Sechs russische Mythen über den Hitler-Stalin-Pakt



Während der ersten 21 Monate des Zweiten Weltkrieges waren die Sowjetunion und das Dritte Reich de facto verbündet. 50 Jahre lang erkannte die Sowjetunion weder diese Tatsache, noch die Existenz der geheimen Zusatzprotokolle zu diesem Pakt an.

Am 23. August 1939 fand ein Ereignis statt, das zum Auslöser der blutigsten Tragödie in der Geschichte der Menschheit wurde – des Zweiten Weltkrieges.

An diesem Tag wurde in Moskau der Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion unterschrieben, bekannt als Molotow-Ribbentrop-Pakt.

So fand die Verschwörung zwischen den zwei größten totalitären Regimen statt, die den Weg zur Auslösung des blutigsten Konflikts in der Weltgeschichte eröffnete.


Obwohl dieses Dokument von den Außenministern der Sowjetunion und Deutschlands unterschrieben wurde, war es in der Tat eine Vereinbarung zwischen den Staatsoberhäuptern und wird deswegen in vielen Ländern als Hitler-Stalin-Pakt bezeichnet.

Laut diesem Vertrag verpflichteten sich die Parteien zum gegenseitigen Nichtangriff und zur Neutralität im Falle, wenn eine der Parteien zum Objekt der Feindseligkeiten Dritter werden sollte.

Man könnte diesen Pakt als ein gewöhnliches Dokument betrachten. Allerdings war diesem Vertrag ein geheimes Zusatzprotokoll beigefügt, welches die Abgrenzung der territorialen Interessen der Parteien festlegte – und zwar die Aufteilung der Länder Osteuropas in deutsche und sowjetische Interessensphären.


Das geheime Protokoll war eine verbrecherische Verschwörung der Führer von zwei totalitären Regimen – der Diktatoren des nationalsozialistischen Deutschlands und der kommunistischen Sowjetunion. Es forderte die Auflösung oder den Entzug der Souveränität einer Reihe von Staaten (Polen, Litauen, Lettland, Estland) sowie die Erfüllung der territorialen Interessen der unterschreibenden Staaten auf Kosten von Drittländern.

Eine Woche nach der Vertragsunterzeichnung – am 1. September 1939 – griff Deutschland Polen an und am 17. September betrat die Rote Armee das polnische Territorium vom Osten.

Die Teilung Polens zwischen der Sowjetunion und Deutschland wurde am 28. September 1939 durch das Unterzeichnen des Deutsch-Sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrages vollendet, der ein logischer Abschluss der geheimen Vereinbarung zwischen Moskau und Berlin vom 23. August 1939 war.


An die Sowjetunion wurden die Gebiete der Westukraine und Westweißrusslands angeschlossen. Danach folgte der Anschluss der baltischen Staaten, Bessarabiens und der nördlichen Bukowina (1940).

Ende 1939 griff die Sowjetunion Finnland an und löste somit den Sowjetisch-Finnischen Krieg von 1939-1940 aus, weswegen sie zum Aggressor erklärt wurde und am 14. Dezember 1939 aus dem Völkerbund ausgeschlossen wurde.

So begann der Zweite Weltkrieg, der blutigste globale Konflikt, im Zuge dessen nach verschiedenen Schätzungen zwischen 50 und 85 Millionen Menschen in sechs Jahren starben.

Nach Berechnungen des Instituts der Geschichte der Ukraine der Nationalakademie der Wissenschaften der Ukraine betrugen die direkten menschlichen Verluste der Ukraine zwischen acht und zehn Millionen Menschen.

Während der ersten 21 Tage des Zweiten Weltkrieges waren die Sowjetunion und das Dritte Reich de facto verbündet und am 22. Juni 1941 starteten sie eine militärische Konfrontation, die in die Geschichte als deutsch-sowjetischer Krieg 1941-1945 eingegangen ist.

Dieser Konflikt, auch bekannt als Großer Vaterländischer Krieg, ist nicht identisch mit dem Begriff „Zweiter Weltkrieg“. Der Krieg zwischen der Sowjetunion und Nazi-Deutschland war Teil eines geografisch und chronologisch breiteren globalen Konflikts, was früher die Geschichtsschreibung häufig vergaß – und nun tut es die russische Propaganda.

Der Inhalt und die Folgen der Vereinbarungen, die das Geheimprotokoll zum sowjetisch-deutschen Pakt enthielt, waren von Anfang an für die Sowjetunion kompromittierend und deshalb wurde die Existenz dieses Anhangs bis 1989 von Moskau offiziell geleugnet.

In der Sowjetzeit und später entstanden rund um den Nichtangriffspakt viele Mythen, die die Handlungen der Sowjetunion rechtfertigen und als gezwungen, angemessen oder sogar positiv darstellen sollten. Zum Beispiel, da in Folge der Vereinbarung das Territorium der sowjetischen Ukraine erweitert wurde, fordern manche auf, den Vertrag von 1939 als einen fortschrittlichen Meilenstein in der Geschichte der Ukraine zu betrachten.


Das ukrainische Institut des nationalen Gedenkens sammelte die sechs meist verbreiteten Mythen, die den Molotow-Ribbentrop-Pakt betreffen, und bereitete ihre Widerlegung vor.

Im September 2008 nahm das Europäische Parlament eine Erschließung an, den 23. August – den Tag der Unterzeichnung des Paktes zwischen Hitler und Stalin – zum Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus zu erheben.

Mythos Nr. 1: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt diente dem Frieden, weil er der Sowjetunion die notwendige Pause vor dem Anfang des Krieges ermöglichte

Widerlegung: Im Gegenteil, die Vereinbarung zwischen Hitler und Stalin ebnete den Weg zum Zweiten Weltkrieg


Das Nazi-Deutschland und die stalinistische Sowjetunion waren vor 1939 die Staaten die gleichermaßen mit der in Folge des Ersten Weltkrieges gegründeten Weltordnung unzufrieden waren. Die in Europa bestehenden Grenzen passten den beiden Diktaturen nicht; Hitler und Stalin strebten nach der Erweiterung der ihnen unterstellten Gebiete.

Polen war das Objekt der sowjetischen und deutschen territorialen Interessen und gleichzeitig ein Stolperstein auf dem Weg zur großen Expansion. Deswegen einigten sich zwei Diktatoren mit Polen gemeinsam fertig zu werden.

Wenn Stalin die Verschwörung mit Hitler nicht eingegangen wäre, wären die Chancen und Entschlossenheit Deutschlands zum Angriff wesentlich geringer, und daher auch die Wahrscheinlichkeit des Beginns des Zweiten Weltkriegs.

Nach der Teilung Polens im Herbst 1939 als die UdSSR formell ein neutrales Land blieb, baute sie eine umfangreiche wirtschaftliche und militärisch-technische Zusammenarbeit mit Deutschland auf und half ihm damit den Krieg gegen eine Reihe europäischer Länder zu führen.

Die Teilung Polens und die Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion führten zur Entstehung einer langen sowjetisch-deutschen Landgrenze. Genau diesen Faktor benutzte Hitler am 22. Juni 1941 als er die Sowjetunion angriff.

Mythos Nr. 2: Für die Ukraine fing der Zweite Weltkrieg am 22. Juni 1941 an

Widerlegung: Für viele Ukrainer fing der Zweite Weltkrieg gleich am ersten Tag – am 1. September 1939 an.


An diesem Tag griff Deutschland Polen an und die Bomber der Luftwaffe attackierten Lwiw. Im September 1939 wurden auch andere Städte Galiziens bombardiert, unter anderem Drohobytsch, die schließlich am 18. September von den Nazis okkupiert wurde und am 24. September an die Rote Armee ausgeliefert wurde.

Tausende Soldaten und Offiziere ukrainischer Abstammung begegneten dem Feind als Teil der polnischen Armee. Zwischen 106.000 und 112.000 (laut anderen Berechnungen – 120.000) Angehörige der polnischen Armee, welche insgesamt eine Million Soldaten umfasste, waren Ukrainer.

Allein im September 1939 starben in den Kampfhandlungen 8.000 Ukrainer, die Staatsbürger Polens waren.

Gleichzeitig verband die OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten) den deutschen Angriff mit der Aussicht auf die Befreiung von der polnischen Herrschaft. Deswegen versuchten die ukrainischen Nationalisten einen Partisanenkrieg im Hinterland zu organisieren und bewegten sich zusammen mit der Wehrmacht als Teil der freiwilligen Einheit WWN („militärische Abteilungen der Nationalisten“ – in den deutschen Dokumenten „Bergbauernhilfe“ – Anmerkung der Übersetzerin). Beim Angriff überschritt die deutsche Armee die Grenze von Galizien und begann Lwiw zu stürmen.

Am 17. September 1939 endete die friedliche Zeit auch für Tausende ukrainische sowjetische Soldaten, die die polnische Ostgrenze überschritten. Obwohl die militärischen Auseinandersetzungen zwischen der Roten Armee und den polnischen Truppen nur vereinzelt und unerheblich waren, starben auch dabei Menschen.

Die Tragödie des ukrainischen Volkes war seine Teilung zwischen allen kämpfenden Seiten.

Mythos Nr. 3: Der Polenfeldzug der Roten Armee war eine Geste der Hilfe für die brüderlichen Völker und stimmte mit den deutschen Plänen der Zerstückelung Polens nicht überein

Widerlegung: Die Einführung der sowjetischen Truppen in Polen am 17. September 1939 war eine Folge der Vereinbarungen mit Deutschland und eine Aggression gegen den polnischen Staat.


Die Rhetorik über die Notwendigkeit der Befreiung der Brüder (Ukrainer und Weißrussen) und die Einheit der Ukraine war ein Schirm für Expansionspläne der sowjetischen Führung.

Weder im Nichtangriffspakt zwischen Deutschland und der Sowjetunion noch im Geheimprotokoll über die Teilung der Interessensphären wurden die Ukrainer oder Weißrussen erwähnt.

Tatsächlich stimmte die Linie der territorialen Abgrenzung nicht mit den Grenzen der ethnischen ukrainischen und weißrussischen Territorien überein, sondern verlief viel weiter im Westen – an der Weichsel, über Warschau. Darauf bestand Stalin persönlich. Er strebte nicht die Einigkeit der Ukraine und Weißrusslands an, sondern kümmerte sich um die militärischen und strategischen Interessen der Sowjetunion.


Nachdem die Wehrmacht die Kampfhandlungen gegen Polen begann, bestand das Außenministerium Deutschlands auf den Kriegseintritt der Sowjetunion unter Berufung auf die Notwendigkeit die Gebiete zu okkupieren, die laut dem Geheimprotokoll zum Molotow-Ribbentrop-Pakt als sowjetischer Einflussbereich betrachtet wurden.

Am 17. September führte Stalin die Rote Armee in Polen ein, wodurch er gegen den Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und Polen von 1932 verstieß.

An diesem Tag rief Molotow den polnischen Botschafter Wacław Grzybowski zu sich und erklärte zynisch den Angriff mit der Tatsache, dass „der polnische Staat und die Regierung praktisch aufgehört haben zu existieren“. Zu dieser Zeit setzten die polnischen Streitkräfte immer noch den erbitterten Widerstand gegen die Wehrmacht fort.

Im Krieg gegen Polen verhielten sich die Sowjetunion und Deutschland wie Verbündete: sie koordinierten die Luftaktivitäten, zerschlugen gemeinsam die polnischen Einheiten, gaben gegenseitig – entsprechend der festgelegten Demarkationslinie – die besetzten Gebiete ab, führten gemeinsame Militärparaden anlässlich des Sieges durch.

Mythos Nr. 4: Dank des Molotow-Ribbentrop-Pakts wurden die Ost- und Westukraine zum ersten Mal wiedervereint

Widerlegung: Diese Wiedervereinigung war nicht die erste in der Zeitgeschichte der Ukraine und sie dauerte nicht lange.


Der erste Rechtsakt, der die Vereinigung der Ost- und Westukraine verkündigte, war der Akt der Wiedervereinigung der UNR und SUNR (Ukrainische Volksrepublik und Westukrainische Volksrepublik) vom 22. Januar 1918.

Im Gegensatz zu 1939 wurden die zwei Teile des ukrainischen Volkes von unabhängigen und gleichberechtigten Regierungen vertreten. In der Zeit des Krieges und der Revolution führte der Akt vom 22. Januar jedoch nicht zur tatsächlichen langfristigen Vereinigung der ukrainischen Gebiete.

Ähnlich war es mit der „Wiedervereinigung“ von 1939. Sie dauerte kürzer als zwei Jahre – bis zum Moment, in dem Deutschland die westlichen Regionen der Sowjetunion besetzte. Nach dem Rückzug der Deutschen aus der Ukraine wurde die Einheit der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik (USSR) durch ganz andere internationale Abkommen geregelt.

Mythos Nr. 5: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt dient als rechtliche Grundlage für die Zusammengehörigkeit der West- und Ostukraine in einem Staat

Widerlegung: Die rechtliche Grundlage der jetzigen ukrainischen Staatsgrenzen ist das internationale Recht, das die Kontinuität der Grenzen der unabhängigen Ukraine mit den Grenzen der ehemaligen Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik sichert.

Wiederum wurde die Westgrenze der USSR auf der Grundlage der Nachkriegsabkommen zwischen der Sowjetunion und der Volksrepublik Polen festgelegt.

Formell wurde die Grenze im Vertrag vom 16. August 1945 festgelegt, der am 6. Februar 1945 in Kraft trat.

Die Grundlage für den Verlauf der polnisch-sowjetischen Grenze waren die Vereinbarung der führenden Staaten der Anti-Hitler-Koalition im Jahr 1945 bei den Konferenzen von Jalta und Potsdam.

Später wurde die Grenzlinie zweimal revidiert und bekam ihre endgültige Form im Jahr 1951.

Darüber hinaus darf man nicht vergessen, dass nach dem Ende des Krieges 1945 die Gebiete der Karpatenukraine an die USSR angeschlossen wurden, die bis dahin zur Tschechoslowakei gehörten.

Was die westliche Grenze der USSR zwischen 1939-1941 betrifft, war diese nicht von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Die Westukraine war zwischen 1939 und 1945 ein umstrittenes Gebiet.

Mythos Nr. 6: Die Kündigung des Molotow-Ribbentrop-Paktes durch Russland wird zur Rückkehr der Westukraine zu Polen führen

Widerlegung: Der Molotow-Ribbentrop-Pakt und der Deutsch-Sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag vom 28. September 1939 sind längst ungültig.

Eigentlich verloren diese Vereinbarungen ihre Gültigkeit noch am 22. Juni 1941 als Deutschland gegen den Nichtangriffspakt verstieß.

Darüber hinaus erkannte Stalin im Vertrag zwischen der Sowjetunion und der polnischen Exil-Regierung (der, die „praktisch aufgehört hat zu existieren“) am 30. Juli 1941 zusätzlich die Ungültigkeit der sowjetisch-deutschen Verträge von 1939 in dem Teil über die territorialen Änderungen in Polen an.

Die heutige Vertragsbasis für die Beziehungen zwischen Polen und der Ukraine basiert auf der gegenseitigen Achtung der territorialen Integrität und dem Verzicht auf jegliche territoriale Ansprüche.

Das Material wurde vom Ukrainischen Institut für Nationales Gedenken vorbereitet, anhand der Methodischen Materialien zum Europäischen Gedenktag für die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus

22. August 2014 // Maxym Majorow, Rostyslaw Pyljawez

Quelle: Istorytschna Prawda

Übersetzerin:   Halyna Schweizer  — Wörter: 1946

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