Rassismus vor der EM?
Am 07.05.2012 erschien auf dem unabhängigen ukrainischen Portal zaxid.net ein Artikel der Lviver Telejournalistin Ljuba Sorokina, in dem sie in pointierter Form von ihren Erlebnissen berichtete, die sie mit einem deutschen Journalisten machte, dem sie bei seiner Vorbereitung einer Fernseh-Reportage über den Spielort Deutschlands Lviv vor der Europameisterschaft als Hilfe zugeteilt worden war. Jener Journalist, Markus Reher, hat seinen beruflichen Schwerpunkt in Moskau und berichtet vorwiegend aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Man hätte meinen sollen, dass Herr Reher, der immerhin wenn schon nicht die ukrainische, so doch wenigstens die russische Sprache beherrschte, ein wenig mit den Verhältnissen in der Ukraine und der lokalen Mentalität vertraut sein sollte, jedoch machte sich bei seiner ukrainischen Kollegin zunehmend Befremdung breit, zum Einen aufgrund des Befehlstons, in dem er seine Gastgeber immer wieder ermahnte, für ihn “das Unmögliche möglich” zu machen, aber vor allem dadurch, dass er offenbar nicht nach Lviv gekommen war, um sich für seine Reportage zu informieren, sondern vielmehr um Material zu sammeln, mit dem er seine bereits vorher feststehende Meinung nur noch illustrieren wollte.
Das Ergebnis erschien dann am 23.05.2012 auf der Webseite der Deutschen Welle unter dem Titel “Ukraine: Rassismus vor der EM” und dürfte die schlimmsten Befürchtungen der Beteiligten von ukrainischer Seite wohl noch übertroffen haben. Auf den ersten Blick scheint auch all das Berichtete plausibel, findet sich gar noch im Einklang mit ähnlichen Aussagen, die kürzlich in der britischen Boulevardpresse veröffentlicht wurden. Es wird ein Bild der westukrainischen EM-Austragungsstadt Lviv gezeichnet, das bei mit der Ukraine nicht vertrauten Lesern einige Ängste hervorrufen dürfte, aber leider findet man in diesem Beitrag eine ganze Reihe Merkmale, die eher zu Boulevard- als zu seriösem Journalismus passen: es werden Behauptungen aufgestellt, die nicht bewiesen bzw. überhaupt kaum beweisbar sind, und es ist keine saubere Unterscheidung zwischen berichteten Fakten und der persönlichen Ansicht des Journalisten, also sozusagen seinem Kommentar zum berichteten, erkennbar.
In England hat sich bereits journalistischer Widerstand gegen diese reißerische Darstellung geregt, wie man z.B. in einem online verfügbaren Artikel des Daily Telegraph nachlesen kann. Auch zu dem oben erwähnten Bericht von Markus Reher gibt es aus meiner Sicht einiges zu sagen, ich möchte daher an dieser Stelle einige Aussagen herausgreifen und darauf kurz eingehen. Ich empfehle dem geneigten Leser in jedem Fall, sich die Reportage in voller Länge anzusehen und sich selber ein Bild davon zu machen. Ich persönlich halte die besagte Reportage für manipulativ und voll von Halbwahrheiten, was ich nun gern an einigen Beispielen belegen möchte.
“Die Anhänger von Karpaty haben den Ruf einer rechten Schlägertruppe.” Diese Aussage hören wir nach wenigen Sekunden, während Fans des FK “Karpaty” beim Anfeuern ihrer Mannschaft gezeigt werden. Später im Bericht wird dieses Thema noch einmal aufgegriffen, indem an die Zusammenstöße heimischer und Dortmunder Fans anlässlich des Europa-League-Auswärtsspiels der Borussia in Lviv erinnert wird. Ich glaube, niemand, der regelmäßig zu Fußballspielen der Bundesliga oder anderer europäischer Top-Ligen geht, wird ernsthaft behaupten, dass es unter “Ultras”, dem harten Kern der Fans, die alle Clubs haben, keine “harten Jungs” oder dass es in Stadien keinen Rassismus gäbe. Die Frage, die sich hier stellt, ist also, ob hier speziell im Fall des FK “Karpaty” diese negativen Auswüchse Kern-Merkmale seiner Anhänger sind.
Beginnen wir mit der “rechten Schlägertruppe”. Hierzu fiel mir als erstes auf, dass ich erst kürzlich gelesen hatte, dass die Fans gerade dieses Clubs auf der ukrainischen Website ultras.org.ua für die Saison 2011/2012 zu den besten Fans der Ukraine gewählt worden waren, dies war in englischer Sprache nicht ohne Stolz auf der Website des Vereins zu lesen. Diesen Ruf hatten sie sich durch besonders kreative Banner, die während der Spiele im Fanblock ausgerollt wurden sowie für beeindruckende Pyro-Show erworben. Allein die Existenz dieser Website ist schon bemerkenswert: trotz aller Konkurrenz zwischen den Clubs und ihren Ultras gibt es in der Ukraine ein ausgesprochen starkes Gefühl der Gemeinsamkeit der verschiedenen Gruppen untereinander. Aber ebenso bemerkenswert finde ich, dass eine Gruppe von Fans, die – wenn man dem oben genannten Bericht Glauben schenkt – brutal und rassistisch ist, offenbar bei “feindlichen” Fans eine Menge Anerkennung erfährt.
Wie sieht es mit Fan-Brutalität in und um die Stadien aus? Tatsächlich hat man aus der Ukraine bislang eher wenig in dieser Richtung gehört (hier hat schon seit langem Polen einen recht schlechten Ruf, und von westeuropäischen Ländern wie Deutschland und England ganz zu schweigen) – außer eben im Zusammenhang mit dem Gastspiel der Dortmunder Borussia in Lviv. Schon bei der Live-Übertragung des Spiels im Fernsehen war in recht dramatischem Ton über die Zusammenstöße zwischen den beiden Fangruppen berichtet worden, aber wie dramatisch waren sie tatsächlich im Vergleich zu Vorfällen, die leider immer wieder bei solchen Anlässen in anderen europäischen Ländern stattfinden? Interessant ist in diesem Zusammenhang, zu lesen, was Dortmunder Fans zu dem Thema schreiben. Hierzu wurde ich kürzlich auf einen Bericht im Dortmunder Fanzine “schwarzgelb” aufmerksam gemacht, in dem von Angriffen einheimischer Fans berichtet wird, diese aber andererseits nicht als besonders dramatisch geschildert werden. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass vor allem die örtliche Polizei eher schlecht organisiert war und es nicht fertigbrachte, den bei solchen Anlässen üblichen Sicherheitsabstand zwischen den Fangruppen herzustellen. Es scheint plausibel, dass eine vernünftige Beurteilung der “allgemein üblichen” Fangewalt in der Ukraine ohne verlässliche und neutrale Zahlen kaum möglich ist, derartiges Material bleibt Herr Reher in seinem Beitrag aber schuldig, was seine eingestreute Bewertung als besonders fragwürdig erscheinen lässt (tatsächlich findet sich in der ukrainischen Presse überhaupt kaum etwas zum Thema “Fankrawalle” bei Fußballspielen, dieses Thema scheint tatsächlich bislang kaum eine Rolle zu spielen). Als kleine persönliche Note möchte ich noch anmerken, das ich bei diversen Besuchen von ukrainischen Erstligaspielen noch nie eine Situation erlebt habe, die auch nur annähernd mit dem vergleichbar wäre, was hier manchmal in Hamburg stattfindet, wenn Hansa Rostock beim FC St. Pauli oder Werder Bremen beim HSV gastiert. Würde deshalb irgendjemand ernsthaft auf die Idee kommen zu behaupten, dass Deutschland nicht reif für die Ausstattung einer EM sei?
Ein weiterer, besonders gravierender Vorwurf ist der des Rassismus. Zum Beleg der rechten Einstellung der Fans wird nach der Aussage, dass die Fans des FK “Karpaty” die ausländischen Spieler der eigenen Clubs am liebsten zurückschicken würde, ein Interview-Ausschnitt mit einem Fan gezeigt: “Ein Spieler muss doch da leben, wo er spielt. Er muss doch das Land verstehen, seine Traditionen und Geschichte. Man kann doch keinen Verein vertreten, wenn man nicht weiß, für wen man eigentlich spielt.” Wenig später wird ein Interview-Ausschnitt mit einem der zwei bei “Karpaty” spielenden Brasilianer, Danilo Fernando Avelar, mit folgenden Worten anmoderiert: “Vor den nationalistischen Ultras schirmt der Club seine Spieler offenbar gut ab”, bevor dann der Spieler selber zu Wort kommt: “Ich habe von solchen Fans bisher nicht gehört. Ich hoffe, dass es nicht stimmt. Nach jedem Spiel kommen viele Fans zu uns, sie muntern uns auf und helfen uns, dass wir gut spielen, also, ich hoffe, das stimmt nicht.”
In diesem Abschnitt gibt es für mich mehrere interessante Punkte. Zunächst einmal scheint mir die Aussage des Fans ausgesprochen zahm. Ich habe in und um Stadien schon einiges gesehen, aber so eine Aussage? Ist dies wirklich geeignet als Beweis, dass ausländische Spieler beim FK “Karpaty” nicht willkommen sind? Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Frau Sorokina in ihrem oben bereits erwähnten Artikel die Aussagen Avelars aus besagtem Interview folgendermaßen zusammenfasst: “der brasilianische Legionär der “Karpaten” sagt vor der Kamera, dass die Leute hier gut sind, die Fans klasse und dass die wirklich verrückten die Brasilianer seien”. Dieser letzte Teilsatz fehlt leider in dem ausgestrahlten Interview, und die begleitende Aussage, die Spieler seien “offenbar gut abgeschirmt”, wirkt in diesem Zusammenhang schon ähnlich demagogisch wie Karl Eduard von Schnitzler seinerzeit im DDR-Fernsehen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang auch, dass selbst ehemalige Spieler, die den Verein im Streit verließen, wie z.B. der Goalgetter der letzten Jahre, Serhij Kusnezov, stets ausdrücklich die Fans lobten und versicherten, dass sie eigentlich gern bei diesem Club mit seinen großartigen Fans geblieben wären. Aus den selben Gründen setzte sich der von Meister Schachtar Donezk ausgeliehene Nationalspieler Artem Fedezkyj für einen Verbleib in Lviv ein und entschied sich somit faktisch für Abstiegskampf statt Champions League. Pikant ist in diesem Zusammenhang, dass sowohl Fedezkyj als auch Kusnezov aus russischsprachigen Teilen des Landes stammen, wo generell die Meinung vorherrscht, dass man in der Westukraine nicht willkommen sei.
Im letzten Abschnitt der Reportage kommt Markus Reher schließlich zu folgender Aussage: “Probleme mit rassistischen Fans, kurz vor der Europameisterschaft kommen sie besonders ungelegen. Schließlich ist die Ukraine schon wegen des Umgangs ihrer Staatsführung mit der inhaftierten Oppositionsführerin Julia Tymoshenko negativ in den Schlagzeilen. Ein schwerer Image-Schaden. Viele ausländische Gäste haben ihre Teilnahme an den Spielen aus Protest abgesagt”, und schließlich dem Fazit: “Die Ukraine sei nicht reif für so eine Europameisterschaft, glauben viele hier in Lemberg. Politische WIllkür und Intoleranz haben den Fußball ins Abseits gestellt.”
Hier sind Herrn Reher einige in der Ukraine allgemein bekannten Tatsachen entgangen. Durchaus richtig ist, dass die Regierung international unter Druck steht. Tatsächlich ist sie aber auch innerhalb des Landes aufgrund der Kombination von wirtschaftlicher Depression und zunehmenden Einschränkungen von demokratischen Grundrechten zutiefst unbeliebt. Da die Presse unter starkem Druck steht und das Fernsehen sich mit Kritik sehr zurückhält, gibt es für das Volk immer weniger Plattformen, seine Unzufriedenheit offen zu zeigen. Besonders hervorgetan haben sich in diesem Zusammenhang ausgerechnet die Ultras der ukrainischen Erstligaclubs. Beim letzten Heimspiel von Dynamo Kyiv gegen Karpaty Lviv, deren Fans eine alte Fanfreundschaft verbindet, kam es im August letzten Jahres nach Übergriffen der Polizei gegen Fans zu einer spontanen Protestaktion vor laufender Fernseh-Live-Kamera. Minutenlang skandierten die Fans beider Mannschaften gemeinsam eine Schmähung des Präsidenten “Danke, Bewohner des Donbass (von dort stammt der Präsident) für diesen Päderast-Präsidenten!”.
Es ist kaum der Erwähnung wert, dass das Regime vor derartigen Aktionen eine fast panische Angst hat und folglich schon lange systematisch versucht, die Fanclubs unter Kontrolle zu bekommen. Dies wird eindringlich in einem Film, den ukrainische Ultras über sich selbst, also die Fans der verschiedenen ukrainischen Clubs, gedreht haben, thematisiert. Der Film kann im ukrainischen Original im Internet betrachtet werden und ist zwar sicherlich vollkommen subjektiv in der Betrachtungsweise, aber in jedem Fall sehr eindrucksvoll anzusehen. Die ukrainischen Fans stehen der EM vielfach kritisch gegenüber, weil sie von diesem Ereignis weitgehend ausgesperrt sind – in Kyjiv kann man nichts weniger gebrauchen als Protestaktionen gegen die Regierung, wenn die ganze Welt zuschaut. Der Fanclub des FK “Karpaty” veröffentlichte vergangene Woche eine Stellungnahme zu den Vorwürfen und erklärt, dass viele Fans die EM boykottieren würden, weil diese EM für “die Direktoren und ihre Sekretärinnen” gemacht worden sei und es keine normale Möglichkeit für die wirklichen Fußballfans in der Ukraine gebe, ihr Team zu unterstützen. Gleichzeitig bestehen sie darauf, dass es während der EM im Stadion von Lviv keinen Rassismus geben werde.
Über das, was Markus Reher mit der Ukraine verbindet, kann ich nur spekulieren. In seinem öffentlichen Profil im Internet gibt er an, seinen Sitz in Moskau zu haben. In dem Artikel von Frau Sorokina wird neben dem Hinweis auf den Befehlston ein wenig ironisch hervorgehoben, dass Herr Reher russisch spricht, womit er sich zwar verständigen kann, was aber nicht die Muttersprache der Menschen in dieser rein ukrainischsprachigen Region ist. Weiterhin wird aus der Perspektive der ukrainischen Journalistin deutlich, dass es offenbar zwischen beiden Seiten “fremdelt”. Leider herrscht noch heute in Deutschland vielfach die Fehlannahme, die Ukraine sei Russland so ähnlich, dass man sich mit ihren Besonderheiten nicht weiter beschäftigen müsse. Für Russland und den russischsprachigen Teil der Ukraine mag Herr Reher ein Experte sein, aber bezüglich der kulturell deutlich anderen Westukraine verfällt er in die üblichen Vorurteile, die gerade in Russland bis heute noch immer wieder über die diese Region und ihre Einwohner verbreitet werden.
Ich selber bereise aufgrund von privaten Kontakten seit rund zehn Jahren regelmäßig die Ukraine, und Lviv gehört zu den Orten, die mir ganz besonders ans Herz gewachsen sind. Trotz Armut und politischem Chaos habe ich in der Ukraine fast nur positive Erfahrungen gemacht, Erfahrungen von Wärme, Gastfreundschaft und Großzügigkeit. Und obwohl die EM in der Ukraine voraussichtlich zu einem großen Teil dazu dienen wird, die ohnehin schon reichen noch reicher zu machen, freuen sich doch auch die einfachen Menschen auf Besucher aus anderen Ländern, die sie selber noch nie bereisen konnten und oft wohl auch niemals werden bereisen können. Das Bild, dass die Reportage von Herrn Reher von Lviv und der Ukraine zeichnet, empfinde ich wie auch meine ukrainischen Freunde als zutiefst ungerecht, beleidigend und journalistisch unprofessionell. Wir hoffen, dass viele Menschen das Land besuchen und sich selber ein Bild machen. Angst vor dem “wilden Osten” ist m.E. nicht angebracht.