Die russische Staatsidee und der “Krieg” gegen die Ukraine


“Die großen historischen Probleme brauchen Jahrhunderte für ihre Lösung, gleichviel ob diese Lösung sich auf dem Wege friedlicher Entwicklung oder gewaltsamer Völkerkämpfe vollzieht”, schrieb Dmytro Donzow, der Taufpate des modernen ukrainischen Nationalismus in seinem Werke “Die ukrainische Staatsidee und der Krieg gegen Rußland” aus 1915. Obwohl diese Idee für die Ukraine vorausgesetzt wurde, ist sie in unserer Zeit für beide Staaten, die sich entschieden haben mit Monaten und nicht Jahrhunderten auszukommen, aktueller denn je.

Heute erleben wir eine dramatische Epoche, wann nicht nur militärpolitische, sondern auch ideologische Faktoren und Verhältnisse in der Lage sind, die jetzige Situation in Zweifel stellen. Während man in Russland wieder den Prinzipien des alten russischen Konservatismus neues Leben einhauchen versucht, wird in der Ukraine die ukrainische Frage nicht in alter Form gestellt. Die Regierung des unabhängigen Traumlandes der ukrainischen Nationalisten der Vergangenheit konnte in den 1990er Jahren nicht, ihre “historische Chance” (so Benedict Anderson) ergreifen und eine neue ukrainische Identität schaffen oder, besser gesagt, vollenden.

Im Unterschied zur scheinbaren nationalen Wiedergeburt in den einen Regionen, wurde in den anderen das bisherige sowjetische Bewusstsein tief konserviert. Es betrifft vor allem solche traditionell an Russland gebundene Gebiete wie das Donezbecken, Charkow, Krim, teilweise auch die Südukraine. Die langjährige sowjetische Sozialisation hat dazu geführt, dass die negativen, mit dem bösen “Westen” verbundenen, aber auch die positiven Ereignisse aus dem vorigen Leben in den Köpfen wieder aufwachen. Hier haben wir nun mit dem Phänomen eines “falschen Wiedererkennens” zu tun. Das Problem besteht also darin, ob die Bevölkerung der oben genannten Gebiete wirklich zur „russischen Zivilisation“ (mindestens aus kultureller Sicht) zählt oder ihr “Russentum” und Russland selbst in der im gesellschaftlichen Gedächtnis erhaltenen positiven Zügen des sowjetischen Gesellschaftsaufbaus, wie der sozialen Sicherheit.

Die amtierende russische Regierung benutzt diese alten Imperative, um die sowjetische Mentalität, die auf der Beibehaltung der Lage, Hemmung einer bürgerlichen Entwicklung und einer stärkeren Kontrolle seitens der Staatsmacht beruht, aufrechtzuerhalten. Nicht verwunderlich ist es, dass die Menschen beim Auftauchen dieser außerordentlichen Situation einfach nicht wissen, wie darauf zu reagieren ist. Wie wir aus der Rhetorik aus der Ostukraine bzw. Krim entnehmen können, verbindet man die heutigen Erschütterungen entweder mit “Faschisten” aus der Westukraine oder mit böswilligen Intrigen westlicher Demokratien.

Die bestehende Lage gilt allenfalls nicht für alle Generationen der zutreffenden Regionen. Verschiedene Menschen zeigen unterschiedliche Handlungsmotive und das schafft mannigfaltige Varianten von Identität. Eine Rolle spielt hier das mehrschichtige, ja eklektische Bewusstsein, welches hier auf Schritt und Tritt zu anzutreffen ist. Als Beispiel kann man hier die Versammlung orthodoxer Aktivisten am Denkmal des Revolutionärs Artjom in Donezk nennen. Nicht zu erwähnen braucht man, dass diese Bürger unwahren Gerüchten, Propaganda oder bösen Willens zum Opfer fallen können.

Dabei sei hervorgehoben, dass der russische Aufmarsch in gewissem Maße zur Widerspiegelung eines mentalen “Kriegs” wurde, den Russland gegen die Ukraine begonnen hat. Die Ereignisse des Maidans, die tatsächlich die statische sowjetische Mentalität freigelegt haben, sind von der russischen Staatsmacht als “Faschismus” abgestempelt worden. Dabei ist es nicht nur bloßes Streben, den schwachen bürgerlichen Nationalismus nicht in den Osten und Süden zu lassen. Unter den politischen Eliten Russlands mit Entscheidungsfunktionen herrscht ein konservativer Diskurs vor, der die Staatlichkeit der Ukraine und überhaupt die Existenz der Ukrainer als Volk und Nation im Rahmen der “russischen Staatsidee” verweigert. Die Ukraine wird demnach als ein einst verlorenes Territorium, welches von genau denselben Russen besiedelt ist, betrachtet. Die ukrainische Idee wird „westlichen“ Ränken zugeschrieben (österreichischen, polnischen usw. geschichtlich gesehen). Offensichtlich ist, dass das russische Machtzentrum auch jetzt diesen politischen Kalkulationen folgt, die gegen die ukrainische bürgerliche Gemeinschaft und eine neue staatliche Ordnung gerichtet sind.

Außerdem können wir eine Art tieferer Ethnisierung alles Russischen beobachten, die früher als sowjetische Praxis der Nationsbildung zum Einsatz kam und jetzt im Zusammenhang mit der altrussischen Idee des Imperiums wieder auftritt. Selbst der Begriff “russisch” verliert seinen bürgerlich-politischen Inhalt. Damit kommt die Frage auf, ob in Russland irgendein Begriff von der Existenz einer gesonderten ukrainisch-politischen Tradition und der ethnokulturellen Identität existiert oder die die Annahme vorherrscht, dass alles seit den Zeiten der Rurikiden oder sogar der alten Slawen unveränderlich bleiben muss.

Bemerkenswert ist auch, dass die russische Regierung heute so handelt, als ob es keinerlei unabhängige Ukraine gibt und es an ihrer Stelle, wie einst, nur das „Wilde Feld“ gibt. Nicht zu vergessen ist, dass der ideologische “Krieg” Russlands gegen die Ukraine, vor allem der “Krieg” gegen sich selbst ist. Diese ideologische und politische Auseinandersetzung zwischen den Nachbarn droht, zu einem tragischen Bruch werden, dem die fehlende Bereitschaft zugrunde liegt, den anderen zu verstehen. Vielleicht wird ein andermal jemand nicht wollen, dich selbst zu verstehen.

8. März 2014 // Dr. Ihor I. Barinow

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