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Bekehrer oder doch Partner?

Der bereits oft diskutierte Vortrag von Grzegorz Rossolinski-Liebe zum Thema „Stepan Bandera: Das Leben eines ukrainischen revolutionären Nationalisten und das Gedenken an ihn, 1909 – 2009“, hat für großes Aufsehen in der ukrainischen Gesellschaft gesorgt. Man konnte verschiedene Artikel über die Entwicklung der rechtsradikalen Tendenzen in der Ukraine lesen, über die „Selbstzensur in akademischen Anstalten“ sowie auch über die schwache Argumentation von Grzegorz Rossolinski-Liebe, der zurzeit über das Thema „Stepan Bandera: Das Leben eines ukrainischen Faschisten und das Gedenken an ihn, 1909 – 2009“ promoviert. Der Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft wurde jedoch, durch die fehlende ukrainischsprachige Version der Veranstaltung, die Möglichkeit vorenthalten, sich ihr eigenes Urteil über den Vortrag zu bilden.

Wie der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in der Ukraine Kyrylo Sawin in seinem vor kurzem erschienen Artikel mitteilte, fand die Lesung von Grzegorz Rossolinski-Liebe im Rahmen des Projekts „Nationsbildung in der Ukraine im 20. Jahrhundert“ statt, das von der Landesvertretung der Heinrich-Boll-Stiftung in der Ukraine, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine organisiert wurde. Dabei beschwerte er sich, dass allen Kritikern des Vortrages des deutschen Doktoranden die Tatsache entgangen sei, dass „die Reihe öffentlicher und akademischer Diskussionen“ im Rahmen dieses Projekts bereits seit 2010 begonnen habe, und viele Wissenschaftler ihre Vorträge in der Ukraine gehalten hatten.

Ich habe versucht, mehr Informationen über „die Reihe der öffentlichen und akademischen Diskussionen“ im Internet zu finden. Allerdings fand ich keine einzige Webseite über die Veranstaltungsreihe „Nationsbildung in der Ukraine im 20. Jahrhundert“, wo alle Veranstaltungen aufgezählt würden. Einzelne Veranstaltungen kann man auf der Webseite der deutschen Botschaft (Kiew), auf der Webseite des Programms Geschichtswerkstatt Europa oder auf der Webseite der Heinrich-Böll-Stiftung (Kiew) verstreut finden. Daher ist für mich die Internetpräsenz des Projekts „Nationsbildung in der Ukraine im 20. Jahrhundert“ schwach und die Informationen über das Projekt sind der überwiegenden Mehrheit der ukrainischen Gesellschaft verborgen geblieben.

Zwar liegt eine Audioaufzeichnung des Vortrages von Grzegorz Rossolinski-Liebe in der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Ukraine vor, allerdings fehlt dessen Verdolmetschung ins Ukrainische sowie auch die Verdolmetschung der Fragen und der scharfen Kritik auf Ukrainisch ins Deutsche. Da stellt sich die Frage: Erfolgt dadurch eine öffentliche Diskussion, die der ukrainischen Gesellschaft so fehlt? Eine Diskussion, die nicht bestimmte Meinungen vorsetzt, sondern eigene Reflexionen hervorruft? Dabei müssen diejenigen, die den „kläglichen Stand der akademischen Freiheiten“ in der Ukraine kritisieren, als Vorbilder in diesem Bereich gelten. Ohne gute Internetpräsenz und Verdolmetschung braucht man nicht über eine öffentliche Diskussion zu reden, ganz zu schweigen von einer interkulturellen Diskussion.

In der öffentlichen Erklärung weist Kyrylo Sawin darauf hin, dass in Kürze die Monographie des deutschen Doktoranden erscheinen solle. Ob er sich auch der Tatsache bewusst ist, dass Grzegorz Rossolinski-Liebe zwar zurzeit Doktorand an der Hamburger Universität sei und dass er seine Doktorarbeit fertig geschrieben und eingereicht hat, jedoch einreichen nicht automatisch verteidigen heißt? Für die Disputation in Deutschland bekommt man auch eine Note: summa cum laude; magna cum laude; cum laude; satis bene; rite; non probatum. Diese Feinheiten wurden ukrainischen Lesern, die mit der deutschen Promotionsordnung nicht vertraut sind, in der öffentlichen Erklärung nicht mitgeteilt.

Grzegorz Rossolinski-Liebe schreibt in seinem Artikel „Der Faschismusbegriff“(Der Faschismusbegriff ), dass man die ukrainische Vergangenheit nur dann aufarbeiten und den Zustand der Geschichtswissenschaft in der Ukraine verbessern kann, „wenn man sich mit den problematischen Feldern der Geschichte kritisch auseinandersetzt. Dazu gehört unter anderem, den ukrainischen Faschismus öffentlich debattieren zu können und die Faschismusforschung in der Ukraine als eine wissenschaftliche Disziplin zu etablieren“. Bis heute wurde die Geschichte der sowjetischen Kommunisten nicht aufgearbeitet. Man baut Stalin-Denkmäler und dies findet keine Resonanz in westlichen Medien. Man lädt Veteranen der Roten Armee als Zeitzeugen in die Schulen ein. Diejenigen, die aber 10-20 Jahre als politische Gefangene in den Sonderlagern des Systems, so genannten Gulags, verbracht haben, nur weil sie sich für die Unabhängigkeit der Ukraine einsetzten, schweigen noch bis heute. Fast alle werden als Bandera-Anhänger gebrandmarkt, obwohl viele von ihnen nur ukrainische Bücher lasen. Warum darf man nicht die eigene Kultur verehren, wie das die meisten Nationen tun, darunter auch Russland? Warum wird man dann sofort als nationalistisch im Sinne des Faschismus bezeichnet?

Man braucht sich nicht zu wundern, dass nationale Fragen in der Ukraine heute an Bedeutung gewinnen. In einem Staat, in dem die ukrainische Geschichtsschreibung von der Sowjetunion nicht toleriert wurde und bis heute keine wirkliche Unterstützung vom Staat hat. In einem Staat, wo man russische Bücher billiger kaufen kann als ukrainische Bücher. In einem Staat, wo man im Radio fast nur russische Lieder hört. In einem Staat, in dessen Fernsehen nur dumme Talk-Shows und fast alle Programme in russischer Sprache laufen. In einem Staat, in welchem Sender wie 1+1, Inter , UT1, die in jedem ukrainischen Dorf zu empfangen sind, was bei anderen Sendern nicht der Fall ist, fast keine politische Berichterstattung anbieten. In einem Staat, in welchem alle den Kult des Zweiten Weltkrieges und der Roten Armee respektieren sollen. In einem Staat, in dem es nicht erwünscht ist, über die dunklen Flecken der Sowjetunion zu sprechen. In einem Staat, in dem es fast keine Reportagen oder Dokumentation zur Aufarbeitung der Geschichte gibt, als hätte sie überhaupt nicht stattgefunden. Ist es nicht an der Zeit, sich zu positionieren und sollten sich nicht alle sagen: Die Ukraine ist ein unabhängiger Staat mit einer eigenen Geschichte!?

Ich werde nicht bestreiten, dass es keine radikalen Gruppen in der Ukraine gibt. Man darf aber nicht alles, was nationale Züge hat, zu sehr verallgemeinern und als faschistisch anprangern. Druck erzeugt Gegendruck und diejenigen, die sich mit der Geschichte der Ukraine befassen, wissen, dass die Ukraine noch nicht genügend Zeit hatte, sich zu positionieren. Ja, die Ukraine ist bereits mehr als 20 Jahre unabhängig. Dabei wäre zu betonen, dass dies nur territorial und nicht mental gemeint ist. Die sowjetische Denkweise, die noch viele Bereiche ausbremst, wie es auch in der DDR war, kann man nicht im Handumdrehen durchbrechen. Und der heutige Präsident und sein Team, welche Produkte dieser sowjetischen Denkweise sind, sind nur daran interessiert, die weitere Polarisierung der ukrainischen Gesellschaft zu forcieren. Sie sind nicht daran interessiert die Wahrheit zu gewährleisten, sondern sie zu verzerren. Der Drang nach Gerechtigkeit in der Ukraine ist allerdings nicht auslöschbar und die Menschen, die einmal in ihrem Leben zu sprechen gelernt haben, werden nie mehr schweigen.

Die Ukrainer brauchen heutzutage die Unterstützung, wie schon einmal Deutschland sie von den USA erhalten hat, sowie die DDR von Westdeutschland. Die Ukrainer brauchen intensive und nachhaltige Zusammenarbeit und keine Gnadengeschenke. Die Ukrainer brauchen Freizügigkeit und Erfahrungsaustausch, um Stereotypen und Vorurteile gegenseitig abzubauen. Die Ukrainer brauchen Ihr Interesse und Ihre Fragen und keine starren Kommentare. Die Ukrainer brauchen Partner und keine Bekehrer. Die Bekehrer hatten sie schon in der Sowjetunion.

P.S. Die meisten Stiftungen in der Ukraine setzen sich für demokratische Prozesse ein. Der Vortrag von Grzegorz Rossolinski-Liebe hat weiter zur Polarisierung der ukrainischen Gesellschaft beigetragen oder anders gesagt, hat den Stoff für diejenigen geliefert, die an der Polarisierung interessiert sind. Daher kann ich den Vortrag des deutschen Doktoranden nicht als Beitrag zur demokratischen Aufarbeitung der ukrainischen Geschichte und dadurch nicht als Beitrag zur Verbesserung der gesellschaftlichen Situation in der Ukraine bezeichnen.

Autorin:   Ljudmyla Melnyk — Wörter: 1199

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