Russisches Experimentierfeld
Es gibt diesen deutschen Film „Das Experiment“. Ziemlich alt, er kam noch im Jahr 2000 auf die Bildschirme. Die Situation ist folgende: Eine Gruppe von Menschen hat sich freiwillig bereit erklärt, an einem sozialen Experiment teilzunehmen und kommt für zwei Wochen ins Gefängnis. Ein Teil der Gruppe spielte die Rolle der Wachen, der andere Teil die der Gefangenen. Alles, was verlangt wurde war, zwei Wochen unter den normalen Bedingungen eines deutschen Gefängnisses zu überleben und dafür Geld zu kriegen. Übrigens, das was zu Beginn wie ein unschuldiges Vergnügen erschien, verkehrte sich bald in eine Tragödie. Die Teilnehmer des Experiments, die in ihrer Rolle aufgingen, fingen an verrückt zu werden. Das Ganze endete mit Quälereien, Schlägereien und dem Verderben einiger Menschen.
Die Donezker Republik, das ist auch ein soziales Experiment. Ich bin überzeugt, dass das, was heute im Osten der Ukraine vor sich geht, in Kürze zu einem reichen Thema für wissenschaftliche Forschungsarbeiten und Dissertationen wird. Für junge Wissenschaftler der Ukraine ist es eine Sünde, sich über unzureichendes Material zu beklagen. Die Donezker Volksrepublik ist das „russische Experimentierfeld“ von dem der unvergessliche Jegor Letow (Sänger der Gruppe Grashdanskaja Oborona aus Omsk, 1964-2008) sang. Ein Truppenübungsplatz für PR-Leute, Politologen, Soziologen, Krieger. Ein Laboratorium des Kreml.
Das Experiment, das im Donbass von den Russen durchgeführt wird, ist nicht so schockierend, wie bei den medizinischen Experimenten des traurig berühmten Doktor Mengele, aber in Wahrheit nicht weniger unmenschlich. Vor den Augen der gesamten Welt leben Menschen, die auf einem abgesonderten Territorium leben, in einer neuen, ihnen zugewiesenen Rolle auf und verlieren den Verstand. Diese bestätigen in der Realität, die von den Kreml-PR-Leuten geschaffenen Szenarien, die lange vor dem Beginn des Bürgerkrieges (Antiterroroperation?) in der Ukraine geschrieben wurden.
Das Experiment Donezker Volksrepublik ist das durchdachte und konsequente Schüren des Kriegs in der Ukraine durch Moskauer Werbeleute. Es begann, versteht sich, nicht im Jahr 2014. Der Versuch, die Ukrainer aufeinanderzuhetzen wurde in den gesamten letzten zehn Jahren unternommen, als Russland begann, zielgerichtet Geld zur Ausarbeitung und Einführung von Kriegsszenarien im Nachbarland auszugeben. Dieses Jahrzehnt kann man als Periode eines unbegrenzten Informationskriegs gegen die Ukraine zählen, worauf unser Land fast nicht reagiert hat.
Dieses Experiment endete nicht einmal in der Zeit der Regierung Janukowitschs, von 2010 bis 2014 heizte man die Situation weiter an, mit den gleichen Anstrengungen, die dem ukrainischen Volk Gedanken über den unausweichlich scheinenden Bürgerkrieg aufbanden.
Mit den Jahren hat der Kreml Millionen Dollar für die tiefe Spaltung der ukrainischen Gesellschaft ausgegeben. Jetzt, da das Experiment schon mit Erfolg gekrönt wurde, können wir offensichtlich den gesamten Algorithmus verfolgen. Wir können beurteilen, wie es gelingen konnte, den Hass der Bürger der östlichen Ukraine anzustacheln, beginnend mit dem Jahr 2004, als der Moskauer PRler Igor Schuwalow die Ukraine in drei Sorten einteilte, das bekannte Bild ausdenkend und endend 2014, als die staatlichen Massenmedien der Russischen Föderation mit aller Macht in die Ukraine einfielen. Was geschah in dieser Zeitspanne? Die russischsprachige Bevölkerung wurde buchstäblich vergiftet mit propagandistischem Hass und Gewalt.
Für russisches Geld in russischer Ausgabe wurden zig pseudowissenschaftliche Arbeiten und Bücher zum Thema bevorstehender Bürgerkrieg zwischen Ost- und Westukraine veröffentlicht. Im Übrigen gestalteten sich die Ereignisse in ihnen immer so, dass schreckliche Kriegsverbrechen immer gerade von der westukrainischen Seite begangen wurden. Die Bewohner des Donbass dagegen stellten sich als zähe und ehrliche Streiter für die Freiheit dar.
Typisch ist in dieser Hinsicht die Geschichte des Lugansker Schriftstellers Gleb Bobrow, der sich viele Jahre offen als ukrainophob positionierte. 2007 schrieb Bobrow seine bekannteste Arbeit, das künstlerische Werk „Epoche der Todgeborenen“ über den Krieg des Donbass gegen die restliche Ukraine und NATO-Streitkräfte.
Im Roman Bobrows werden die Ukrainer selbst so grausam blutrünstig dargestellt, dass man nach der Lektüre die Mistgabel zur Hand nehmen und mindestens 2-3 Bewohner Galiziens erschlagen möchte. In den russischen Massenmedien wird Bobrow jetzt als „Prophet“ bezeichnet, der den jetzigen Krieg voraussagte.
Tatsächlich wäre es wesentlich richtiger gewesen, ihn Anstifter zu nennen. Auf derselben Grundlage wie bei Bobrow könnte man jeden normalen Lärmschläger Prophet nennen. Im Text einer der Rezensionen seines Romans schrieb ein russischer Kritiker: „Bisher ist das nur Fiktion“. Das Schlüsselwort in diesem Satz ist „bisher“.
Ein anderer Liebhaber solcher Schriften ist Georgij Sawizki, der 2009 das Buch „Schlachtfeld Ukraine“ schrieb. Wie auch das Buch Bobrows fiel auch sein Buch in die Regierungszeit des für den Kreml unbequemen Wiktor Juschtschenko. Die Fabel ist praktisch eins zu eins von Bobrow abgeschrieben. Anscheinend dachten die Auftraggeber, ein Buch über ukrainische Nazi-Kommandos sei nicht genug. Kurzer Auszug aus der Inhaltsangabe:
„Im Jahr 2010 provozieren „orangene“ Nazis Massenunruhen und entfachen damit in der Ukraine einen Bürgerkrieg. Mithilfe eines „Friedenskontingents“ der NATO, unter dem Schutz der amerikanischen Luftwaffe und Verteidigungstechniker beginnen westukrainische Kommandos mit dem Dreizack auf den Schulterstücken die russischsprachige Bevölkerung zu vernichten, ganze Städte vom Antlitz der Welt wischend.“
So können wir dank des einfachen russischen Kerls Georgij feststellen, dass das Szenario des derzeitigen zielgerichteten Chaos in Russland schon vor fünf Jahren geschrieben wurde, vor 2010, aber damals war es nicht verwendbar und wurde erst etwas später in Gang gesetzt.
Und es gab auch noch eine Reihe von Filmen, Publikationen im Internet, Zeitschriften und Zeitungen. Die Angabe der Donezker Führung, in die Stadt kommenden Kämpfern des Rechten Sektors, mit deren Hilfe die hysterische Stimmung eifrig angeheizt wurde. Und im Ergebnis dieser Informationsaufbereitung steht der sinnlose und schonungslose Wahnsinn, der die Bewohner von Lugansk und Donezk erfasst hat. Gestern noch gesetzestreue Bürger, die auf den Bürgerkonflikt programmiert wurden, rauben Geschäfte aus und bedrohen staatliche Einrichtungen. Nachbarn, die gestern noch im Treppenhaus schwatzten, sind nun bereit, einander wegen unvorsichtig gesagter Worte umzubringen. Vom Satan erfasste Menschen stürzen sich in Horden auf alle, bei denen sie eine ukrainische Flagge sehen. Männer, die den Verstand verloren haben, sind bereit, eine Frau zusammenzuschlagen, nur wegen eines ukrainischen Passes in ihrer Hand.
Es scheint, dies sei absurd, so etwas gab es nie, vor einem halben Jahr wurden diese Menschen noch nicht von Krämpfen geschüttelt, schrien nicht in den Straßen, wünschten niemandem den Tod. Es brauchte nur ein paar Monate dieses Experiments und sie verwandelten sich in Tiere, verloren ihr menschliches Antlitz, wie die Helden im deutschen Film über die Wachen und die Gefangenen.
Donezk leerte sich. In Donezk sind keine Autos, keine Menschen, auf den Straßen sind Barrikaden. In Donezk haben keine Geschäfte geöffnet, aus den Autohäusern verschwanden die Autos, die Produktion kam praktisch zum Erliegen, das Geschäft liegt brach, in den Vitrinen sieht man Rollläden. Donezk lebt in Angst, erbebt von Explosionen und Schüssen. Die Städter sitzen in den Häusern oder versuchen, den gefährlichen Ort mit Versuchskaninchen zu verlassen, über denen der PR-Mensch Borodaj zaubert.
Für den namenlosen echten Gegner, echte Bluthund-Banden, die in der Vorstellung Moskauer Polit-Technologen und Schreiber ihren virtuellen Drang nach Osten unter rot-schwarzen Vorzeichen ausleben, fiel der Hass der verärgerten Bevölkerung des Donbass auf ihre Nachbarn, auf ebenfalls russischsprachige Ukrainer, die mit ihnen in einer Region leben. In Abwesenheit rot-schwarzer Fahnen begannen sie, gelb-blaue herunterzureißen. Nicht auf die Faschisten aus Galizien wartend begannen sie, einfache, friedliche Leute umzubringen. Zum ersten Opfer prorussischer Extremisten in Donezk wurde Dmitrij Tschernjawskij, ein Donezker Student, Teilnehmer einer ukrainischen Demonstration. Das zweite war ein Abgeordneter des Gorlowkaer Stadtrats, Wladimir Rybak. Beide waren verwurzelte russischsprachige Einwohner des Donbass. Das Feuer der Gewalt, entfacht vom Kreml, konnte nicht ohne Holz brennen. Zu viel Kraft und Geld war in das Experiment in der Ukraine investiert worden. Irgendwer musste am Ende die Rolle des Faschisten übernehmen und zur Freude der aufgebrachten Menge vernichtet werden.
Donezk lebt in der Vorahnung der Katastrophe. In der Vorahnung des Hungers und neuer Leichen. In der Vorahnung jugoslawischer Kämpfer, Arbeitslosigkeit, unendlicher Krise. In die Region hinter der Grenze ziehen neue LKW mit Söldnern aus dem Kaukasus und Freiwilligen-Schlachtrekonstukteuren. Das Schwungrad ist angelaufen, in der Donezker Dreschmaschine kommen noch sehr viele Menschen um, denn, sie schnell anzuhalten gelingt jetzt nicht mehr.
Das Leben ist kein Kino. Der Film „Das Experiment“ endet mit einem lehrreichen Finale. Das Experiment der unbarmherzigen russischen Vivisektoren wird so lange dauern, wie sie die Lust nicht verlieren, in der Ukraine zu experimentieren. Oder solange wir selbst uns nicht weigern, am Experiment teilzunehmen.
3. Juni 2014 // Denis Kasanskij
Quelle: Lewyj Bereg