Süßer Boykott: Ist der Kauf belarussischer Produkte ein Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten oder eine Unterstützung des Regimes?


Am 10. August musste ich von Schytomyr nach Hause zurückkehren. Daher wollte ich heimische belarussische Süßigkeiten kaufen. Jedoch begannen am Tag zuvor in Minsk und in anderen Städten des Nachbarlandes Massenproteste wegen der Fälschung der Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen. Und dann dachte ich mir: In einer solchen Zeit belarussische Waren zu kaufen – drückt man damit Solidarität mit den Demonstranten aus oder unterstützt man das Regime?

Bonbons sind Bonbons. Nichts Ungewöhnliches. Einige sind köstlich, einige – gelinde gesagt – nicht besonders. Doch der Babrujsker Zefir [im Raum der ehemaligen Sowjetunion beliebte Süßspeise, „Fruchtschaumküsse“ A. d. Ü.] gefiel mir. Als ich also etwas freie Zeit am Abend nach den Aktivitäten der Residenz hatte, machte ich mir Tee, nahm einen Zefir und las die Nachrichten über den Verlauf der belarussischen Kampagne. Und als ich die Ereignisse im Nachbarland in der Nacht vor der Wahl beobachtete, stellte ich mir die Frage: Ist der Kauf belarussischer Produkte jetzt ein Zeichen der Solidarität mit den Demonstranten oder eine Unterstützung des Regimes?

Die Antwort ist nicht so simpel, wie sie erscheint. In einer symbolischen Dimension kann man es auf beide Arten darlegen, abhängig davon, wie Sie es interpretieren. Eine wichtige Nuance der belarussischen Wirtschaft ist jene, dass ein beträchtlicher Teil der Unternehmen im Land dem Staat gehören. Doch sogar den Kauf von Produkten staatlicher Unternehmen kann man als einen Akt der Solidarität mit den Arbeitern des Werks oder der Fabrik darstellen, wenn sie ihre Unterstützung der Demonstranten und/oder des Streiks erklärt haben. Doch die finanzielle Komponente in diesem Fall bezeugt etwas Anderes. Und wenn man noch zu Beginn der Kundgebungen sagen konnte, dass dies es ermöglichen würde, die Demonstranten zu unterstützen, wie nach der Logik: Wenn sie Arbeit haben, haben sie ein Einkommen, was die Möglichkeit bedeutet, von etwas zu leben. Dann nach der Ankündigung des Streiks nicht mehr. Wenn die Arbeiter selbst streiken, bedeutet das, sie definieren ein ökonomisches Motiv als Möglichkeit, um auf das Regime Druck auszuüben. Daher sind Einnahmen im Budget eher eine Unterstützung des Regimes.

Und die Unterstützung des Regimes erfolgt unmittelbar. Ein erheblicher Teil des erhaltenen Geldes wird doch an die Silowiki [Sicherheitskräfte] als Grundlage für die Macht Lukaschenkos gehen. Für neue Schlagstöcke, Granaten, automatische Waffen, Wasserwerfer usw., weil in Krisenmomenten Diktatoren nicht nach einer Methode suchen, wie man die Zuneigung des Volks für sich selbst gewinnt, da sie es als Schwäche betrachten. Ein paar Belohnungen können sie springen lassen für die Unternehmen, die keinen Streik erklärt haben, wo es gelang, den Widerstand der Streikenden zu brechen, oder für denjenigen, der die meisten Arbeiter zum örtlichen Anti-Majdan schickte. Doch grundlegende Geldmittel werden für die Verteidigung des Regimes und zur Aufrechterhaltung der Loyalität der Sicherheitskräfte verwendet – für höhere Gehälter, hochwertigere Munition, ein aufgeblähtes Personal von Spezialeinheiten, welche sich gegenüber den Demonstranten am grausamsten verhalten, für Prämien und Boni für denjenigen, der am grauenvollsten gefoltert und die Augen vor der unmenschlichen Behandlung von Häftlingen verschlossen hat.

Doch wenn die belarussische Wirtschaft verrottet, werden die Belarussen noch mehr in der Klemme stecken – das bemerkt der wachsame Leser. Dieses Argument hätte wiederum vor den Streiks funktionieren können. Wenn die Arbeiter der für die belarussische Wirtschaft wichtigsten Unternehmen so handeln, sind sich alle der Gefahr bewusst. Das bedeutet, für sie ist es wichtiger, den langjährigen Diktator loszuwerden, der das Land in den Abgrund führt und das Volk wird nicht einfach in Angst hält, sondern tötet, als ein Gehalt zu erhalten.

Aber was ist mit privaten Unternehmen und denjenigen, die keine Steuern zahlen? Private Unternehmer erklärten ebenso den Boykott und zahlen Steuern ins Budget. Doch jene, die das nicht tun, brechen das Gesetz. Daher lohnt es sich hier, eine eigene Entscheidung zu treffen, ob es für Sie akzeptabel ist, auf diese Weise zu unterstützen. Dasselbe gilt für den Kauf von belarussischen Büchern und anderen kulturellen Produkten, insbesondere in jenen Geschäften, welche die Demonstranten definitiv unterstützen.

Schließlich, wenn es sehr schwierig ist, die belarussische Freiheitsbewegung zu unterstützen, kann man das besser tun, indem man Geld in den Fonds der Opfer der Polizeiwillkür überweist. Das ist definitiv effektiver und nimmt das beißende Gefühl, falls Sie sich Sorgen darüber machen, dass ihr Geld nicht dafür verwendet werden kann.

Doch zuallererst lohnt es sich, daran zu erinnern, dass Ihre Ablehnung belarussischer Waren in erster Linie eine Geste ist. Dass Ihr Beitrag zum Kampf gegen das Regime ein symbolischer, aber ein wichtiger ist. Daher kann man für kurze Zeit dasjenige verweigern, was nicht lebenswichtig ist.

Am 10. August ging ich somit keine belarussischen Süßigkeiten kaufen. Stattdessen schaffte ich es, kurz zu einer Kundgebung in der Nähe der belarussischen Botschaft in Kyjiw zu laufen und am Abend mit einem Bla-Bla-Car [Mitfahrgelegenheit] nach Hause zu kommen.

Aber einen belarussischen Zefir werde ich sicherlich kaufen, wenn sich im Land eine demokratische Macht aufbaut. Dann – vielleicht – wird es möglich sein, das unmittelbar in einer Stadt oder in einem Dorf des Nachbarlandes zu tun. Endlich frei von der langjährigen Diktatur. Dann werden diese Süßigkeiten den langersehnten Beigeschmack der Freiheit haben.

15. September 2020 // Nasarij Sanos

Quelle: Zaxid.net

Übersetzerin:   Agnes Poitschek  — Wörter: 832

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