Es bis zur Rente schaffen


Die Ukraine hat dem Internationalen Währungsfonds (IWF) versprochen, das Renteneintrittsalter für Frauen um fünf Jahre zu erhöhen. Auf diese Art und Weise findet eine Gleichstellung der Geschlechter statt: sowohl Männer als auch Frauen werden mit 60 Jahren in Rente gehen.

Die Reform wird in mehreren Phasen durchgeführt werden: jedes Jahr wird man das Renteneintrittalter um sechs Monate erhöhen. Allerdings sind diese Angaben noch vorläufig, denn gesetzlich ist die Anhebung des Renteneintrittsalters noch nicht beschlossen. Nichtsdestotrotz wird es der Ukraine kaum gelingen, diesen unpopulären Schritt zu vermeiden – andere “Kredit” Forderungen des IWF scheinen noch weniger realisierbar zu sein. Die Bürgerinnen und Bürger, die jetzt im Rentenalter sind, sind natürlich nicht glücklich über diese Neuerung. Was die Ukraine im Zusammenhang mit der Anhebung des Renteneintrittsalters befürchten, hat “Lewyj Bereg” zu erfahren versucht.

Vor deiner Nase weggenommen

“Seit vielen Jahren haben alle Frauen mit 55 damit begonnen, einen erheblichen Zusatz zum eigenen Budget zu bekommen, warum sollte es bei mir anders sein?“, erklärt Natalija Sokolowa, 53, Lehrerin an einer Musikfachschule, ihren Standpunkt. “Manche wollen wirklich in den Ruhestand gehen und können es kaum erwarten, bis sie 55 Jahre alt sind; andere warten darauf, dank der Rente weniger zu arbeiten, wie ich beispielsweise. Und viele sehen in den Rentenzahlungen eine gewisse Gehaltserhöhung. Mit der Anhebung des Renteneintrittsalters sieht es so aus, als ob du in einer langen Warteschlange gestanden hättest und genau vor deiner Nase das letzte Stück Wurst weggenommen wurde. Entweder du hast es als Erster oder du bekommst nicht einmal als Zweiter etwas ab. Sehr ärgerlich!” Natalia arbeitet vor der Rente besonders viel, damit der Durchschnittslohn der letzten Jahre höher wird, denn genau danach wird die Rente berechnet. “Meine Tochter hat es so gesagt: du bemühst dich umsonst, denn das Renteeintrittsalter wird bald angehoben“, erzählt die Lehrerin.

“Mir fällt es schon schwer, körperlich zu arbeiten. Ich warte bereits sehnsüchtig auf die Rente“,- klagte “Lewyj Bereg” Tatjana, 54, Verkäuferin eines der „Silpo“??-Supermärkte der Hauptstadt. ??„Die Menschen sind bei uns alle schwach, kaum jemand kann mit einer guten Gesundheit prahlen und um Invalidenrente zu erhalten, muss man gar sehr invalid sein und dazu noch einige Beziehungen zu medizinischen Kreisen haben. Genau deshalb haben die Frauen auf das Renteneintrittsalter gewartet, um zumindest irgendwelche Groschen zu erhalten und sich entweder mit dem Garten oder mit den Enkeln zu beschäftigen.“

Sogar diejenigen Bürger, die nicht vorhatten, mit der Arbeit im Alter von 55 aufzuhören, sind mit der geplanten Reform nicht einverstanden. Denn es ist viel schöner während der gleichen Arbeitszeit sowohl Lohn als auch Rente zu erhalten, als nur einen Lohn. “Ich hätte eine Rente in Höhe von etwa 800 Hrywnja (etwa 80€) bekommen, solches Geld liegt einfach nicht auf der Straße herum“, sagt Irina Doroschenko, Kiewer Buchhalterin, die mit ihren 53 natürlich gar nicht darüber nachdenkt in Rente zu gehen. Die Situation wird zusätzlich noch durch die Tatsache erschwert, dass Wiktor Janukowitsch vor der Wahl versprochen hatte, eine Anhebung des Renteneintrittsalters um fünf Jahre nicht zuzulassen. Deswegen fühlen sich die zukünftigen Rentner noch mehr betrogen.

Die Rente im Sparstrumpf

Allerdings hat Wassilij Nadraga – der jetzige Minister für Arbeit und Soziales erklärt, dass die die Anhebung des Renteneintrittsalters nur die jungen Leute betreffen wird – nämlich die Menschen unter 35 Jahren. Im Juni dieses Jahres sagte der Minister, dass die die Anhebung des Renteneintrittsalters nur unter der Voraussetzung einer Einführung eines Systems eines Akkumulationsfonds (Kapitaldeckungsverfahren) stattfindet. „Sparen“ für die eigene Rente sollte man dann 30 Jahre, und es wurde geplant, das Renteneintrittsalter bis 65 anzuheben. Daher die Zahl von 35 Jahren. Allerdings wird man erst nach der Verabschiedung entsprechender Gesetzentwürfe sagen können, auf welche Art und Weise diese Pläne mit den Verpflichtungen gegenüber dem IWF zusammenfallen werden. Die ukrainischen Frauen im Vorrentenalter reagieren auf diese Möglichkeit natürlich viel lebhafter: “Nun, wenn es nur junge Menschen betrifft, dann sollten sie selbst entscheiden, was für sie am besten ist“, sagt Tatjana

30-jährige Ukrainer wollen, natürlich, überhaupt nicht über die Rente nachdenken. “Man sollte zumindest bis zur Rente leben“, ist die häufigste und lebensfrohe Antwort auf die Frage von “Lewyj Bereg”.

“Im Hinblick auf das Renteneintrittsalter, ist es für mich jetzt nicht prinzipiell. Die Eltern machen sich Sorgen und ich mache mir Sorgen um sie. Man muss natürlich das Reformsystem reformieren, sonst droht unserer gesamten Wirtschaft das Ende”, erklärte der 29-jährige Sales-Manager Timur Kowalenko den Standpunkt der jungen Generation. “Aber wenn diese Akkumulationsfonds staatlich werden… Dann ist das einfach sinnlos. Wir haben die Geschichte mit der Sberbank (??Sparkasse) gesehen, welcher normaler Mensch würde denn etwas in einem staatlichen Fond einsparen? Auch wenn diese Akkumulationsfonds privat betrieben werden – wir haben auch die Geschichte des Zusammenbruchs unseres Bankensystems gesehen. Wie kann man in diesem Land generell Geld für das Alter sparen, außer Dollar in einer Matratze verstecken? Es ist bei Gott die sicherste Option, weil ich um meine Einlagen in der Bank stets besorgt bin und um den staatlichen Akkumulationsfonds braucht man sich überhaupt keine Sorgen zu machen – unser Staat findet innerhalb von 30 Jahren auf jeden Fall die Möglichkeit, irgendetwas mit meinem Geld zu tun.“??

Es stellt sich also heraus, dass das bestehende Rentensystem (Umlageverfahren), bei dem alle Arbeitnehmer die Rente für alle Arbeitsunfähigen bezahlen, in der instabilen ukrainische Realität am stärksten sozial gerechtfertigt ist. Obgleich es offensichtlich ist, dass es so weiter nicht weiter gehen kann, denn die Zahl der Rentner und der Steuerzahler wird bereits zum Jahre 2015 gleich sein und je weiter wir in die Zukunft schauen, desto größer würde dann das Defizit des Pensionsfonds selbst bei so hohen Steuern, die es heute in der Ukraine gibt, sein.

Ella Libanova, Direktor des Instituts für Demographie:

Wir haben bereits eine Studie über die öffentliche Meinung zur Anhebung des Renteneintrittsalters bestellt. Mit den Ergebnissen, der von den Soziologen bereits durchgeführten Studien, bin ich nicht zufrieden. Wenn man einen Menschen direkt fragt, ob er eine Anhebung des Renteneintrittsalters möchte, wird jeder natürlich verneinen. Man sollte die Menschen über die Alternativen befragen – was sie wollen. Warum sind sie gegen eine Anhebung des Renteneintrittsalters? Es ist deswegen, weil sie weniger arbeiten wollen und das ist alles. Aber niemand erklärt ihnen, was mit unserer Wirtschaft passieren würde, wenn wir keine Anhebung des Renteneintrittsalters zulassen werden.

Jewgenij Golowacha, stellvertretender Direktor des Instituts für Soziologie:

Die Menschen sind gegen die Anhebung des Renteneintrittalters, weil sie später die Renten zu erhalten beginnen. Wenn man den Menschen verbieten würde, nach dem Erreichen des Renteneintrittsalters zu arbeiten, und sie würden dann nur ihre Rente beziehen, dann würde ihnen diese Anhebung des Renteneintrittsalters gefallen. Und wenn sie die Möglichkeit haben, im Alter von 55 Jahren Rente zu beziehen und dabei noch ruhig zu arbeiten… Faktisch werden die Menschen um ihre Rentenbezüge beraubt, mit denen sie fest gerechnet haben.

In der Sowjetunion wurden die Menschen schnell alt und sind früh wegen schlechter Lebensbedingungen gestorben, Unterernährung während der Kriege, von dort kommt auch dieser Altersgrenze – 55 und 60. Das heutige reale produktive Alter ist um 10 – 15 Jahre gestiegen. Und die Rente ist schrittweise zu Beihilfe geworden – man darf nach Erreichen des Renteneintrittsalters arbeiten und bekommt dafür zusätzliches Geld. Die Anhebung des Renteneintrittsalters ist unvermeidlich. Aber unsere Regierung handelt wie immer ungeschickt. Zuerst werden viel versprechende umfassende Reformen der Wirtschaft versprochen, was aber letztlich in steigenden Preisen und Steuern endet. Man sollte aber wirklich umfassende Reformen präsentieren: wir machen es so und so und es wird für sie alles gut.

ZAHLEN von “Lewyj Bereg”

Nach Schätzungen der Regierung beträgt das Defizit der Rentenkasse 34 Mrd. Hrywnja (ca. 3,4 Mrd. €).

In der Ukraine gibt es 13,7 Millionen Rentner gegenüber 15,2 Millionen Steuerzahler.

2015 wird sich ein Verhältnis von Rentnern und Steuerzahlern von 1:1 einstellen, wenn es keine Reform des Rentensystems geben wird.

Der Anteil der Rentenausgaben am BIP in der Ukraine

20019,1%
200412 %
200815,8%
200918,1%

20/08/2010 // Miroslawa Kowalewskaja

Quelle: Lewyj Bereg

Übersetzerin:   Ilona Stoyenko  — Wörter: 1325

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