zum Beispiel keinen Bezug zu unserer Humanität als biologische Wesen, denn ein Intellekt ohne Körper – das ist absolut keine menschliche Sache mehr. Genauso zugespitzt entsteht das Problem einer digitalen Diktatur. Es naht eine neue Realität heran, die unser Verständnis von Normalität vollständig verändert. Drei Milliarden Menschen in nur einem Facebook – das ist ziemlich ernst zu nehmen. Grenzen werden in dieser Welt nicht mehr existieren. Wenn irgendein digitales Desaster eintritt, dann kommt es für alle.
3. März 2020 // Maryna Danyljuk-Jarmolajewa, Journalistin; Bohdan Butkewytsch, Journalist
Quelle: Lewyj Bereg