Die Rückkehr des Staates


Die Ukraine gewöhnt sich daran, mit staatlichen Covid-Zertifikaten zu leben: für Reisen, Fahrten im öffentlichen Nahverkehr, den Besuch von Restaurants und Einkaufszentren.

Das, was noch vor zwei Jahren die Handlung eines Science-Fiction-Romans gewesen sein könnte, wird zur Alltagsrealität.

Übrigens hätten vor zehn Jahren auch andere Kennzeichen unserer Zeit wie Science-Fiction gewirkt: mehrere Mobilisierungswellen, die Schließung des Luftraums zwischen Kiew und Moskau, die Blockierung von Hunderten von Internetseiten und andere staatliche Aktionen.

Und jetzt werden sie als natürliche Folge des militärischen Konflikts mit der Russischen Föderation angesehen.

So oder anders wächst die Rolle der staatlichen Maschine im Leben der Ukrainer mit jedem Jahr.

Von der Sache her beobachten wir eine Rückkehr des Staates in Größenordnungen – nach seiner Selbstentfernung in den krisenhaften 1990er und den relativ komfortablen wilden 2000er Jahren.

Dieser historische Prozess hat unsere Gesellschaft bereits in eine Reihe feindlicher Gruppierungen gespalten.

Die einen begrüßen den fortschreitenden staatlichen Druck mit Enthusiasmus und dürsten nach mehr. Andere schreien von „Faschismus“ und einer Verschwörung der Unterdrücker des Volkes. Dritte nehmen die Vorgänge als unvermeidliches Übel an und versuchen die berechtigten und zulässigen Grenzen der staatlichen Regulierung auszutesten.

Sogar für den überzeugten Liberalen ist es schwer zu bestreiten, dass die außerordentlichen Herausforderungen – solche, wie die russische Invasion oder das Coronavirus – tatsächlich einer aktive staatliche Einmischung bedürfen.

Und der kompromisslose Kampf mit der Stärkung des Staates artet oft in einen Kampf mit der objektiven Realität aus: Es muss die Tatsache der Aggression des Kremls gegen die Ukraine selbst angefochten oder die Tatsache der Pandemie mit überfüllten Krankenhäusern und einer rekordhohen Sterbeziffer bestritten werden.

Dabei steht vor uns nicht nur eine innerukrainische, sondern auch eine weltweit allgemeine Tendenz.

Für Gegner der staatlichen Kontrolle wird es immer schwieriger auf die europäische oder amerikanische Erfahrung zu verweisen: Die Rolle des Staates im Leben der Bürger erhöht sich auch im demokratischen Westen.

Und dabei braucht man nicht von anderen postsowjetischen Staaten reden, wo die Stärkung des Staatsapparats bereits viel früher begann, schneller vor sich geht und von anderen Motiven begleitet wird.

Der ukrainische Staat der Selenski-Epoche wirkt trotzdem noch relativ schwach, amorph und zahnlos.

Doch im Vergleich zum Staat der Juschtschenko-Epoche ist das ein richtiger Leviathan, der mit früher undenkbarer Machtfülle ausgestattet ist.

Das benachbarte Russland war bereits in der Mitte der 2000er Jahre autoritär. Doch wenn man das damalige Russland mit dem heutigen vergleicht, dann erscheint der russische Staat von vor fünfzehn Jahren als äußerst liberal.

Sogar das Lukaschenko’sche Belarus, das schon vor zwanzig Jahren als Vorreiter der postsowjetischen Diktatur auftrat, zeigt, dass es für eine Vervollkommnung keine Grenzen gibt: und die härteste Binnenordnung kann noch härter werden.

Der Staat kehrt überall in das Leben von Millionen von Menschen zurück – jedoch hat diese Rückkehr ihre Spezifik nicht nur in den verschiedenen Ländern, sondern auch in den unterschiedlichen Sphären der menschlichen Tätigkeit.

Der Einfluss, der einst vom Staat verloren wurde, wird äußerst ungleichmäßig wiederhergestellt. Wenn in einzelnen Teilen die staatliche Präsenz bereits vergleichbar mit derjenigen der 1980er ist, so bleibt in anderen Richtungen die staatliche Kontrolle ziemlich schemenhaft.

Die eisernen Fäuste finden sich Seite an Seite mit sklerotischen Fingern, gepanzerte Wände mit löchrigen Zäunen.

Am leichtesten fällt noch die Verschärfung des Grenzregimes und die Einschränkung der Bewegung der Bürger: bewiesen durch den hybriden Krieg und die Pandemie.

Etwas weniger Erfolg hat die Regulierung des Handels und des Dienstleistungsbereichs. Schlussendlich gibt es besonders schwache staatliche Positionen im Informations- und Kulturraum.

Das ist auch nicht verwunderlich: der Weggang des Staates aus unserem Leben fand im Morgengrauen der Internet-Revolution statt, als die innovative Technologie sich erst zu entwickeln begann und jetzt wird der zurückkehrende Staat mit einer für sich absolut neuen digitalen Realität konfrontiert.

Die Welt der sozialen Netzwerke und Messenger ist nicht nur für die ukrainische Führung nicht beherrschbar, die sich vor der Antiimpfpropaganda retten will: auch die Autokratien Putins und Lukaschenkos sind nicht in der Lage den Zugang zu oppositionellem Inhalt zu schließen.

Mit anderen Worten stellt der Staat mehr oder weniger erfolgreich die Kontrolle über die Körper seiner Bürger wieder her, doch mit dem Verstand und dem Geist gestaltet sich die Sache weitaus schwieriger.

Das staatliche Potenzial im Informationsbereich steht offensichtlich zu sehr hinter den staatlichen Möglichkeiten im physischen Raum zurück.

Und das treibt jede Regierung zum gesetzmäßigen Entschluss: versuchen das mit anderem zu kompensieren.

Als krassestes Beispiel können die kürzlichen Proteste in Belarus dienen. An der ideologischen Front des Staates hat der Bazka [Lukaschenko] sich als unzureichend erwiesen und eine vernichtende Niederlage erlitten.

Ungeachtet der totalen Kontrolle über das Bildungssystem und die traditionellen Massenmedien zog die neue Generation von Belarussen alternative Werte vor und rebellierte gegen das alte Regime.

Doch, schändlich die virtuelle Schlacht verlierend, gab der Staatsapparat nicht auf und nahm offline Revanche. Die Massendemonstrationen wurden mit grober Gewalt niedergeschlagen.

Es stellte sich heraus, dass wenn man gegen Nexta [aus Polen betriebener Telegram-Kanal belarussischer Oppositioneller, A.d.Ü.] nichts machen kann, dann kann man den Gründer von Nexta, der von Athen nach Vilnius mit einem irischen Flugzeug flog, ganz konkret festnehmen …

Der Ersatz von informationeller Schwäche durch physischen Zwang beginnt, als universelles Rezept aufgefasst zu werden.

Doch das Problem besteht darin, dass die Taktik, die in einigen Fällen funktionierte, in anderen nicht den gewünschten Effekt beringt. Alles hängt von den verfolgten Zielen ab.

Den Anstieg der Proteststimmung kompensieren? Komplett umsetzbar.

Wenn in der Gesellschaft die Unzufriedenheit mit der Regierung ansteigt, doch der autoritäre Staat in der Lage ist die Straßen von den Unzufriedenen zu säubern und sie nach Hause zu jagen, dann wird das Hauptziel – die Sicherung des regierenden Regimes – erreicht.

Das Scheitern der Impfkampagne während der Pandemie kompensieren? Völlig möglich.

Wenn der Normalbürger nicht an die Impfstoffe glaubt, doch unter dem Druck des Staates gezwungen ist, sich zu impfen, dann entfaltet das gespritzte Präparat trotzdem die erforderliche Wirkung und das Endziel – die Senkung der Belastung des Gesundheitssystems – wird realisiert.

Den unzureichenden Patriotismus unter der Jugend kompensieren? Einen bedeutenden Teil der Bevölkerung assimilieren? Eine kulturell-sprachliche Homogenität erreichen?

Das ist sehr zweifelhaft: da in den aufgezählten Fällen die Gedanken und Gefühle der Bürger weitaus mehr bedeuten, als die physische Hülle.

Die aufrichtige Liebe zur Heimat ersetzt du nicht durch eine erzwungene Imitation, und sogar wenn er für die Verteidigung der Heimat mobilisiert wurde, wird der unpatriotische Jungspund nicht zu einem guten Kämpfer.

Versuche einer erzwungenen Assimilierung fördern Heuchelei und Verstellung, doch werden sie in großem Maße durch den allgemeinen Internetzugang neutralisiert und gestatten es nicht, eine wirklich monolithe Nation zu schaffen.

Und die moderne Kultur ist nicht so sehr ein reglementiertes Repertoire von Kinotheatern oder das Sortiment der Buchgeschäfte, als die Historie der Google-Anfragen und der Ansichten bei YouTube, die unser wahres Gesicht widerspiegeln.

Der zurückkehrende Staat kann viele Dinge meistern. Doch vieles übersteigt – leider oder zum Glück – seine Kräfte.

Obgleich die Staatsmänner, schrittweise auf den Geschmack kommend, kaum in der Lage sein werden, eine klare Grenze zwischen dem Wünschenswerten und dem Möglichen zu sehen.

13. November 2021 // Michail Dubinjanski

Quelle: Ukrainskaja Prawda

Übersetzer:   Andreas Stein  — Wörter: 1159

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