Das Recht auf das eigene Gedächtnis


Zum 75, Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges in Europa haben der Schriftstellerverband PEN-Ukraine und die Nationale Universität „Kyjiwer Mohyla Akademie“ das internationale Projekt „Peace and War“ (Frieden und Krieg) organisiert, eine TV-Marathon-Konferenz, in der eine zeitgenössische europäische Sichtweise auf den Zweiten Weltkrieg besprochen wurde und gegenwärtige Herausforderungen, vor deren Angesicht die Ukraine steht, unter anderem auch der Krieg im Donbass, reflektiert wurden.

In Rahmen des Projektes veröffentlicht das Portal „LB.ua“ die Transkription der Rede des ukrainischen Dichters und Schriftstellers Serhij Schadan.

Es ist interessant und aktuell zu versuchen über unser Recht auf Gedächtnis zu sprechen und darüber, warum bei weitem nicht alle von uns bereit sind, dieses Recht zu nutzen. Das Problem oder die Frage scheint mir darin zu bestehen, dass wenn man über das Recht auf Gedächtnis spricht, meinen wir vor allem das Recht auf das eigene Gedächtnis. Gleichzeitig versucht man uns eine andere Variante unterzujubeln, eine andere Sichtweise, irgendein anderes Konzept unserer historischen Vergangenheit und unserer politischen Vergangenheit vorzuschlagen, was für uns nicht ganz akzeptabel ist.

Im Kontext der Beendigung des Zweiten Weltkrieges, der Tage, wenn wir aller in diesem Krieg ums Leben Gekommener gedenken, ist die Frage über das Recht auf das eigene Gedächtnis, meiner Meinung nach, mehr als aktuell. Viele unserer Mitbürger verbleiben auch weiterhin im postsowjetischen oder neurussischen Diskurs der Geschichtswahrnehmung. In dem es nicht um Respekt für die Opfer, nicht um Gedenken an diese geht, sondern um bloßen Revanchismus. Sogar schon in diesem Motto „Wir können es wiederholen“ geht es nicht um Respekt oder Gedenken, sondern mehr um die Demonstration eigener Macht, um Bedrohungen und um den Versuch den Dialog zum eigenen Vorteil zu lenken. Es ist klar, dass im Zusammenhang des russisch-ukrainischen Krieges, der bereits sieben Jahre dauert, das Motto „Wir können es wiederholen“, das so klingt, als ob es gegen den Nationalsozialismus gerichtet ist, größtenteils vonseiten Russlands gegen uns gerichtet ist, gegen die heutigen Ukrainer, die es gewagt haben, Widerstand zu leisten, eine eigene Sichtweise zu verteidigen und die Welt und sich selbst daran zu erinnern, dass wir ein Recht auf ein Gedächtnis haben.

Wir haben ein Recht auf die Vergangenheit und wir haben ein Recht auf Geschichte. Aber es muss unser Gedächtnis, unsere Vergangenheit, unsere Geschichte sein. Selbstverständlich passt es nicht in irgendwelche ideologische Konzeptionen russischer Polittechnologen und Politiker. Deswegen ist der Tag, der uns eigentlich vereinen sollte, weiterhin sehr geeignet und sehr bequem für politische und ideologische Manipulationen, was sehr schade ist.

Ich denke, dass dies sehr präzise den allgemeinen Zustand der ukrainischen Gesellschaft charakterisiert: zerrissen, desorientiert und unentschieden bezüglich der eigenen Vergangenheit. Und natürlich es ist sehr schwer für die Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln. Aber ich glaube, dass wir das alles überwinden können und bei uns alles gut wird.

Ich erlaube mir auch ein paar Worte über den Vergleich zu sagen, wie wir in der Kunst beispielsweise über den Zweiten Weltkrieg und über den russisch-ukrainischen Krieg reden. Warum ist unser Narrativ bezüglich der heutigen Ereignisse im Osten des Landes, im Donbass, überzeugender, deutlicher und mehr in die Zukunft gerichtet? Im Gegensatz dazu sind unsere Versuche über die Geschichte zu reden sehr traumatisch und ziemlich problematisch. Worin besteht hier das Problem? Meiner Meinung nach liegt das Problem in der eigenen Sicht auf die Geschehnisse, die sich jetzt ereignen.

Wenn wir über den Krieg mit Russland reden, den Krieg mit dem Besatzer, dem Aggressor, dann reden wir darüber aus unserer eigenen Sicht. Wir hören nicht auf irgendjemandes Geflüster, wir lassen uns nicht durch irgendwelche Konzeptionen, die uns von außen angehängt werden, lenken. Das ist unsere Sicht, unser Land, das wir verteidigen, wir verteidigen unsere eigene Zukunft. In diesem Fall sind solche Sachen überzeugend genug und deutlich genug. Im Gegensatz dazu sind wir, wenn wir über die Geschichte reden, zwischen verschiedenen Konzeptionen unentschlossen. Wir können unsere eigene Perspektive weiterhin nicht finden, die ausschließlich unser Verständnis der Geschichte, unsere Geschichtswahrnehmung und unsere Bemühungen, uns mit unserem eigenen Gedächtnis auseinanderzusetzen, bezeugt. Selbstverständlich ist es ein sehr kompliziertes und traumatisches Verfahren. Jedoch müssen wir dieses Verfahren durchmachen, denke ich.

Solange wir selbst über unsere Geschichte aus unserer eigenen Sicht, aus der Sicht der Ukraine und Ukrainer nicht reden, solange werden das für uns unsere Nachbarn tun. Und dabei werden sie zweifelsohne unsere Interessen nicht berücksichtigen.

Serhij Schadan [international vermarktet als Zhadan, A.d.R.] ist ein ukrainischer Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und zivilgesellschaftlicher Aktivist. Er ist der Preisträger des Wassyl-Stus-Preises. Schadan ist auch der Frontmann der Bands „Schadan i Sobaky w kosmossi“ [Schadan und die Hunde im Kosmos] und „Linija Mannerheima“ [Mannerheim-Linie]. Er ist Autor der Romane „Depeche Mode“, „Woroschilowgrad“, „Mesopotamien“ und „Internat“, sowie auch der Gedichtsammlungen „Zytatnyk“ [Zitatensammlung], „Äthiopien“, „Schyttja Mariji“ [Das Leben von Marija], „Tampliiery“ [Der Templerorden] und andere. Schadan gehört auch zu den Mitgliedern des Schriftstellerverbandes PEN-Ukraine.

Das Transkript wurde von Iryna Harnez vorbereitet.

14. Mai 2020 // Serhij Schadan, Dichter, Schriftsteller

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Alina Onopriienko  — Wörter: 812

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